Im Schatten des toten Vaters

Christoph Hein erzählt ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte aus der Perspektive eines Glückskindes mit einem großen Manko

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Konstantin Boggosch ist ein Glückskind. Immer wieder trifft er in seinem Leben auf Menschen, die es gut mit ihm meinen, sodass er es schließlich sogar bis zum Rektor eines angesehenen Kleinstadtgymnasiums bringt. Doch ist es ein langer und steiniger Weg, den der begabte Junge bis dahin gehen muss. Denn Konstantin Boggoschs Vater heißt eigentlich Müller. Und dieser Mann wirft als in Polen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs standrechtlich gehenkter Kriegsverbrecher einen langen Schatten. Ein „Vatermal“ ist es, das Konstantin mit sich herumschleppt. Was er auch anfasst und wo immer er bleiben möchte – stets steht ihm der unsichtbare Vater im Weg.

Dabei hat er den Mann nicht einmal kennengelernt. Und mit der Wiederannahme ihres Mädchennamens sorgte seine Mutter gleich nach dem Krieg dafür, dass sie und ihre Kinder nicht sofort als Angehörige des Nazibonzen Gerhard Müller identifiziert werden konnten. Doch es nützt alles nichts: Wie ein Brandzeichen fühlt Konstantin jene Aktennotiz, die ihn zum Sohn eines Vaters macht, mit dem man in der DDR, in der in Sachen Herkunft durchaus eine Art Sippenhaft praktiziert wurde, nichts werden konnte.

Das mochte man noch verschmerzen, wenn es um den stupiden Armeedienst ging – Konstantin Boggosch fällt bei der Musterung durch, weil er als „unwürdig“ betrachtet wird, in den Streitkräften eines sozialistischen Staates Dienst zu tun, obwohl er mehrere Sprachen spricht und Kampfsporterfahrung mitbringt. Dass seine Herkunft dem intelligenten und wissbegierigen Jungen aber auch der Weg zum Gymnasium und damit zu einem späteren Studium verbaut, lässt ihn schließlich den Plan fassen, Ostdeutschland den Rücken zu kehren.

Christoph Heins neuer Roman „Glückskind mit Vater“ schickt seinen Helden auf eine Odyssee, ehe er als in der Welt gereifter Mann nach Hause zurückkehren darf. Bei der Fremdenlegion wegen seines Alters chancenlos, findet er in vier französischen Geschäftsleuten und ehemaligen Résistance-Kämpfern neue Freunde und Gönner, die „ihrem Boche“ behilflich sind, in Marseille über die Runden zu kommen. Mit Übersetzungen verdient er sich seinen Lebensunterhalt, besucht eine Abendschule, erlebt nebenbei erste Liebesabenteuer und lernt Gleichgesinnte kennen, die ihn nicht zuletzt in die wundervolle Welt des Kinos einführen.

Doch wie alles im Leben des Helden endet auch die Zeit im Süden Frankreichs damit, dass ihm der nicht abzuschüttelnde Vater in die Quere kommt. In einer Broschüre, die die vier Mäzene Konstantins über ihre Zeit im Widerstand gegen die Deutschen und deren französische Helfershelfer geschrieben haben, entdeckt Konstantin das Bild eines SS-Schergen – wegen seiner Unberechenbarkeit und Grausamkeit „der Vulkan“ genannt –, in dessen Gesicht er Züge von Gerhard Müller wiederzuerkennen meint. Um den ihm wohlgesonnenen Männern die befürchtete Enttäuschung zu ersparen, wenn eines Tages die Wahrheit über seine Herkunft ans Tageslicht kommen sollte, verlässt er schließlich Frankreich und kehrt nach Deutschland zurück.

Wieder hat er Glück. Ihm wohlgesonnene Menschen ermöglichen ihm im August 1961 den Grenzübertritt von West- nach Ostberlin, bevor die Mauer ihm das Wiedersehen mit seiner Familie unmöglich macht. Nachdem ein Studium an der Potsdamer Filmhochschule erneut an seiner Personalakte scheitert, findet er schließlich über die Arbeit in einem Magdeburger Antiquariat, das Abitur an der Abendschule und ein sich anschließendes Pädagogikstudium zu jener Profession, der er sein weiteres Leben lang treu bleiben wird: der des Lehrers.

Christoph Hein hat die Lebensgeschichte Konstantin Boggoschs, über die er zugleich die Geschichte Deutschlands vom Ende des Zweiten Weltkriegs über 40 Jahre staatlicher Trennung bis in unsere unmittelbare Gegenwart spannungs- und kontrastreich erzählt, nicht frei erfunden: „Der hier erzählten Geschichte liegen authentische Vorkommnisse zugrunde“, heißt es – für einen Roman durchaus ungewöhnlich – gleich zu Beginn des Buchs. Eine verkappte Autobiografie ist es dennoch nicht, auch wenn die Lebensgeschichten von Autor und Hauptfigur durchaus Ähnlichkeiten aufweisen.

Auch Hein blieb beispielsweise als Pfarrerssohn im Osten Deutschlands die höhere Schulbildung verwehrt. Bis zum Mauerbau ging er deshalb auf ein Westberliner Gymnasium und legte das Abitur schließlich 1964 an einer Abendschule ab. Seine Jobs als Buchhändler, Schauspieler und Regieassistent dürften zudem hilfreich gewesen sein bei der Beschreibung jener Lebensetappen seines Helden, in denen dessen Leidenschaft für Filme und die Literatur entstand. Dass die Biografien von Autor und Figur dennoch nur in einigen wenigen Punkten ineinander aufgehen, unterstreicht auch eine Szene auf den Seiten 343/344 des Romans,  die ein kleines Selbstporträt Heins als Konstantin Boggoschs Mitschüler auf der Magdeburger Abendschule enthält.

„Glückskind mit Vater“ ist ein großer Zeit- und Entwicklungsroman, der Hein auf der Höhe seines Könnens zeigt. Vielleicht war die Entscheidung, das Buch mit einer Rahmenhandlung zu versehen, die aus einer personalen Perspektive erzählt wird, welche – noch bevor die Binnenhandlung einsetzt – unvermittelt in die Ich-Perspektive umkippt, nicht ganz so glücklich. Doch abgesehen von dieser kleinen erzählerischen Dissonanz ist das Buch vollgepackt mit lebendig erzählten Episoden, die ein halbes Jahrhundert deutsch-deutscher Historie heraufbeschwören. Dabei vergisst Hein weder den unterschiedlichen Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten noch die Irrwege, die hier wie da beschritten wurden in dem Bemühen, aus der Vergangenheit zu lernen. Der Leser begegnet in dem breit angelegten Personenfeld Idealisten wie Dogmatikern, Ewiggestrigen und Blauäugigen, Menschen, die sich opportunistisch an die Verhältnisse anpassen, und solchen, die unbequeme Fragen stellen und den allzu einfachen Antworten misstrauen.

Mit seiner Rahmenhandlung landet „Glückskind mit Vater“ schließlich in der unmittelbaren Gegenwart nach Wende und Wiedervereinigung. Hier erfolgen die Anstöße, die den inzwischen pensionierten Gymnasialdirektor Konstantin Boggosch dazu bewegen, über das Auf und Ab seines Lebens nachzudenken, sich an die vielen Menschen zu erinnern, die ihm halfen, wie auch an jene, die ihm Steine in den Weg legten. Und hier beweist sich Hein wieder einmal als jener kritische Beobachter von Zeit und Gesellschaft, der er schon immer war und als der er sich auch im wiedervereinigten Deutschland nicht zu verleugnen braucht.

Titelbild

Christoph Hein: Glückskind mit Vater. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
527 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425176

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