Der Zauber hält das Leben wach

„Savari“ von Bianca Tschaikner ist eine Sammlung von Zeichnungen und Texten über eine Reise nach Iran und Indien, deren Stärke im Fragmentarischen liegt

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Go out and tell everyone how it really is in Iran“ steht großflächig und in schwarzer Farbe auf weißem Grund. Oberhalb dieser Aufforderung ist das Porträt eines jungen Mannes zu sehen: Er hat dichtes, schwarzes Haar, das hochsteht, und trägt einen Vollbart. Seine Augen hält er geschlossen und erweckt damit den Eindruck, als sei er in sich gekehrt und träume. Ein schwarzer Strich deutet seinen Oberkörper an. Ansonsten ist nur seine rechte Hand zu sehen, die er hoch hält und die leicht geschlossen ist. Aus ihr wächst etwas, das wie Wolle aussieht und ineinander verwoben ist, nach links.

Diese Zeichnung stammt von der österreichischen Illustratorin und Druckgrafikerin Bianca Tschaikner und ist Teil ihres großformatigen Reiseskizzenbuches „Savari“, das aus dem Persischen übersetzt in etwa „Mit dem Auto reisen“ bedeutet. „Savari“ ist das Ergebnis einer fünfmonatigen Morgenlandfahrt der 1985 geborenen Künstlerin durch Iran und Indien, die auch für die Wiener Wochenzeitung „Falter“ arbeitet. Im Januar 2016 wurde Tschaikner Rassismus vorgeworfen, weil sie nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln ein Falter-Cover zeichnete, das buchstäblich schwarz-weiß ist: Die zahlreichen männlichen Täter ähneln einander, sind schwarzhaarig, auch schwarz angezogen, weisen große Münder und spitze Zähne auf. Sie bedrängen und begrapschen ihre weiblichen Opfer; die wenigen Frauen, alle in Weiß, weinen und zittern vor Angst.

Tschaikner hat ihr Buch „Savari“, das den Untertitel „An illustrated journey through Iran & India“ trägt, ebenfalls in Schwarz-Weiß gestaltet – eventuell eine Hommage an Marjane Satrapi und ihre autobiografische Graphic Novel „Persepolis“. Die Wirkung von „Savari“ ist jedoch eine gänzlich andere als die des Falter-Titelbilds. Im Gegensatz hierzu und bis auf die Abschlussseite von „Savari“ wirken die restlichen, mehr als 70 Seiten mit Zeichnungen und Texten fragmentarisch und unvollendet – im positiven Sinn. Indem Tschaikner nicht die gesamte Fläche einer jeden Seite ausfüllt, verstärkt sie deren Wirkung und lässt dem Betrachter so mehr Raum, das Dargestellte zu hinterfragen und weiterzuspinnen.

„Savari“ zeichnet den Aufenthalt Tschaikners nur teilweise chronologisch nach. Man erfährt, dass sie ab Herbst 2014 die konventionelle Tour über Teheran nach Isfahan und Schiraz gemacht hat, aber auch in Orte wie die „Granatapfelstadt“ Gav Koshak gereist ist. Das Buch besteht hinsichtlich der Texte aus primär englisch- und deutschsprachigen Gedichten („Eine Blume, die sich um eine andere windet / ist ein Muster, in dem man sich wiederfindet“), Gesprächsfetzen („In Iran itʼs forbidden! Also dancing in a taxi“), Namen von Orten und porträtierten Personen oder aus Gedankensplittern.

Der erste Teil von „Savari“ enthält eine Vielzahl von Porträts junger Iranerinnen und Iraner. Sie wirken melancholisch, haben Tränen in den Augen oder diese geschlossen und scheinen  zu träumen oder zu schlafen. „Je crois que je suis mort / deja“ („Ich glaube, dass ich tot bin / beinahe“) steht neben einem jungen Mann. Auf einer anderen Seite sieht man einen etwa Gleichaltrigen auf einem Teppich stehen. Er trägt eine Jeanshose, seine Füße und sein Oberkörper sind nackt. Sein Kopf, zum Betrachter gerichtet, lugt neben einem Buch hervor, das er in den Händen hält. Der Himmel, angedeutet durch Punkte/Sterne, die durch schwarze Striche miteinander verbunden sind, wächst von oben in das Buch hinein. Daneben findet sich die Zeile: „Thatʼs what we learnt today: you cannot learn from books.“

Die jungen Leute, die im Mittelpunkt des ersten Teils stehen, pendeln zwischen Resignation und Trotz. „Waiting for a nose job“ steht über den Porträts zweier Frauen mit Kopftuch und deutet auf die Nasenkorrekturen an, die seit Jahren Konjunktur bei beiden Geschlechtern haben. „I am not going to Jihad“ ist auf einer anderen Seite zu lesen. Darunter befindet sich das Porträt einer jungen Frau, der die rechte Hand fehlt. Eingerahmt ist sie von runden, teils floralen orientalischen Ornamenten. Oder: Zwei junge Frauen, die Zigaretten rauchen, haben Katzenkörper. Ihre Augen sind ebenfalls geschlossen: „You know / These two girls / they are like two black cats / Everywhere they go, the police comes.“

Tschaikner gelingt es im ersten Teil ihres Buches, die Situation der jungen Iraner in ihren Texten und Zeichnungen zu transportieren: Frust infolge von Perspektivlosigkeit, der Rückzug ins Private, zugleich aber auch der Versuch, die Einschränkungen im Alltag – etwa das Alkohol- und Tanzverbot – zu umgehen. Man spürt die Neugierde und den Wunsch der Iraner, mit Touristen ins Gespräch zu kommen und ihnen ein positives Bild ihrer Heimat, das eines gastfreundlichen und friedlichen Landes, zu vermitteln. Komische Situationen infolge von Missverständnissen bleiben da nicht aus.

Zeichnerisch auffällig sind besonders im ersten Teil von „Savari“ die häufige Darstellung von Pflanzen- und Teeblättern, Knospen, überhaupt von floralen Motiven – kleine Bäume, Äste, Blumen, die teilweise aus den Figuren hinauswachsen. Hinzu kommen klassische vorderasiatische Motive wie verzierte Türme mit Zwiebeldächern oder (Bild-)Rahmen von Porträts, die nach oben hin rund werden und zusammenwachsen. Diese Motive deuten auf die Rezeption der Malerei aus der Herrschaftszeit der turkstämmig-aserbaidschanischen Kadscharen hin, die den Iran von 1796 bis 1925 regierten.

Dafür spricht auch die Darstellung zweier junger Männer, die durch ihre Kleidung und ihre hohen, nach oben schmaler werdenden Hüte Derwischen aus jener Epoche ähneln. Der eine tanzt, seine Arme sind nach oben gehoben und die nackten Füße stehen auseinander. Der junge Mann bewegt sich gleichsam auf einem „Textteppich“, auf einer Art Prosagedicht. Auch wenn das erzählende Ich hier wahrscheinlich auf die Rezeption von Stefan Georges Gedicht „Der Mensch und der Drud“ deutet, scheint es Elemente des Sufismus – das Ekstatische, das Weltabgewandte und den Rückzug in die Natur – einzubeziehen. Darüber hinaus entsteht der Eindruck, dass der Text abermals die Aufbruchsstimmung der Iraner einerseits und ihre Enttäuschung andererseits – nicht zuletzt infolge der politischen Ereignisse wie etwa der Niederschlagung der Grünen Bewegung – widerspiegelt:

We are born as lonely stars. Dust to dust, sun to earth, circle in circle. […] When we were still animals, all was fine, I guess. And now we don‘t know the dust under our feet, and the skies remain riddles for us. […] Go out now into the wild. […] Kiss the flowers. Sing for the birds. Eat soil. Be soil. Whenever we thought to be something, we were proved wrong. We are smart but stupid. Nobody is singing for us anymore. Now I remember the words: Der Zauber hält das Leben wach. Das Ende eines Gedichts.

Der zweite Teil von „Savari“ unterscheidet sich vom ersten dadurch, dass die aufgesuchten Orte Bombay und Neu-Delhi, die östlichen Bundesstaaten Assam und Nagaland, die Strände von Goa, aber auch Hampi, einst Hauptstadt des Köngreichs Vijayanagat und seit 1986 Unesco-Weltkulturerbe, überhaupt der Alltag der Menschen in Indien in Text und Bild selbst kaum wiedergegeben werden. Das Erlebte scheint hier noch stärker Impulsgeber einer Auseinandersetzung mit dem Transzendenten zu sein. Die Traumähnlichkeit des Hier und Jetzt sowie die Unendlichkeit von Raum und Zeit, aber auch die Verlorenheit in der Fremde und die Sehnsucht nach dem Heimgehen im Sinne von Novalis stehen hier stärker im Fokus.

Dennoch finden sich auch in diesem Teil Porträts junger Inder, ferner von Iria do Castelo, einer aus Spanien stammenden Kollegin Tschaikners, und vom portugiesischen Seefahrer Vasco da Gama (um 1469–1524), der den südlichen Seeweg nach Indien entdeckte. Eingewoben sind Zitate aus Gesprächen mit Einheimischen und Texte über Besuche im Dschungel in Gujarat („So beautiful that you keep telling yourself: Donʼt fall asleep in Paradise“). Es finden sich ebenfalls indische Motive: Eine junge Frau im Sari oder ein älterer Kaffeehausbesitzer mit Brille, Schnurrbart und einem Punkt auf der Stirn. Eindruck hinterlassen hat auch ein Besuch in Lepakshi, wo wie in Hampi ältere hinduistische Tempelanlagen stehen. Neben dem Ortsnamen Lepakshi sieht man zwei Figuren mit Kopfschmuck und geschlossenen Augen. Der eine tanzt, während der andere einen Handstand zu machen scheint.

Ein Motiv, das im zweiten Teil des Öfteren auftaucht, ist ein drittes Auge auf der Stirn vieler Figuren. Im Hinduismus ist damit eine Wahrnehmung gemeint, die über das gewöhnliche Sehen hinausgeht. Zugleich wirken die Zeichnungen surrealistischer. Tschaikner bezieht sich hier selbst mit ein. Mehrfach ist eine junge Frau, die ihr ähnelt, mit einem dritten Auge zu sehen. Einmal hält sie in ihrer linken Hand zwei kleine, glatzköpfige Frauen, deren Augen geschlossen sind, fest an ihre Brust gedrückt. Ihre obere rechte Körperhälfte wird von einem schwarzen Mantel verborgen, der an die Himmelsschale von Nebra erinnert und einen Halbmond sowie einen großen und viele kleinere Sterne zeigt. Der zweite Teil von „Savari“ ist deutlich abstrakter und persönlicher gehalten; in ihm künden Zeichnungen und Texte von Sinnkrisen („Love / your mistakes“ oder „I believe / in miracles / I have no other choice“).

Auf diese Weise entsteht ein Gegensatz zwischen den schönen Stränden von Goa, an denen sich das hier erzählende Ich aufhält, und seinem Unglück infolge des erfolglosen Versuchs, loszulassen und den Moment zu genießen. Verstärkt wird dieser Zustand durch eine unglückliche Beziehung, die kitschig beschrieben wird und den schwächsten Teil des Buches ausmacht („Iʼm walking on clouds / because I slept with an angel / last night“). Tschaikner scheint unsicher gewesen zu sein, wie sie „Savari“ enden lassen soll. Nach Banalem („Now that the journey ends / Another one begins“) schließt sie es letztlich mit einer Liebeserklärung.

Auch wenn das Ende der „Illustrated journey through Iran & India“ im Vergleich zum Rest abfällt, lohnt die Lektüre dieses in mehrfacher Hinsicht hervorstechenden Reisebuches. Tschaikners Stil hat Wiedererkennungswert. Ihre Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind eigenwillig. Sie wirken fragmentarisch, einfach und leicht – was ihre Stärke ist. Die österreichische Illustratorin selbst erscheint als empathische und wache Reisende, die die Einheimischen, ihre Kunst und Philosophie bewusst wahrgenommen und gekonnt bestimmte Aspekte zeichnerisch und textlich in ihr Buch verwoben hat. „Savari“, Produkt einer realen und geistigen Morgenlandfahrt, spiegelt so Tschaikners Beschäftigung mit den Anderen und sich selbst auf eine ungewöhnliche Weise wieder. Zu empfehlen ist es denjenigen, die einen unaufgeregten, eher leisen Zugang zu Iran und Indien suchen.

Titelbild

Bianca Tschaikner: SAVARI. An illustrated journey through Iran & India.
BUCHER GmbH & Co KG, Hohenems 2016.
164 Seiten, 21,40 EUR.
ISBN-13: 9783990183632

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