Folge mir in das Labyrinth der tausend Freuden

Der Sammelband „Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930“ bietet eine Archäologie der modernen Freizeit- und Konsumgesellschaft

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch Akademiker amüsieren sich gern. In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien zu Vergnügungskultur und Metropole erschienen. Der vorliegende Band Weltstadtvergnügen. Berlin 1880 –1930 versammelt nun Aufsätze zu den Themen Unterhaltungstheater, Tanzvergnügen Populärmusik, Vergnügungsparks und Kokainkonsum. Die besondere Stärke dieses Buches liegt nicht nur in der hohen Kompetenz der Autoren, die oft zu ihrem jeweiligen Thema bereits ein ganzes Buch veröffentlicht haben, sondern auch in der konkreten Verortung der Theater, Tanzsäle und weiterer Vergnügungsstätten in der Topographie der damaligen Stadt. Noch im heutigen Berlin lassen sich Spuren dieser Orte finden.

Die weltstädtische Vergnügungskultur, so die gemeinsame Leitthese der Autoren, war ein wesentlicher Teil der modernen Großstadterfahrung und trug entscheidend zur „inneren Urbanisierung“ der Stadtbewohner bei. Ihnen wurde während der „langen Jahrhundertwende“ eine besondere Anpassung an die verdichteten und dynamisierten Lebensumstände abverlangt. Im Gegenzug wollten sich die Großstädter amüsieren, zerstreuen und als Weltstadtbewohner feiern. Daniel Morat betont in seiner Einleitung, dass die Entwicklung einer massenhaften Vergnügungskultur nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte, wie es der Mythos der „Goldenen Zwanziger“ behauptet. Der Krieg war weniger eine Zäsur als vielmehr eine Pause in der kontinuierlichen Entwicklung der verschiedenen Vergnügungsangebote. Die Beiträge bestätigen diesen Befund.

Tobias Becker liefert einen kenntnisreichen und detailfreudigen Überblick zum Unterhaltungstheater in Berlin. Die Eröffnung des Metropol-Theaters im September 1898 war ein städtisches und gesellschaftliches Ereignis; eine Menge von Schaulustigen bestaunte die Spitzen der Gesellschaft, die eine Karte ergattert hatten und im Prunk des neuen Hauses selbst gern glänzten. Die meisten der Berliner Theater waren Unterhaltungstheater, die vor allem Geld verdienen mussten und deshalb unbeschwerte Unterhaltung brachten. Das Theaterviertel lag in der nördlichen Friedrichstraße (wo heute noch Admiralspalast, Berliner Ensemble und der Friedrichstadtpalast die Tradition fortführen). Im Theater trafen sich die Berliner in deutlicher sozialer Staffelung: Oberschicht und Schickeria ließen sich auf den teuren Plätzen bewundern, die aufstiegsorientierten Angestellten nahmen die billigen Plätze, die Arbeiter hatten ihre eignen Bühnen. Alle liebten Revuen, die Berlin geradezu zwanghaft im Vergleich mit Paris, London, New York als neue Weltstadt zeigten. Becker sieht darin treffend einen Minderwertigkeitskomplex der „Parvenupolis“. Nach dem Ersten Weltkrieg, so Becker, wich die optimistisch-fröhliche einer eher sentimental-nostalgischen Repräsentation der Großstadt, wie etwa im grassierenden Zille-Kult der späten 1920er-Jahre.

Mehr noch als im Theater wurden die Berliner beim Tanzen zu leiblichen Akteuren der großstädtischen Erfahrung. Kerstin Lange zeigt, wie man die Modetänze Ragtime, Tango und Berliner Schieber als Ausdruck der neuen Zeit empfand: „Die Weltstadt Berlin wurde hier am eigenen Leib erfahrbar, die neuen Tänze schieden das neue vom alten Berlin.“ Obrigkeit und Polizei sahen in den Schiebertänzen eine „brünstige Form des Tanzens“, die der drohenden Sittenlosigkeit Vorschub leiste, und postierten in den Tanzsälen deshalb Überwachungsbeamte in Zivil. Doch in den Kaschemmen der Arbeiterviertel wie auch in den feinen Salons der Tanztees im neuen Vergnügungsviertel am Kurfürstendamm wurden mit Tango und Schieber nicht nur die Erfahrungen des hektischen Gedränges der Großstadt bewältigt, sondern auch eine freiere Sinnlichkeit geprobt.

Daniel Morat unternimmt in seinem Beitrag zur Populärmusik einen Bummel durch die Berliner Innenstadt entlang ihrer damaligen Sounds: Militärmusik beim Aufzug der Wache vor dem Zeughaus, eine Regimentskapelle im Lustgarten – in nahezu allen Restaurants und Cafés der Friedrichstraße konzertierten Künstlerkapellen. Die eleganten Grandhotels Unter den Linden boten zum Fünfuhrtee Begleitmusik und zum Essen Tafelmusik. Die zahlreichen Garten- und Bierlokale des Tiergartens warben mit lautstarker Musik um Gäste, und der Autor Edmund Edel wies darauf hin, dass noch um drei Uhr aus den offenen Fenstern der Nachtcáfes und Balllokale Gassenhauer und Walzer durch die Sommernacht flöteten. Die populäre Musik begleitete die Großstadtbewohner durch ihren Alltag, ein Heer von Berufsmusikerinnen und -musikern fand mit dieser Dienstleistung ein prekäres Auskommen, bis hin zu den Leierkastenspielern in den Hinterhöfen, denen man aus den Fenstern eingewickelte Münzen zuwarf. Morat zeigt am Beispiel des Schlagers und Gassenhauers, dass die städtische Populärmusik keinen exklusiven, sondern einen sozial integrativen Charakter hatte: Die Lieder wanderten durch den Stadtraum und durch alle Schichten der Gesellschaft. Paul Lincke schuf mit dem schmissigen Schlager Berliner Luft eine Art Nationalhymne der Stadt. Claire Waldoff machte sich zu einer Berliner Marke, indem sie mehr auf ein sentimental-humoristisches Repertoire setzte. Zudem waren die Berliner an musikalischen Exotismen interessiert, nahmen Einflüsse aus Paris und Wien ebenso begierig auf wie süd- und osteuropäische Stile, vor allem aber die neuartigen Rhythmen der afro-amerikanischen Jazzkapellen. Diese Populärmusik, so Morat, wurde bis zum Beginn der 1930er-Jahre vor allem live gehört; dann wurden die kosmopolitischen Elemente zurückgedrängt und der Musikkonsum durch Aufkommen des Radios allmählich medialisiert.

Johanna Niedbalski führt durch zwei große Berliner Vergnügungsparks: den Lunapark am Halensee und die Neue Welt an der Hasenheide (von der heute zumindest noch ein Gebäude steht). Sowohl Hasenheide wie Halensee waren anfangs Ausflugsziele, zu denen die Großstädter pilgerten, um Erholung von den Strapazen der Stadt zu finden. Die Ausflügler lagerten sich am Wegesrand zum Picknick. Dann setzte an der Hasenheide ein Rummelplatztreiben ein, das dem damaligen Rixdorf einen so üblen Ruf bescherte, dass die Geschäftsleute 1912 die Umbenennung des Ortes in Neukölln durchsetzten. In der Neuen Welt in der Hasenheide traf sich das Berliner Klein-Bürgertum; man lese die einschlägige Passage in Döblins Berlin Alexanderplatz (auf die Niedbalski leider nicht eingeht). Halensee hingegen wollte vornehmer sein, ein riesiges modernes Ausflugslokal am Ende des neuen Prachtboulevards Kurfürstendamm. Doch der Lunapark wurde ab 1911 zu einer Massenveranstaltung mit 50.000 Besuchern an guten Tagen, Ladenmädels ebenso wie feine Herren. Die Attraktionen waren vielfältig: rasante Fahrgeschäfte, Grünanlagen, Schießstände, Tanzlokale, Völkerschauen. In den Vergnügungsattraktionen wurde urbanes Leben eingeübt: Gedränge, beschleunigtes Tempo, rasche Kontakte. Die Angstlust im Umgang mit den Gebirgsbahnen brachte den unverwechselbaren Sound des Lunaparks hervor: das Kreischen. Aber dann war die Fahrt mit der elektrischen Straßenbahn im Stadtalltag die leichtere Übung.

Er war jung und brauchte das Geld: Aus einer „rabiaten Verzweiflung“ heraus arbeitete Carl Zuckmayer vor seinem literarischen Durchbruch einige Zeit als Schlepper für Nachtlokale in der Friedrichstraße und als Kokainhändler in der Gegend des Wittenbergplatzes. Anne Gnausch erläutert sein Geschäftsgebaren und gibt einen seit langem fälligen und sehr fundierten Überblick zum Kokainismus im Berlin der 1920er-Jahre. 1860 vom Göttinger Chemiker Albert Niemann isoliert und benannt, war Kokain in der Kaiserzeit ein begehrtes Allheilmittel gegen Zahnschmerzen, Verdauungsstörungen, Hysterie, Kopfschmerzen und Melancholie; auch Sigmund Freud fühlte sich nach der Einnahme „lebenskräftiger und arbeitsfähiger“. Die Schattenseite des Konsums wurde kaum thematisiert. Der Erste Weltkrieg, in dem Kokain und Morphium wegen der zahlreichen Verletzungen reichlich gegeben wurden, wirkte als Multiplikator der Drogensucht. Die bis dahin kaum sichtbare Droge wurde nach dem Krieg als Subkultur manifest: In Berlin wimmelte es nun in den Seitenstraßen von Friedrichstraße und Kurfürstendamm vor Kokainhöhlen, sozial differenziert in schmierige Kaschemmen und elegante Klubs. Nicht nur Halbwelt und Boheme experimentierten mit der Droge, sondern auch die proletarische Jugend. Die Ärzte schrieben bereitwillig Rezepte für das Mittel aus, die Apotheker verkauften es in Mengen. Kokain war wie Alkohol ein Teil des hedonistischen Berliner Vergnügungslebens (und ist es heute noch).

Darüber hinaus war der damalige Kokainkonsum ein kulturelles Phänomen, denn er schien, so Gnausch, „eine besondere Stimmung zu transportieren, die der Nachkriegszeit, als Reaktion auf Krieg und Umbruch, offensichtlich eignete.“ Leider nennt Gnausch nur zwei Protagonisten des künstlerischen Umgangs mit der Droge: Anita Berber mit ihren Tänzen des Lasters, des Grauens und der Ekstase – den Höhepunkt bildete dabei der Tanz Kokain, sowie Walter Rheiner, der 1918 in seiner Novelle Kokain ein bemerkenswertes Bild des Absturzes eines Süchtigen gibt. Hier ließe sich das faszinierende Thema noch weiter entfalten. Instruktiv sind die beigegebenen zeitgenössischen Illustrationen, die gängige Verstecke für Kokainbriefchen zeigen: im Hutfutter, unter dem Strumpfband, im Damenhandschuh.

Im Schlusswort und Ausblick konstatiert Paul Nolte, dass Berlin sich seit der Wiedervereinigung „nicht nur als politische Hauptstadt, sondern mindestens ebenso als kulturelle Metropole, ja als Hauptstadt des Vergnügens neu erfunden“ habe. Die Easyjet-Touristen und Hipster von heute können von den damaligen Vergnügungsorten und -ritualen, als Berlin Weltstadt wurde und eine echte Metropole war, durchaus noch lernen.

Dem Buch ist weit über die einschlägigen akademischen Fachbereiche hinaus ein interessiertes und amüsierfreudiges Lesepublikum zu wünschen.

Titelbild

Daniel Morat / Tobias Becker / Kerstin Lange / Johanna Niedbalski / Paul Nolte / Anne Gnausch: Weltstadtvergnügen. Berlin 1880-1930.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016.
272 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783525300879

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