Üben, das Leben auszuhalten

Judith Hermanns Erzählungen „Lettipark“

Von Juliane WitzkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Witzke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Judith Hermanns neuer Erzählband versammelt siebzehn Erzählungen, die einander sehr ähneln und ein Gefühl der Irritation auslösen. In der ersten Erzählung mit dem Titel Kohlen wird eine für die Gegenwart ungewöhnliche Tätigkeit – das Schippen von sieben Tonnen Kohlen in einen Stall, um für eisige Winter gerüstet zu sein – beschrieben und damit gleich eingangs verdeutlicht, dass hier das Altmodische kultiviert wird und ein Rückbezug auf vergangene Zeiten stattfindet. Es lässt sich dabei kein klar umrissener Handlungszeitpunkt feststellen; die Erzählung wirkt eher wie aus der Zeit gelöst. Und auch in der für den Erzählband titelgebenden Erzählung Lettipark wird eine winterliche Fotografie des Parks beschrieben, auf dem dieser verschneit, verlassen und trostlos dargestellt wird. So ist zu lesen: „In Page Shakuskys Buch für Elena war der Park schwarz und weiß und menschenleer gewesen. Ein Zwischenreich. Eine schwebende, sphärische Welt. Zwischen den Bäumen ungewisse Schatten und Zeichen auf den Wegen, die man nicht lesen konnte.“ Dies kontrastiert mit der Gestaltung des Umschlags, der weder winterlich noch zivilisationslos erscheint, passt aber zur Grundstimmung des Buches. So handelt es sich hierbei um eine Wartesaalstimmung in einem Zwischenreich. Aber auf was wird gewartet? Oder wofür arbeitet man? Antworten auf diese Fragen werden nicht gegeben; vielmehr zeigt sich eine große Ratlosigkeit der Akteure, die aus verschiedenen Milieus wie dem Circus, dem Theater, der Psychiatrie stammen und zum Beispiel an der Supermarktkasse oder in Wohngemeinschaften aufeinander treffen. Spielen einzelne Erzählungen an explizit angegebenen Orten wie Nantucket und Odessa, so sind die überwiegenden doch ortlos, und ihr Schauplatz kann überall sein.

All diese Protagonisten eint, dass sie in ihrem bisherigen Leben schon Opfer bringen mussten – wie der Junge in Fetisch, der eine Fotografie im Feuer verbrennt oder wie Ricco aus der Erzählung Rückkehr, der sich immer wieder selbst neues Leid zufügt, seit er dabei zusehen musste, wie sich sein Vater vor vielen Jahren beim Experimentieren in die Luft gesprengt hat. Diejenigen, die bisher wenig Leid erfuhren, werden zukünftig mit Veränderungen konfrontiert werden und wissen es möglicherweise selbst nur noch nicht. So werden sie beispielsweise Abschiede erleben und erkennen, dass nichts beständig ist, wie die gescheiterten Beziehungen in Zeugen und Pappelpollen vorführen: „Ivo und ich waren in unserer ersten Ehe, und wir hatten eine Tochter, Ida, ich würde keine Kinder mehr bekommen. Ivo schon. Ivo möglicherweise schon, manchmal stelle ich ihn mir vor in einem neuen Entwurf – noch einmal alles von vorne, andere Frau, anderes Haus, neues Kind, ein Garten mit Kirschbäumen und Flieder und im Küchenschrank Porzellan, das zueinanderpasst. Und ich war mir sicher, ich würde ihn nicht wiedererkennen. Ich würde Ivo in seinem neuen Leben nicht wiedererkennen, er wäre ein anderer, ich weiß, dass das möglich ist, dass wir so sind.“

Häufig werden Spuren des Alterns der Personen sichtbar, und dies geht damit einher, dass mit zeitlichem Abstand auf Freundschaften geschaut und dabei ein Ungleichgewicht in Beziehungen erkannt wird. So können ehemalig sehr vertraute Freundinnen, die sich nach längerer Zeit wieder begegnen – wie in Solaris oder Inseln dargestellt – nicht mehr zueinander finden, wobei die Erinnerung verwischt, wann die Entfremdung denn eigentlich ihren Anfang nahm. Dieser Abkühlung wird mit Wärme, aber auch mit Resignation begegnet. Oft sind die agierenden Frauen Mütter, erziehen ihre Kinder allein, und Männer spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Durch detaillierte Beschreibungen – so zum Beispiel eines wohlsituierten Kindergeburtstages mit einem nigerianischem Au-pair-Mädchen, einer riesigen Wohnung mit Parkettfußboden, Blumenvasen, Geschenken, Bowle, Sekt und diversen Kuchen – imaginieren die Erzählungen eine starke Bildlichkeit. Dabei handelt es sich um mehr als eine Reihung von beliebigen Gegenständen; vielmehr wirkt alles sehr komponiert.

Der Akzent dieser kurzen Geschichten – durchschnittlich handelt es sich um eine Länge von zwölf Seiten – liegt jeweils auf dem Ende. Meist im letzten Absatz erfolgen rätselhafte, sehr kurze Andeutungen zu Wendepunkten. Die Enden bleiben dabei offen und erfordern vom Leser eine große Bereitschaft zum Weiterdenken, damit dieser überhaupt einen Nachhall verspürt.

Der Ton ähnelt dem der früheren drei Erzählbände Hermanns – Sommerhaus, später (1998), Nichts als Gespenster (2003), Alice (2009) – sowie ihrem Roman Aller Liebe Anfang (2014). Wiederholungen sorgen für Nachdruck der Worte, erläutern einzelne Begriffe ausführlicher oder bewirken eine Betonung des Mündlichen: „[…] dann reden wir miteinander, als wenn nichts gewesen wäre. Als wenn fast nichts gewesen wäre.“ Es finden sich auch wieder sehr poetische Bilder wie die Erkenntnis, dass es genügen kann, ein Gesicht im Traum eines anderen gewesen zu sein, oder es möglich ist, sich aus Liebe in sich selber einzuschließen. Neuartig für die Autorin ist eine vereinzelt genutzte derbe Wortwahl, welche die weiblichen Protagonistinnen weniger fragil als in früheren Werken erscheinen lässt und dafür mit mehr Grobheit ausstattet.

Resümierend bleibt anzumerken, dass Judith Hermanns aktueller Erzählband thematisch an andere Neuerscheinungen bei Fischer im Frühjahr dieses Jahres – wie Peter Stamms Weit über das Land oder Thomas Glavinics Der Jonas-Komplex – anschließt. Zukunftsangst und Verlorenheit werden in diesen Romanen – zum Teil evoziert durch die Form – nicht nur in kurzen Momenten eingefangen, sondern vielschichtig und reizvoll dargestellt. Eine Gemeinsamkeit dieser Gegenwartsprosa besteht aber darin, dass all diese Protagonisten üben, das Leben auszuhalten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Judith Hermann: Lettipark. Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
187 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024930

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