Ausweitung der Erfahrungszone

Julian Barnes denkt in seinen Kritiken und Essays im Band „Am Fenster“ über die Literatur als Spiegel des Lebens nach

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein Leben mit Büchern“ ist der letzte Text überschrieben. Keine Besonderheit bei einem Autor, der wie Julian Barnes auf ein respektables Werk als Romancier und Essayist zurückblicken kann. Als junger Mann suchte der bibliomanische „Bücherjäger“ mit seinem Morris Traveler jeweils die Provinz nach antiquarischen Schnäppchen ab. Später hat sich der Furor etwas gelegt, trotzdem gilt für ihn noch immer: „Es wäre sehr sonderbar, nur so viele Bücher um sich zu haben, wie man in seiner verbleibenden Lebenszeit noch lesen kann.“

Der Band Am Fenster, 2012 in England erschienen, zeugt von einem solchen Überschuss nicht bloß in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Die hierin versammelten Beiträge aus dem Guardian, dem New Yorker, der New York Review of Books oder der London Review of Books bezeugen eine Belesenheit über den Rand des literarischen Mainstreams hinaus. Julian Barnes lässt darin Autorinnen und Autoren auftreten, die seiner Fürsprache bedürfen. Mit Überzeugungskraft stellt er uns Penelope Fitzgerald, Edith Wharton und Ford Madox Ford als Romanciers vor, die bewegende Sittengemälde schufen. Und er legt sich rhetorisch ins Zeug für die so eigenwilligen wie inspirierenden Poeten Arthur Hugh Clough, Sébastien-Roch Nicolas de Chamfort oder Félix Fénéon, dass es augenblicklich Lust macht, in einem ihrer Bücher zu schmökern. Beispielsweise in den 1111 wahren Geschichten von Fénéon – einer Sammlung von prosaischen Dreizeilern, in denen sich die Kunst des Haikus mit dem banalen Fait-Divers (als welche sie geschrieben wurden) verbinden.

Auffallend ist Barnes‘ ausgesprochene Affinität fürs Französische. Er heftet sich an die Fersen von Ford Madox Ford in Frankreich, ebenso wie von Rudyard Kipling, der in Frankreich stets „glücklich“ gewesen sei. Von Kipling, dem Autofreak, erzählt er die Anekdote, dass er sich vier Jahre nach Erhalt des Nobelpreises (1907) in Frankreich „als Berichterstatter über Straßen und Unterkünfte für die Automobile Association und den Royal Automobile Club“ betätigt habe – ein eher kurioses literarisches Betätigungsfeld. In seinem spät entdeckten Tagebuch finden sich noch die entsprechenden Eintragungen: „Hôtel Metropole, Montpellier. Schlecht, teuer und raffgierig.“

Auch moderne Autoren wie Houellebecq, Updike oder Lorrie Moore finden Erwähnung. Doch spezielle Aufmerksamkeit gebührt den historischen Figuren George Orwell und Gustave Flaubert. Orwell ist für den „Flaubertianer“ Barnes so etwas wie ein Widerpart, dem Respekt gebührt, doch kräftig widersprochen werden muss. „Er ist eine Einmann-Rüpelriege, die unverblümt die Wahrheit sagt, und das ist, wie sich die Engländer gerne einreden, das Englischste überhaupt“ – wenn sich denn eine solche Wahrheit überhaupt finden lässt. Hinter Orwells permanentem Propaganda-Verdacht steckt ein „Gesetzgeber“, dessen Gesetze „oft auf Missbilligung“ beruhen. Das gilt insbesondere für seine Maxime: „Gute Literatur ist wie eine Fensterscheibe“.

Barnes widerspricht ihr dezidiert, gerade weil er selbst ihr nicht gerecht werden kann und will. Er demonstriert es in der Short Story „Hommage an Hemingway“, die diese Essays ergänzt. In drei kunstvoll vernetzten Versionen lässt er darin einen Autor auftreten, der ein Seminar leitet und am Beispiel eines literarischen Vexierspiels um die umstrittene Figur Hemingways zeigen möchte, wie Mythos und Werk, Fakt und Fiktion, Wahrheit und Vorurteil, Kunst und Leben durcheinander geraten können und sich vor jenes „uralte wunderbare Etwas“ schieben, „dass wir eine Geschichte“ nennen. Oder arbeitet das Spiel dieser Gegensätze nicht erst dieses Etwas heraus?

Wie auch immer, in seinen Essays macht es sich Julian Barnes zunutze. Sein Interesse konzentriert sich auf literarische „Sittengemälde“, in denen sich Elemente der Autoren-Biografien manifestieren. Ihn fasziniert, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse bis hin zum Krieg in Sex, Liebe, Leidenschaft aussagekräftig abbilden. Krieg und sexuelle Leidenschaft sind, so Barnes, „zwei Teile ein und desselben Zangenangriffs auf die geistige Gesundheit des Einzelnen“. Ford Madox Ford bezeugt es auf eindrückliche Weise in seiner Tetralogie Parade’s End.

Klug und gewieft setzt Barnes literarische Werke, biografische Anekdoten und historische Kontexte miteinander in Verbindung und legt so ein Bezugsnetz offen, das die Sicht auf diese Werke entschieden bereichert und derart zur Lektüre anregt. Maskeraden und Ungereimtheiten gehören selbstredend mit dazu, wie Chamfort schrieb: „Mein gesamtes Leben steht in offenem Widerspruch zu meinen Prinzipien“ – entscheidend ist, dass wir uns selbst mit einschließen in die Klage über die Menschheit. Unterschwellig tut dies Barnes in einem Text, der sich mit Joan Didion und Joyce Carol Oates befasst. Beide haben ihre Partner nach einem langen gemeinsamen Leben verloren und darüber ein Buch geschrieben. Ohne dass er näher darauf eingeht, teilt Barnes ihre Erfahrung. Nach 30 Ehejahren verlor er 2008 seine Frau Pat. So weiß der Witwer nur zu gut, dass „gegen Herzeleid“, wie Samuel Johnson schrieb, „die Natur kein Heilmittel zu bieten“ hat. Literatur hat ebenfalls keine Antworten, „aber sie formuliert die Fragen ganz ausgezeichnet“.

Wie komplex gute Literatur sein kann (zu Orwells Verdruss), demonstriert auch der akkurate Essay über das Übersetzen von Flauberts Madame Bovary. Welche Bedeutung trägt ein unscheinbares „et“ (und) in einem unscheinbaren Satz? Im Vergleich mit mehreren geläufigen Übersetzungen lässt Barnes teilhaben am Prozess der Übertragung von einer Zeit, Kultur, Sprache in eine je andere. Im fraglichen Fall geht es um den Satz: „Tout et elle-même lui étaient insupportables“, der bisher keine wirklich überzeugende Übersetzung erfahren habe, so Barnes. Am besten gefällt ihm: „She loathed everything, including herself“, doch selbst diese Variante von Francis Steegmuller birgt einen Makel: Sie lässt jenes „et“ fallen, „das eine Trennung der eigenen Person von der Welt anzeigt, was dann in der Tat kulminiert, die Emmas Person am Ende tatsächlich von der Welt trennt“. Ein kleines Wort mit weitreichender Wirkung.

Dies erlaubt einen scheuen Blick auf die vorliegende deutsche Übersetzung, die Barnes‘ Ideal in diesem Punkt nahe kommt. Gertraude Krüger übersetzt die Stelle mit: „Alles, und auch sie selbst, war ihr unerträglich.“ Auch in anderen Beispielen findet sie gute Lösungen für die gestellten Probleme. Im Kern muss es einer Übersetzung darum gehen, so Barnes, dass ein übersetzter Text für den Leser „ebenso, oder annähernd so, leicht oder schwer verständlich sein (muss) wie für einen Leser des Originals“. Dabei ist ihm sehr wohl bewusst, dass es keine perfekte Übersetzung geben kann.

In ihrer Gesamtheit bestätigen diese Essays, was Barnes im abschließenden Text über sein Leben mit Büchern schreibt: „Wer ein großartiges Buch liest, flüchtet nicht vor dem Leben, sondern taucht tiefer ins Leben ein“ – und bekommt dadurch erst noch Laune auf mehr.

Titelbild

Julian Barnes: Am Fenster. Siebzehn Essays über Literatur und eine Short Story.
Übersetzt aus dem Englischen von Gertraude Krueger, Thomas Bodmer, Alexander Brock und Peter Kleinhempel.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
352 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783462048643

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch