Edieren im 21. Jahrhundert

Thomas Bein erstellt eine Bestandsaufnahme moderner deutschsprachiger Editorik und ihrer Bedeutung für die Erforschung der Literatur- und Kulturgeschichte

Von Nina HahneRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Hahne

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In kaum einem literaturwissenschaftlichen Betätigungsfeld sind die Möglichkeiten der digitalen Textpräsentation so vielversprechend wie in demjenigen der Editorik. Gedruckte und digitale Editionen können einander ergänzen oder in Frage stellen, ihre HerausgeberInnen müssen die Grenzen der technischen Umsetzbarkeit ausloten und dabei einen – nicht selten kontroversen – Dialog über Fächergrenzen hinweg führen.

Der vorliegende Band bietet eine Bestandsaufnahme der aktuellen deutschsprachigen Editorik. Er entstand im Anschluss an die 15. Internationale Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, die im Februar 2014 an der RWTH Aachen stattfand. Die 30 darin enthaltenen Beiträge verfolgen im Grunde zwei zentrale Ziele: Zum einen werden Verfahren und Standards des modernen Edierens vorgestellt und diskutiert, wobei gedruckte und digitale Editionen in gleichem Maße Berücksichtigung finden; zum anderen werden diese Verfahren aus der Nutzerperspektive betrachtet und die Vor- und Nachteile bestimmter Präsentationsformen für WissenschaftlerInnen, Studierende und allgemein literarisch Interessierte erörtert. Dabei reicht das Spektrum von grundsätzlichen Betrachtungen und historischen Überblicksdarstellungen bis hin zur Vorstellung aktuell laufender oder bereits abgeschlossener Editionsprojekte.

Besonders die detaillierten Berichte über einzelne Editionsprojekte liefern wertvolle Einsichten in die gegenwärtigen Fragestellungen editorischen Arbeitens. Aufgrund der guten Verständlichkeit der Ausführungen sowie der reichhaltigen bibliografischen Angaben eignet sich der Band nicht nur zur spezialwissenschaftlichen Benutzung, sondern kann auch (mit) dazu dienen, sich einen ersten Überblick über wichtige Prinzipien der Editorik zu verschaffen.

Schon eine erste Lektüre ausgewählter Beiträge macht deutlich, dass jede einzelne Entscheidung zum Editionsprozess unmittelbare Auswirkungen auf die Größe und Zusammensetzung des Nutzerkreises und damit auf künftige Forschungsergebnisse haben wird. Zu diesen Entscheidungen gehören beispielsweise folgende: Soll die Edition ausschließlich online oder als reine Printausgabe erscheinen? Soll eine digitale Edition alle üblichen wissenschaftlichen Standards der Printedition erfüllen? Soll sie darüberhinausgehende Funktionen, beispielsweise zusätzliche Suchoptionen, bieten? Wie ließen sich die Vorteile des gedruckten Buches mit denen einer digitalen Aufbereitung sinnvoll verbinden? Diese Fragen rücken die Bestimmung des hypothetischen Nutzers zwangsläufig ins Zentrum der Überlegungen und machen es unmöglich, die Edition ausschließlich als einen aus persönlicher Vorliebe motivierten Selbstzweck oder als Demonstration philologischer Akribie zu betrachten.

So stellt zum Beispiel Claudia Bamberg in ihrem Beitrag „‚Schreiben Sie mir ja über alles‘. Wozu eine digitale Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels?“ fest, dass eine digitale Edition grundsätzlich das Potenzial habe, größere Nutzerkreise zu mobilisieren, als eine Druckversion, wenn sie entsprechende Suchoptionen wie „Volltext- oder Registersuche“, „erweiterte oder […] facettierte Suche“ oder idealerweise sogar eine „gezielte semantische Erschließung“ anbiete. Dabei dürfe die Suchoption jedoch niemals dahingehend missverstanden werden, dass sie eine gründliche Textlektüre ersetzen könne. Die derzeit in Arbeit befindliche digitale Edition der Briefkorrespondenz A. W. Schlegels gestatte zudem den direkten Vergleich von Original und Transkript und sei in besonderem Maße dazu geeignet, die ca. 5000 Schreiben der Korrespondenz übersichtlich zu strukturieren.

Helmut W. Klug und Karin Kranich präsentieren das Projekt einer Neuedition des mittelalterlichen Tegernseer Wirtschafts- und Fischereibuches im Bereich der Fachprosaforschung. Die Neuedition wird vom Universitätsverein KuliMa – Kulinarisches Mittelalter an der Universität Graz bestritten, der sich aus Universitätsangehörigen und externen Mitgliedern zusammensetzt. Nach einer Vorstellung der Arbeitsorganisation und der verwendeten Online-Arbeitsumgebung TextGrid diskutieren die Verfasser ausführlich Anforderungen an eine zeitgemäße Edition. Diese solle zum Zwecke des Textvergleiches beispielsweise grundsätzlich Faksimile-Abbildungen des edierten Textes anbieten, was in einer elektronischen Version wesentlich einfacher zu leisten sei. Eine digitale Edition müsse grundsätzlich einen kritischen Apparat aufweisen, der „von überall innerhalb der Edition zugänglich“ sei. Die Verfasser gehen sogar so weit, die gedruckte Edition als Beitrag zur Kochbuchforschung sowohl für wissenschaftliche Zwecke als auch für die Gewinnung größerer Leserkreise als „längst überholt“ zu bezeichnen. Die ideale Umgebung für derartige digitale Editionsprojekte sei vielmehr eine „interdisziplinäre Forschungsplattform“.

Dörte Meeßen widmet sich aus mediävistischer Sicht der Frage, in welchem Ausmaß Fassungseditionen in literaturwissenschaftlichen Bachelorstudiengängen verwendet werden können, ohne die Studierenden im Grundstudium zu überfordern („Hochschuldidaktische Perspektiven auf den Einsatz von Fassungseditionen in Bachelorstudiengängen“). Meeßen gelangt zu der Feststellung, dass Studierenden über die frühzeitige Verwendung von Fassungseditionen „die Entwicklung eines differenzierten Textbegriffs“ ermöglicht werden könne. Um dieses Lernziel zu gewährleisten, müssten im Hinblick auf mittelalterliche Texte neben „Fragestellungen der Überlieferung“ auch die Themen „Medialität, Medienwechsel und Prozesse der Rezeption mittelalterlicher Dichtung […] zwischen Schrift […] und mündlicher Volkssprache […], zwischen Materialität […] und Vortrag“ in die Lehrveranstaltung mit einbezogen werden. Die ambitionierten Ausführungen über die Gestaltung von Einführungsveranstaltungen, die Meeßen mit zahlreichen konkreten Beispielen unterstützt, lassen allerdings die Frage zumindest nachklingen, ob hier nicht Kenntnisse simultan vermittelt werden sollen, die lernpsychologisch nur aufeinander aufbauend langfristig begriffen werden können.

Rüdiger Nutt-Kofoth ist empirisch der spannenden Frage nachgegangen, ob und in welchem Umfang historisch-kritische Editionen in der Neugermanistik eigentlich tatsächlich verwendet werden („Wie werden neugermanistische [historisch-]kritische Editionen für die literaturwissenschaftliche Interpretation genutzt? Versuch einer Annäherung aufgrund einer Auswertung germanistischer Periodika“). Zunächst stellt Nutt-Kofoth fest, dass sich Edierende seit jeher über die falsche oder ausbleibende Nutzung ihrer Editionen beklagt hätten. Auf der Basis dreier germanistischer Zeitschriften – der Zeitschrift für deutsche Philologie, des Euphorion und der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte – hat er die dokumentierte Verwendung historisch-kritischer Ausgaben in den Jahrgängen 2000 bis 2013 erhoben und zugleich nachgewiesen, wie oft diese Ausgaben nicht verwendet wurden, obgleich sie verfügbar gewesen wären. Nutt-Kofoth gelangt zu dem Ergebnis, dass in insgesamt 59% der möglichen Fälle die historisch-kritische Ausgabe nicht verwendet worden sei, während sie in 41% der Fälle herangezogen wurde. Dieser Umstand veranlasst Nutt-Kofoth zu der Feststellung: „Ein Standard, der über weite Strecken nicht eingehalten wird, ist nur ein vermeintlicher, also keiner.“ Allerdings lässt sich gegen seine verdienstvolle Auswertung zumindest einwenden, dass die Tatsache, dass eine historisch-kritische Ausgabe in einem Beitrag nicht bibliografisch vermerkt ist, nicht unbedingt bedeuten muss, dass diese Ausgabe grundsätzlich nicht konsultiert wurde. Interessant wäre es hier, Genaueres darüber zu erfahren, warum im Einzelfall mit der betreffenden Ausgabe nicht gearbeitet wurde.

Dieser kurze Überblick über vier Beiträge vermittelt einen Eindruck von der inhaltlichen Bandbreite des gesamten Bandes. Weitere Perspektiven werden beispielsweise von Bodo Plachta eröffnet, der einen historischen Überblick über die Entwicklung von Editionsreihen liefert („Editionsreihen – Konzepte und Ziele einer Editionsform des 19. Jahrhunderts“). Plachta zeichnet nach, welche sozialgeschichtliche Bedeutung diese Editionsreihen für die Förderung der Allgemeinbildung, das bürgerliche Repräsentationsstreben und die damit verbundene Kanonisierung von „Klassikern“ hatten. Gabriele Radecke, Heike Neuroth, Martin de la Iglesia und Mathias Göbel dokumentieren im Detail den Arbeitsprozess der Entstehung einer genetisch-kritischen Hybrid-Edition („Vom Nutzen digitaler Editionen. Die Genetisch-kritische Hybridedition von Theodor Fontanes Notizbüchern erstellt mit der Virtuellen Forschungsumgebung TextGrid“). Winfried Woesler stellt zwei von Studierenden erstellte und bereits veröffentlichte deutsch-chinesische Editionen vor („Deutsch-chinesisch: Zweisprachige Editionen von Studierenden“). Bearbeitet wurden Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen und Johann Wolfgang Goethes Iphigenie auf Tauris. Ziel des Projektes war es, die zweisprachige Edition als interkulturellen Brückenschlag in der Lehre zu etablieren. Der den Tagungsband abschließende Roundtable wiederum diskutiert die sehr grundlegende editorische Thematik „Normalisierung und Modernisierung der historischen Graphie“ und berücksichtigt dabei die unterschiedlichen Sprachstufen seit dem Mittelhochdeutschen.

In den meisten Fällen löst der Tagungsband seine selbstgestellte Aufgabe einer Ausrichtung auf den literatur- und kulturgeschichtlichen Nutzen des Edierens ein. Dennoch liegt sein Schwerpunkt eindeutig auf der Beschreibung einer im Umbruch befindlichen Editionslandschaft. Anzumerken bleibt abschließend, dass – wie sich beispielsweise am Heidelberger Forum Edition oder am Magazin für digitale Editionswissenschaften ersehen lässt – auch eine Übertragung der editionswissenschaftlichen Diskussionen selbst in den digitalen Raum inzwischen begonnen hat.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Thomas Bein (Hg.): Vom Nutzen der Editionen. Zur Bedeutung moderner Editorik für die Erforschung von Literatur- und Kulturgeschichte.
Beihefte zu Editio Bd. 39.
De Gruyter, Berlin 2015.
460 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110400670

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