Schreibend ein neues Leben beginnen

Über den Roman „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ von Georg-Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Viel wichtiger war, dass sie nach dreißig Wartejahren endlich zum richtigen Schreiben kam und die Zeit als Tippse von Doktorarbeiten aufhörte und mit der Schreibmaschine ein neues Leben beginnen konnte“, heißt es über die Protagonistin Marie von Schadow (verheiratete von Mollnitz), die sich Ende der 1960er-Jahre am Strand von Scheveningen dazu entschließt, ihre Familiengeschichte, genauer: drei exemplarische Beziehungen, zu rekonstruieren.

Friedrich Christian Delius, der 2011 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet und von der Darmstädter Akademie als „kritischer, findiger und erfinderischer Beobachter“ gerühmt wurde, greift in seinem schmalen neuen Roman auf seine früheren Werke „Der Königsmacher“ und „Bildnis der Mutter als junge Frau“ zurück. Wiederkehrende Sujets sind verwandtschaftliche Beziehungen zum niederländischen Königshaus und die einfühlsame Beschreibung einer einsamen Frau von der mecklenburgischen Ostseeküste. Diesmal hat allerdings nicht Deliusʼ Mutter für die Marie-Figur Pate gestanden, sondern deren ältere Schwester, die ebenso wie die Romanprotagonistin eine Biografie über die NS-Widerstandskämpferin Elisabeth von Thadden verfasst hat.

Die Hauptfigur recherchiert in einem Den Haager Archiv und stößt dort auf familiäre Wurzeln. König Willem hatte eine Beziehung zu einer Berliner Tänzerin und die 1812 aus dieser heimlichen Liaison hervorgegangene Tochter war Maries Ururgroßmutter.

Eine unglückliche, weil nicht standesgemäße und heimliche Beziehung. Auch die beiden übrigen retrospektiv erforschten „Liebesgeschichten“ – ihre eigene Ehe und die ihrer Eltern – sind alles andere als romantisch, sondern vielmehr von Entbehrungen und politisch unruhigen Zeiten geprägt.

Vater Hans war ein auf äußerste Disziplin bedachter U-Boot-Kapitän, Mutter Hildegard Tochter eines hohen Offiziers. Marie hat ihren Vater als einen „Gefühlsverweigerer“ in Erinnerung, der „vom Kaisergehorsam zum Gottesgehorsam“ wechselte. Aus der Perspektive der schreibenden Selbstbeobachterin bewertet die Protagonistin, Mutter von vier Kindern, ihr eigenes Leben neu: Ihren Zwiespalt zwischen „Kreuz und Hakenkreuz“, in dem sie sich als ehemaliges BDM-Mitglied befand, ihre Liebe zum Gutsbesitzersohn Reinhard, der mit seinen „sanften Augen ihren Lebensplan umwarf“ und auf den sie nach der Flucht aus Mecklenburg viele Jahre warten musste. Als „Erinnerungsflüge und Fantasien“ beschreibt der 73-jährige Friedrich Christian Delius‘ Maries aufgewühlten Zustand.

Sie ist eine Erzählerin von verhinderten Liebesgeschichten. „Du warst nicht im Kino, du warst nicht im Weltraum bei dieser Odyssee, du warst ganz woanders“, heißt es am Ende des Romans. Ihre Odyssee hat sie offensichtlich ins Reich der Fantasie geführt, dorthin, wo romantische Träumereien gestattet sind und man liebevoll korrigierend in die teils emotionslosen Biografien eingreifen kann.

Es sind bewegende, von den politischen Verhältnissen stark geprägte Beziehungsgeschichten aus vergangenen Zeiten, in denen es real wenig Platz für große Gefühle gab. „Schluckʼs runter“, befahl Maries Vater oftmals, wenn der Tochter die Tränen in den Augen standen. Wahrscheinlich entstand daraus der unstillbare Wunsch, eine „Liebesgeschichtenerzählerin“ werden zu wollen.

Titelbild

Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016.
208 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348235

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