Wer trotzt der Verwesung?

Dana Rangas „Hauthaus“ ist voller Melancholie und Musikalität

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Knochensplitter fliegen nach einer Explosion durch die Luft. Ein Chirurg legt das Herz frei. Dana Ranga spürt in ihrem neuen Gedichtband „Hauthaus“ der Verletzlichkeit des Körpers nach und legt zugleich die Verletzlichkeit der Seele frei. Mit dem Gedichtband gleitet der Leser in die unsichtbaren Schichten unter der Haut, wo sich Träume, Erinnerungen und Sehnsüchte nicht lokalisierbar zwischen Synapsen und Gefäßen verstecken. Streng anatomisch gliedert sich das „Hauthaus“, die Überschriften geben den Startort der Gedankenströme bekannt: „Herz“, „Rücken“, „Leber“, „Eierstöcke“, „Blinddarm“ und so weiter. Doch die Anatomie ist nur der Ausgangspunkt für Rangas Reisen in das Unterbewusste, eine Welt aus „Adlerflügeln und Löwenrachen“, in der die Grenzen zwischen Prosa und Gedichten verschwimmen.

Nie verschwimmt der Blick auf die dynamischen Bilder. Sich einen Weg durch die rätselhaften Verse zu bahnen und dabei ihre Melancholie freizulegen, ist eine sich lohnende Herausforderung. Einer der Höhepunkte des Bandes ist die bildgewaltige Kritik an der Oberflächlichkeit der modernen Arbeitswelt und der fehlenden religiösen Orientierung. Postuliert die Autorin zunächst, dass jeder „hoch hinauf“ wolle und nur die Spitze geschmückt wird, erklärt sie sogleich, dass die meisten nur guten Willens und „ohne Aussicht auf den Aufstieg“ sind. So beginnt das lyrische Schwungrad mit mächtigen Bildern ein schwindelerregendes Auf und Ab in der Kathedrale des Verstandes, dem Hirn. Der Leser wird gehalten, ihm wird Hoffnung gegeben, um sie ihm sogleich wieder zu nehmen: „Wir halten den Schlüssel und sterben doch eines Tages, nur die Hoffnung verleihen wir weiter“. Und in der Kathedrale des Verstandes schreit die Orgel, Knie fallen und Segenssplitter werden aufgefangen. Aber ein Kampf gegen das Vergessen scheint aussichtslos. Niemand fragt, wie man einem Kind das Beten beibringen könnte. „Die Welt von heute ist nicht über die Seele besorgt.“ Bilder fliegen auf den Leser zu, dem die Worte in den Ohren dröhnen als stünde er direkt unter einer Kirchenglocke. Die Geschwindigkeit, mit der Ranga immer neue Bilder aneinanderreiht, wird augenbetäubend. Die Erlösung bringen in den Opferstock fallende Münzen – „und ein Lächeln begleitet das leise Klingen“.

Das Spiel aus Be- und Entschleunigung kann verglichen werden mit dem Kontrahieren und Entspannen eines Muskelstranges oder dem Puls des menschlichen Herzens. Nie sind die Gedanken willkürlich, stets folgen sie einer Struktur, bilden einen neuen Rhythmus: „Struktur ist ein Attribut des Seins“, ruft das lyrische Ich aus. Mit medizinischer Korrektheit benennt es das Mediastinum, den Mittelfellraum, das Fornix im Großhirn und die Cristae Cutis, die Hautleisten. Diese anatomische Korrektheit und die rhythmische Struktur werden immer wieder unterbrochen – von einem scheinbar fehlerhaften Rhythmus, einem falschen Schlag, einem Oxymoron. Die Brüche gehen einher mit einem neuen Blick. Dana Ranga hat die Fähigkeit, das Fehlerhafte zu sehen und Bilderflüsse so plötzlich umzuleiten, dass ein neuer Sinn entsteht. Der Leser wartet auf den „nächsten Schlag des Metronoms“ und spürt den Sog „zum Urknall hin“, zur letzten Frage nach dem Sinn des Lebens.

Die Sinnsuche versteckt sich hinter den Augen. In ihnen finden sich Bilder der Trauer und der Sehnsucht nach Berührung. „Ich war schon lange nicht mehr draußen“, sinniert das lyrische Ich. Sein Gesicht trügt, hinter ihm verbirgt sich nichts als Gleichgültigkeit als Ergebnis jahrelangen Ausharrens „in Erwartung und in der Hoffnung, dass jemand zurückkommt und sagt, hab-mich-getäuscht“. Doch nur ein Chirurg habe das Herz berührt. Dana Ranga schreibt von Lügen und Untreue: „Nur darum schließt er den Schreibtisch ab, damit ich ihre Briefe nicht lesen kann“. Das Lied von verlorener Liebe und Einsamkeit findet ausgerechnet im „Hoden“ seinen doppeldeutigen Ausdruck: „Den tiefsten Abgrund trägt man in sich selbst“. Körperliche und seelische Abgründe erkundet Ranga mit spürbarer Lust: Aus dem Bauch, dem „Ort des Verfalls“, steigt schlechter Atem. Der Bauch ist bei ihr ein fehlerhafter Ort. „Mit belegter Zunge“ schleudert ein Mann es der Frau entgegen: „Halt’s-Maul, mit geschwollenem Hals, mit breit aufgestellten Beinen“. Die Wucht der Worte schlitzt bleibende Wunden – wie ein Skalpell. Suizidale Gedanken manifestieren sich und werden niedergeschrien: „aufhören-es-wird-nicht-gestorben“. Und schließlich wird gefragt: „Wer kocht die Knochen aus, wer trotzt der Verwesung?“ Gibt es einen Ausweg aus dem Kreislauf der Depression, gibt es Hoffnung trotz der Schmerzen und der Unausweichlichkeit des Todes? Rangas rhetorische Fragen hallen nach. „Von Worten kann man sich nicht trennen, man kann sie nicht töten“, ruft das lyrische Ich.

Titelbild

Dana Ranga: Hauthaus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
64 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425237

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