Herzjurte, Geistessteppe, Seelenozean

Galsan Tschinags Roman „Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind“ liegt nun als Taschenbuch vor

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Zur vorgerückten Stunde eines schwülen Mittsommertages betritt ein Mann in ebenso vorgerücktem Alter und gedämpften Zustand den schummrig-schmutzigen Flur eines Hochhauses mitten in einem brodelnden, lärmenden Wohngebiet.“ So beginnt der tuwinische Dichter, Stammesfürst und Schamane Galsan Tschinag seinen Roman mit dem lakonisch-eigentümlichen Titel „Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind“. Es ist, wie meist bei Tschinag, dem neben Dschingis Aitmatow wohl bekanntesten Autor der asiatischen Steppen- und Gebirgslandschaft, eine Liebes- und Lebensgeschichte, die in seiner mongolischen, genauer tuwinischen Heimat spielt. Zuletzt rückte der Roman „Gold und Staub“ gleichfalls ein ungleiches Liebespaar in den Mittelpunkt.

Der Mann, Nüüdül, ist ein in der Anonymität der Großstadt gestrandeter Nomade. Die Frau Dsajaa, seine unbekannte junge, attraktive Hochhaus-Genossin, gewinnt bei einer Fernsehshow ein Schaf. Doch was soll sie mit dem blökenden Hammel in der engen Wohnung bloß anfangen? In ihrer Verzweiflung gibt sie das Tier bei ihrem Nachbarn ab und bleibt für längere Zeit weg. Der kann ebenso wenig mit dem Schaf anfangen wie sie und schlachtet es. Bei der Verarbeitung und Zubereitung des Fleischberges kommt sich das ungleiche Paar allmählich näher, indem sie sich ihre Lebens- und Liebesgeschichten erzählen. Als blutjunge Studentin wird die „Landnomadin“ Dsajaa von einem Oligarchen aus der Stadt mit Geld und Geschenken verführt. Sie wird dessen Geliebte und schließlich schwanger. Der Geliebte stirbt bei einem mysteriösen Autounfall und das Kind – so wird der jungen Frau zumindest vorgegaukelt – stirbt ebenfalls bald nach der Geburt. Auch Nüüdüls Leben verläuft nicht geradlinig. Im Gegenteil, manche Episode des Nomaden erscheint spiegelverkehrt zu den Stationen seiner jungen Nachbarin.

Im weiteren Verlauf der Geschichte werden sich die beiden zunehmend zur Stütze; sie geben sich gegenseitig Halt in einer Welt der Korruption, der Verschlagenheit, der Parteibonzen und Oligarchen: „Du hast mich in deiner Herzjurte ebenso eingelassen und mich angenommen als einen, der dir bisher irgendwie gefehlt hat […], nach dem du in deiner Geistessteppe, deinem Seelenozean seit Jahr und Tag gesucht hast.“

Dass der totgeglaubte Sohn Dsaajas am Ende regelrecht erstritten werden muss und die neue „Familie“ komplettiert, erscheint als Happy End fast des Guten zu viel, zumal der Antagonismus von korrupter Stadt und unverstelltem natürlichem Leben in der Steppe am Ende auf die Spitze getrieben wird. Man mag sich vielleicht daran stören. Galsan Tschinag jedoch, der bereits mehr als drei Dutzend Romane, Erzähl- und Gedichtbände auf Deutsch vorgelegt hat, geht es mit starken Bildern um das, was er im letzten Satz des Romans benennt: „Lebt euren Träumen nach, holt sie ein und macht sie zu euren treuen Dienern!“

Titelbild

Galsan Tschinag: Der Mann, die Frau, das Schaf, das Kind.
Unionsverlag, Zürich 2016.
400 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783293207363

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