Eigentümliche Verschränkung von Immanenz und Transzendenz

Ein Sammelband sowie ein „Commentary Track“ widmen sich Patrick Roths „Christus-Trilogie“ und „Sunrise“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem 2012 erschienen Roman „Sunrise. Das Buch Joseph“ schaffte es der 1953 geborene Schriftsteller Patrick Roth, der bis vor wenigen Jahren vorwiegend in Los Angeles als Film- und Drehbuchautor lebte, auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis. Mit dem gleichermaßen herausfordernden wie komplex erzählten Roman über Joseph von Nazareth, den Ziehvater Jesu, knüpfte Roth an die Bearbeitung biblischer Stoffe an, die neben seiner filmischen Erzählweise seit Beginn der 1990er-Jahre zu einem Markenzeichen seines Schaffens geworden sind. Dafür stehen Texte wie „Riverside“, eine „Christusnovelle“, wie der Untertitel der 1991 erschienenen Erzählung lautet, „Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten“ (1993) sowie „Corpus Christi“ (1996). Diese drei Texte wurden 2003 unter dem Titel „Resurrection. Die Christus-Trilogie“ zusammen publiziert.

Zusammen mit dem Augsburger Religionspädagogen Georg Langenhorst, der unter anderem in seiner materialreichen Studie „Ich gönne mir das Wort Gott“ die verschiedensten Facetten der literarischen Gottesrede vorgestellt und dabei auch nachdrücklich auf das Werk von Patrick Roth hingewiesen hat, geht die Heidelberger Privatdozentin Michaela Kopp-Marx, die wohl beste Kennerin des Rothʼschen Œuvres, im Sammelband „Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Von der ‚Christus-Trilogie‘ bis ‚Sunrise. Das Buch Joseph‘“ der eigentümlichen Verschränkung von Immanenz und Transzendenz in dessen Werk nach.

Die darin versammelten, durchweg anregenden 18 Beiträge, von denen hier nur einige summarisch erwähnt werden können, entstammen in ihrer Mehrzahl einer interdisziplinären Tagung mit Literaturwissenschaftlern, Theologen und Psychologen im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Als Fazit halten die beiden Herausgeber im Vorwort fest: „Patrick Roths ‚biblische‘ Prosa ist ein Plädoyer für den hohen Wert religiöser Erfahrungen im postreligiösen Zeitalter.“

Jochen Hörisch etwa betont in seinem Aufsatz: „Die Erlösung der Physis. Die Poetisierung Gottes im Werk von Patrick Roth“, dass Poesie zwangsläufig vom „Transzendenten und dessen Verhältnis zum Weltimmanenten handeln muss“. Roths „Novellen, Romane und Filme poetisieren und medialisieren das Göttliche und deifizieren das Mediale“. Das Medium ist die Botschaft, so die Struktur der Rothʼschen Texte, deren filmische Überblend- oder genauer „Dissolve-Technik“ ins „Narrative transformiert“ und zur Sprache gebracht werden. In Hörischs Worten: „In Patrick Roths Werken werden Sein und Dasein mit einer Intensität und Bedeutsamkeit aufgeladen, die Immanenz und Transzendenz in eins verwebt.“

Eine „Transzendierung des Profanen“ als „politischen Akt“ sieht Uwe Schütte in Roths Werk – ein Ansatz, der in unseren Tagen des im Namen von Religion verübten weltweiten Terrors vielleicht aktueller denn je ist: „Eine Neuadjustierung des Blicks auf die Welt, die Durchbrechung des Immanenten hin auf ein Transzendentes, ist zwangsläufig auch ein politischer Akt der Augenöffnung, der nicht zuletzt die ideologischen Voraussetzungen der politischen Ordnung freilegt, die wir als Normalität zu akzeptieren gezwungen sind.“

Anschlussfähig ist hier der Ansatz von Michaela Kopp-Marx, die mit gleich zwei Beiträgen im Sammelband vertreten ist. „Sunrise“ liest sie „als Antwort auf das religiöse Problem der Moderne […], die gelernt hat, ohne Bezug zum Göttlichen, ohne Mythos, ohne anleitendes Narrativ zu leben und an einer umfassenden Sinnleere laboriert.“ Als „Höhepunkt intertextuellen Erzählens“ erscheint „Sunrise“ mit seiner „Kontextverschiebung“, seiner Neu-Perspektivierung und „Spiegelung“ der „großen, ursprünglichen Mysterien der abendländischen Kultur“ als die bis dahin erfolgte Summe des Rothʼschen Schreibens mit seiner „Überschreitung des Ästhetischen ins Existentielle und Ethische“. Hierin trifft sich Kopp-Marxʼ Sicht mit der des emeritierten Tübinger Theologen Karl-Josef Kuschel. Dieser spürt seit rund vier Jahrzehnten in verschiedensten Kontexten literarisierten Bibelstoffen und -motiven nach und sieht Roths Adaption biblischer Texte mit seiner „ingeniösen Synthese aus cineastischer, poetischer und tiefenpsychologischen Imagination“ als Lektüreangebote „menschlicher Selbsterkenntnis“. Ähnlich liest Eckart Reinmuth die „neutestamentlichen Stimmlagen“ in „Sunrise“, wenn er betont: „Wir werden in den Prozess einer Verunsicherung geführt, bei dem die Sedimente altgedienter Gewissheiten, polierter Interpretationsroutinen und steinhart gewordener Interpretamente aufgelöst werden […]. Wir werden bis an den Grund der offenen Frage nach uns selbst geführt, deren Definition stets neu einen radikalen, uns selbst treffenden Akt der Interpretation darstellt.“

Während Kopp-Marx und andere – wie auch die beiden evangelischen Theologen Inge Kirsner und Eberhard Schwarz in ihrem gemeinsamen Text „Seelenarbeit“ – die existenzielle Dimension der Rothʼschen Texte betonen, liest Michael Braun zuerst und vor allem unter ästhetischen Vorzeichen (Erzählprinzip ist die Vereinigung der Gegensätze) und spricht von einer in „Sunrise“ angesichts der verschiedenen Todesmomente forcierten „Kraft des Lebens, die man christlich nennen kann, aber nicht muss, weil es um ein ästhetisches ‚Zur Stelle-Sein‘ geht und nicht um eine religiöse Glaubenserfahrung.“ Nur ein vermeintlicher Widerspruch zu Kopp-Marx – oder zu der des im Band wieder abgedruckten Interviews, in dem Roth davon spricht, dass „wirkliche Literatur immer über das Ästhetische“ hinausgehe –, denn Braun hält fest: „,Sunrise‘, ‚Sonnenaufgang‘ ist der Titel für die Auferstehung der biblischen Geschichte im nachmetaphysischen Roman unter den Vorzeichen der ästhetischen Erfahrung der Religion.“

Im Gegensatz zur Malerei, in der Joseph von Nazareth häufig als zentrale Figur zu finden ist, ist er literarisch meist nur eine mehr oder weniger stereotyp auftauchende Randfigur in Jesus-Romanen, wie Georg Langenhorst in seinem Beitrag ausweist. Patrick Roth suche mit seinen biblisch grundierten Texten einen eigenständigen Zugang. Diese Arbeiten seien – so Langenhorst im Rückgriff auf Gerhard Kaiser – von „Ganzheits- und Heilssehnsucht getränkte verstörende Versuche, ‚die unheimliche Fremdheit des Lebensdramas Jesu zurückgewinnen.‘“

Die gleichermaßen anregenden wie informativen Lektüren des Sammelbandes werden ergänzt um einen mehr als 370 Seiten umfassenden „Commentary Track“ zur Christus-Trilogie, den Kopp-Marx kurz vor dem Tagungsband unter dem Titel „Seelen-Dialoge“ vorgelegt hat. Hier wie im Sammelband sind in erster Linie die vier Quellen Bezugspunkte, „aus denen sich die Literatur Roths speist – die Bibel, die Tiefenpsychologie, der Film und die Literatur“. Kopp-Marxʼ Pfad durch die Trilogie liefert so eine Vielzahl neuer Schichten, die jedoch nie die erste und eigentliche Lektüre des Werkes ersetzen oder gar „Letztgültiges“ über die Texte aussagen wollen. Hier wie auch im Sammelband geht es darum, „Hintergründe“ und Textzusammenhänge sichtbar zu machen. Und im besten Fall geht es dem Leser des einen wie des anderen Werkes wie Karl-Josef Kuschel. Dieser stellt am Ende seines Beitrags im Sammelband fest:

Ich bin längst noch nicht fertig mit diesem Roman [gemeint ist „Sunrise“, AK]. Ich spüre, dass ein Urteil über dieses Buch voraussetzt, dass man die Traumsprache noch besser versteht und nachweist, dass die vielen Bilder, Zeichen und Symbole eine innere Kohärenz haben, eine in sich stimmige Plausibilität. Ich werde das Buch unter dieser Frage noch einmal lesen müssen.

Dazu regen gewiss auch die beiden hier vorgestellten Bücher mit ihren eine faszinierende Polyperspektivität auf das Rothʼsche Werk eröffnenden Zugängen an.

Titelbild

Michaela Kopp-Marx: Die Seelen-Dialoge. Ein Commentary Track zu Patrick Roths Christus-Trilogie.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
380 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826048647

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Titelbild

Michaela Kopp-Marx / Georg Langenhorst (Hg.): Die Wiederentdeckung der Bibel bei Patrick Roth. Von der „Christus-Trilogie“ bis „Sunrise. Das Buch Joseph“.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
384 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835314528

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