Erstlinge

Zum Verhältnis von Debüt und Autorschaft

Von Julia AmslingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Amslinger

Wer literaturwissenschaftliche Definitionen mag, dem wird der medial omnipräsente Buchmarkt-Begriff ‚Debüt‘ Kopfschmerzen bereiten. ‚Debüt‘ ist eine Lehnübersetzung aus dem Französischen und meint lexikalisch zunächst einfach „Anfang“ (débuter ‚zum ersten Mal öffentlich auftreten; anspielen, den ersten Schlag tun, anfangen‘, aus de- weg-, ab-‘ und but Ziel[-scheibe], Tor, Zweck‘).

Auf literarische Produktionen übertragen, kennzeichnet das Debüt seit dem späten 18. Jahrhundert (komplementär zum ‚Spätwerk‘ als Abschluss) den Beginn eines ,eigentlichen Werks‘ und damit zugleich das Ende einer ersten Schaffensphase, nämlich eines verstreuten Frühwerks, projiziert also eine Epochendatierung auf die Ebene des Subjekts. Sie geht mit der Vorstellung einer klar zu segmentierenden und gewichtigen biographischen Phaseneinteilung einher. Damit wird dem Konzept der Autorschaft – einem erst ab 1750 nachweisbaren, dort noch ironisch gebrauchten Abstraktionsnomen – schon vor seiner sozialgeschichtlichen Realisierung als Typus des ‚freien Schriftstellers‘ eine Geschichte als Verfasser von Anfang bis zum Ende an die Seite gestellt. Dass es diese Geschichte gibt, ist nicht selbstverständlich, denn der Verfasser, Dichter oder eben Autor des 18. Jahrhunderts ist ein Nebenstundenschreiber; im Verlaufe des Jahrhunderts wird es – dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft zufolge – „aber denkbar und z. T. realisierbar, als ,freier‘ Autor zu existieren“ und dann auch mit den eigenen Werken seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Eines der berühmtesten Bücher der Welt, The Anatomy of Melancholy, veröffentlichte Robert Burton 1621 als Vierundvierzigjähriger und arbeitete es, ähnlich wie Montaigne seine Essais, bis zu seinem Tod mit jeder neuen Auflage erheblich um, so dass sein Lebenswerk neben kleineren Dramen und Gelegenheitslyrik aus verschiedenen, sich übertreffenden Fassungen des Debüts besteht, das heute nicht in der Ausgabe von 1621, sondern in der Fassung letzter Hand von 1651 paradoxerweise als Burtons Debüt vermarktet wird. Die Begrifflichkeit scheint für das 17. Jahrhundert unpassend – ganz anders zwei Jahrhunderte später: So feierte Wilhelm Raabe ab 1854 jedes Jahr am 15. November den ‚Federansetzungstag‘ und damit nicht nur den Beginn der Arbeit an der Chronik der Sperlingsgasse, sondern seinen Beschluss, als unabhängiger Schriftsteller nur von der Schriftstellerei zu leben. Diese Geburt als Schriftsteller wird Raabe zeit seines Lebens als eigentliches Geburtstagsfest begehen. Das Debüt meint also auch den klar markierten, selbstbewussten Auftritt in der Rolle ‚Autor‘, der zwar nur selten wie bei Raabe auf ein genaues Datum des Schreibbeginns festgelegt ist, aber wie der Geburtstag etwas damit zu tun hat, dass etwas ans Licht der Welt gebracht, also veröffentlicht wird. Und es ist sicher kein Zufall, dass es ausgerechnet die Gattung Roman geschafft hat, das literarische Debüt zu vereinnahmen. Wenn im Literaturbetrieb vom Debüt gesprochen wird, ist selten das Debüt-Epos oder das Gedicht-Debüt gemeint, sondern der Debüt-Roman. Wie keine andere Gattung ist der Roman die Ausdrucksform des subjektiven Erlebens in der europäischen Moderne, die maßgeblich an der Genese unserer Vorstellungen von Geschichte und Subjektivität beteiligt war. Manchmal verbinden sich dabei Autor-Biographie und Literaturgeschichtsschreibung: Christian Krachts Roman-Debüt Faserland (1995) markiert nach Meinung einiger Kritiker gleich den Beginn einer ganz neuen Kunstform, der sogenannten Popliteratur. Dass das Debüt auf dem literarischen Buchmarkt als reine Publikationsform Aufmerksamkeit erregt, sich also vom Lebenslauf des Verfassers getrennt hat, zeigt die Vermarktung von Uwe Johnsons Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953 als literarisches Debüt im Jahr 1985, also ein Jahr nach dem Tod des Autors.

Das Deutsche kennt für die literarische Veröffentlichung auch das diminutive Synonym „Erstling“, das ebenfalls das erste Werk, gleichsam den Nullmeridian der Autortätigkeit, den Ursprung aller folgenden Arbeiten bezeichnet (Grimms Wörterbuch verzeichnet vom Erstling über die Erstlingin, auch bspw. das Erstlingslaub oder die Erstlingsblume und auch das Erstlingsgefühl als Worte des Beginns, die wir im Verlauf der Sprachgeschichte verloren haben.) Aber Anfänge und Ursprünge existieren nicht einfach so – sie müssen künstlich herausgestellt, d. h. erzählt und gerahmt werden. Vielleicht ist es hilfreich, kurz drei verschiedene, zunächst abseitig erscheinende historische Einfassungen des Begriffs zu betrachten, denen gemeinsam ist, dass sie eben nicht genuin auf das erste Buch als Debüt abzielen.

I.

Im Almanach auf die deutschen Musen auf das Jahr 1771 hört man eine Kritiker-Stimme, die sich gegen ein zeitgenössisches Höflichkeitsgebot des Urteilens auflehnt. Die Erstlinge meiner Muse des Theaterdichters Johann Christian Bock, nicht unbescheiden mit dem Motto Phoebe, fave, novus ingreditur tua templa sacerdos (Phoebus, sei gnädig, ein neuer Priester betritt deinen Tempel) versehen, finden keine sanfte und wohlwollende Aufnahme bei ihrem Leser: „Gegen Erstlinge soll der Kunstrichter zwar mitleidig seyn, aber ich fühle mich nicht mitleidig genug, zu verheelen, dass diese Erstlinge schlecht sind.“ Das Buch besteht aus Fabeln und Erzählungen, Nachdichtungen also von antiker Überlieferung, „allein sehr unglücklich“. Auch das gewählte Motto, so schreibt es der ungnädige Kunstrichter, gebrauchte bereits ein anderer Dichter zuvor, der ebenfalls mit „Fabeln und Erzaelungen debuetiert“ hätte. Bemerkenswert an dieser Passage aus dem Almanach erscheint zweierlei: Der Erstling tritt hier im paradoxen Plural als „Erstlinge“ auf. Diese Erstlinge sind Nachdichtungen aus antiken Beständen und Gelegenheitsarbeiten. Die paratextuelle Verwendung des Tibull-Mottos ordnet Bocks Produktion eher in eine Reihe ein, als dass es ihr ein Alleinstellungsmerkmal verleiht. Dieses Debüt ist in mehrfacher Weise durch Nachträglichkeit gekennzeichnet. Das literarische Prinzip, das einem solchen Begriffs-Gebrauch zu Grunde liegt, heißt hier immer noch imitatio bzw. aemulatio statt Autorschaft in der Genie-Epoche.

II.

1824 gab der „Inspector der israelischen Hauptschule“, Moses Israel Landau, der in Prag eine eigene Druckerei und einen Verlag betrieb, eine Publikation heraus, die den Titel Erstlinge, ein Almanach für Freunde der hebräischen und biblischen Literatur überhaupt trug und unter anderen literarischen Produktionen auch „Probescenen aus dem romantischen Trauerspiele: Der Siegelring Salomonis“ enthielt. Bereits ein Jahr später lag schon der sechste Band des Almanachs vor, und in dieser Ausgabe fand sich auch ein Goethe-Gedicht in neu-hebräischer Übersetzung. Auch in Landaus Publikation erscheint das Wort ‚Erstling‘ im Plural. Hier jedoch bezeichnet es eine multiple Anstrengung, die ihrerseits einen gewichtigen gemeinsamen Ursprung inszeniert, nämlich das wiederbelebte Hebräisch durch verschiedene Probestücke und Klassiker-Übertragungen in den Rang einer Literatursprache zu heben.

III.

Im Jahre 1894 publizierte der Büchner-Editor Karl Emil Franzos die Ergebnisse einer jahrelanger Sammlung von Autorenstatements in einer Anthologie mit dem Titel Die Geschichte des Erstlingswerkes. In diesen Selbstbiographischen Aufsätzen (so der Untertitel) gaben unter anderen Paul Heyse, Theodor Fontane, Felix Dahn, Conrad-Ferdinand Meyer, aber auch eine Schriftstellerin, Marie von Ebner-Eschenbach, Auskunft über das „erste größere Werk, mit dem“ der Autor oder die Autorin „in die Öffentlichkeit getreten“ sei. Empört berichtet Franzos am Anfang seiner Einleitung von einer Zeitungsnotiz über eine neue englische Publikation (My first book), die erkürzlich zur Kenntnis genommen habe. Franzos kommentiert lapidar: „Eine Nachahmung liegt vor, aber nicht meinerseits.“

Die Geschichte des Erstlingswerkes steht exemplarisch für die Veränderungen des Literaturbetriebs am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Was heute auf dem Spiel steht, wenn vom Erstling oder Debüt auf dem literarischen Markt gesprochen wird, teilt Franzos als ärgerliche Nebensächlichkeit mit. Es ist eben das erste Buch und eben nicht das erste Kindergedicht, die erste Veröffentlichung in einer Zeitung, die erste Lesung oder die erste Publikation in einer Anthologie. Renatus Deckert, der 2007 Karl Emil Franzos’ Vorhaben erneut aufgriff und SchriftstellerInnen wie Ilse Aichinger, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger oder Elfriede Jelinek nach ihren literarischen Debüts befragte, nennt seine Anthologie folgerichtig Das erste Buch.

Das Debüt ist um 1800 recht offenkundig noch dem aemulatio-Paradigma verhaftet und nicht in Identifikation mit dem Medium Buch stabilisiert; am Ende des Jahrhunderts stiftet allein das erste Buch die auktoriale Ordnung im Zeichen der genialischen Autorschaft. Ab dem Beginn des 20. Jahrhundertssetzt sich die sprachwissenschaftliche Auffassung durch, dass das Sprachmaterial unabhängig von seiner Verkörperung existiere und depotenziert damit Vorstellungen eines dichterischen Genies. Dieses neue Konzept von Autorschaft „dezentriert den Autorbegriff und die von ihm abgeleitete Vorstellung des ,vollendeten Werks‘, das die Welt kommunikativ ordnen kann, zugunsten eines ,offenen‘, universalen Textbegriffes“, so das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Stabilisiert wird diese de-personalisierte Betrachtung paradoxerweise jedoch wieder durch die gesuchte Aufwertung des literarischen Debüts als inszenierter, einzigartiger und so noch nicht gehörter Stimme auf dem Büchermarkt.

Falls diese vagen Vermutungen zu den Begriffen ‚Debüt‘ und ‚Erstling‘ etwas Symptomatisches treffen, dann vielleicht die Konturierung der prekären modernen Figur des Autors und seiner Gebundenheit an das Aufmerksamkeits-Medium Buch im 21. Jahrhundert. Hinter dieser Ursprungsfiktion einer Schöpfung aus dem Nichts leuchten andere, ungleich stärkere Figuren auf. Als alter deus, der das Format ebenso wie die weitere Schaffensphase seines Erstlings verbürgt: der/die VerlegerIn. Im Buch-Debüt hat auch die Literaturkritik einen ihrer Lieblingsgegenstände gefunden, partizipiert sie doch als Geburtshelferin an dem schwierigen Prozess des ‚Zur-Welt-Bringens‘ oder besser des ‚An-einen-geeigneten-Leser- Bringens.‘ Ganz nebenbei entlässt das erste Buch in der Folge die KritikerInnen auch aus dem Zwang, ihre Wertungskategorien offenzulegen, insofern das Debüt als Maßstab für das weitere Schaffen eines/r Autors/Autorin gilt. Auch Jurys von Literaturpreisen prämieren häufig dezidiert Erstlingswerke von SchriftstellerInnen. Thomas Kapielski stellte 1999 in seinem Bachmannpreis-Text das Gewicht eines „telefonisch protegierend“ wirkenden Verlagshauses für die weitere, gleich dem Leben immer fortschreitende Karriere heraus. Wem dies nicht gelingt, der müsse, so die bittere Pointe Kapielskis, als ewiger Debütant, als jugendlich Auftretender permanent um erste Aufmerksamkeit für ein Debüt, das nun eigentlich eine Vielzahl von Werken bezeichnet, werben:

„Hätte das Fatum damals telefonisch auch an mir protegierend gewirkt, dann bräuchte ich mich heute, mit fast fünfzig, nicht als debütierende Hochstirn auf verderbende Weise unter die klagenfurter Jugend mischen und von Jury-Fuzzis durchleuchten lassen, die meine Nachkommen sein könnten!“

Die Rede vom Debüt ist eng mit der Schauseite des Literaturbetriebs verwoben: Eine große Bühne, auf der dramatische Auf- aber auch Abtritte inszeniert werden, um ein Produkt des Buchmarktes in Union mit dem Gesicht, der Stimme und der Geschichte des/der Urhebers/Urheberin zu verkaufen. Gegenüber literaturwissenschaftlichen, gar ästhetischen Erkenntnisinteressen verhält sich der Begriff ‚Debüt‘ sperrig. Kulturindustrielle Marktmechanismen und ihre Rhetorik verleihen dem Debüt hingegen großes Gewicht: Wetten auf die Zukunft werden, wie auf der Börse, abgeschlossen, wenn AutorInnen durch das Buch-Debüt so viel Aufmerksamkeit generieren konnten, dass sie zum Gegenstand geschäftlicher Spekulationen werden. Was ist das Debüt? Ein schillernder Begriff mit Geschichte. Und ein Reklameerfolg.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen