Subversive Volten mit viel Charme

Jean Echenoz kommt in „Die Caprice der Königin“ mit noch weniger Seiten aus

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Meines Erachtens heißt schreiben und mitteilen: fähig sein, jedem beliebigen Menschen jede beliebige Sache glaubhaft zu machen.“ Dass Jean Echenoz die von seinem Schriftstellerkollegen J.M.G. Le Clézio so beschriebene Kunst der Glaubhaftmachung beherrscht, hat er bereits in einer Reihe von Romanen unter Beweis gestellt, deren Plots sich oft jenseits aller Wahrscheinlichkeit abspielen. Für die Poetik Echenozʼ ist charakteristisch, dass ständig Lesererwartungen, die sich mit Genrecodes verbinden, unterlaufen werden, da die Erzählgenres unter der Hand wechseln zwischen Liebes-, Abenteuer- und Kriminalroman. Große Beachtung fand beim deutschen Lesepublikum zuletzt sein Kurzroman „14“, der auf knapp 120 Seiten erzählt, wie ein junger Franzose in den Ersten Weltkrieg zieht, dessen Schrecken durchlebt und zuletzt wieder wohlbehalten in den bürgerlichen Alltag zurückkehrt. Der Autor schafft es durch detailreiche, sprachlich meist originelle Schilderungen, raffendes Erzählen sowie den Verzicht auf breites Psychologisieren, schlaglichtartig viel Welt einzufangen; sein Buch ist dabei angesichts dieses Stoffes verblüffend schmal.

Dieses Maß wird nun in der vorliegenden, im französischen Original 2014 erschienenen Sammlung von sieben kürzeren Erzählungen – die kürzeste umfasst knapp sieben Seiten, die längste 35 Seiten – noch unterboten. Es sind Gelegenheitstexte, darunter auch ein Beitrag zu einem CD-Booklet, die verstreut in Zeitschriften in den Jahren 2006 bis 2014 publiziert wurden. Auch in diesen Erzählungen sind die Hauptfiguren wie in Echenozʼ Romanen ständig in Bewegung, sei es, dass sie in den USA unterwegs sind, sich in einem U-Boot befinden oder in Paris mit der U-Bahn fahren. Der Autor führt sein poetologisches Programm, die „Subversion des Romans durch seine sanfte Destabilisierung“ (Klappentext zu „14“) in einem kürzeren Erzählformat konsequent fort.

Wo einmal äußerer Stillstand herrscht, wie in der Titelgeschichte „Die Caprice der Königin“, sorgt ein unerwarteter Perspektivwechsel für erzählerische Dynamik. Die detaillierte Schilderung einer französischen Landschaft in einem 360-Grad-Rundumblick wird konterkariert durch einen überraschenden Schwenk zum Mikrokosmos zu Füßen des schildernden Ich-Erzählers.

Eine doppelbödige Schilderung und zugleich eine Zeitreise ist auch die Erzählung „In Babylon“, wo sich der Ich-Erzähler scheinbar in Herodots Reisebericht über die antike Stadt hineindenkt, um sich ein Bild davon zu machen. Unversehens aber wird die Zuverlässigkeit des historischen Zeugen durch Kommentare quellenkritisch in Zweifel gezogen und die Schilderung dekonstruiert sich selbst – eine subversive Relektüre einer antiken Quelle gleichsam, die spielerisch im Plauderton auf 15 Seiten daherkommt.

An das ‚urdeutsche‘ Genre der Kalendergeschichte wiederum gemahnt die Kurzerzählung „Nelson“, die in der spezifischen Verknüpfung von exemplarischem Fall und Weltgeschichte einem Johann Peter Hebel alle Ehre gemacht hätte. Was zunächst wie eine erweiterte Anekdote über den britischen Kriegshelden Admiral Nelson in seinen letzten Jahren beginnt, verdichtet sich durch eine kühne erzählerische Volte zu einem Miniaturporträt, das den Tod des Admirals in der Seeschlacht von Trafalgar pointenhaft-ironisch in ein neues Licht rückt.

Eine verkappte Novelle hingegen ist der Text „Hoch- und Tiefbau“, der umfangreichste der Sammlung und einer der gelungensten. Darin dient ein detailreich entfalteter Stoff – die Geschichte des Brückenbaus, die an sich wenig narratives Potenzial hat – dazu, die erzählerische Konstruktion zu camouflieren und gleichzeitig die novellistische Schlusspointe zu motivieren. Oder die geheimnisvolle Überführung einer attraktiven Frau in einem Taucheranzug, deren Name auf einen James-Bond-Film anspielt, in einem U-Boot wird in der Erzählung „Nitrox“ durch abrupten Wechsel der Erzählsituation rückwirkend zum Auftakt einer erotischen Männerfantasie.

Jean Echenoz erzählt stets im traditionellen Rahmen, oft sogar betont auktorial, ohne einer experimentell-modernistischen Poetik zu folgen, unterläuft aber durch eine subtil-subversive Handhabung der Erzählfaktoren wie Perspektive, Tempo- und Raumgestaltung die gewohnten Muster der Kurzgeschichte. Von keinem Erzählgenre ist er so weit entfernt wie von der angloamerikanischen Short story. Ja, er macht uns eigentlich bewusst, wie sehr gerade auch im deutschsprachigen Raum, von ein paar Ausnahmen einmal abgesehen (man denke etwa an Franz Hohler), die Short story längst zum Normmodell für die kürzere Erzählform geworden ist. Als ein Remedium gegen diese Monokultur ist der Erzähler Echenoz mit seinen so charmanten wie unterhaltsamen Kurztexten unbedingt zu empfehlen.

Titelbild

Jean Echenoz: Die Caprice der Königin.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
144 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446250727

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch