Desorientierung im Raum und Subjektverlust

Matthias Hennig untersucht Labyrinthe in der Literatur des 20. Jahrhunderts

Von Kaspar H. SpinnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kaspar H. Spinner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einigen Jahren erscheinen auffallend viele Publikationen zu Orts- und Raumkonzepten in der Literatur; und auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen ist der Raum zu einem privilegierten Forschungsgegenstand geworden. Matthias Hennig hat nun eine Studie über Labyrinthe in der neueren Erzählliteratur vorgelegt. Es ist sofort einleuchtend, dass Labyrinthe für Raumuntersuchungen besonders interessant sind. Entsprechend wird auf sie in der Literaturwissenschaft auch immer wieder verwiesen, und es gibt auch viele Beiträge, die sich speziell dem Labyrinth in literarischen Texten widmen, wobei oft die Tradition des griechischen Labyrinth-Mythos im Vordergrund steht. Für die Studie von Hennig ist kennzeichnend, dass er von der konkreten Beschaffenheit der labyrinthischen Räume in den Texten ausgeht und für seine Untersuchung entsprechend narrative Texte ausgewählt hat, in denen Labyrinthe zentrales Thema sind und nicht nur als Metapher erscheinen. Insofern schließt Hennigs Studie an die neuere literaturwissenschaftliche Raumforschung an; es geht ihm, wie er es formuliert, um die „Ästhetik des Raums“.

Er gliedert seine Studie nach fünf Labyrinthmodellen, nämlich den Stadt-, Bibliotheks-, Spiegel-, Höhlen- und Wüstenlabyrinthen. Das sind nicht Labyrinthe in ihrer tradierten Urform wie das von Daidalos gebaute Labyrinth, sondern sehr unterschiedliche imaginierte Räume, die aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften eine labyrinthische, verstörende Wirkung auf Menschen ausüben. Deshalb heißt der Titel von Hennigs Studie Das andere Labyrinth; sie bezieht sich auf Räume, die im Vergleich zur Tradition des Labyrinths, z. B. zum barocken Irrgarten, der ein Zentrum hat, in radikalisierter Form Gegen-Orte darstellen zu den vertrauten Räumen, in denen wir uns bewegen. Ausgewählt hat Hennig erzählende Texte des 20. Jahrhunderts, von Robbe-Grillet, Butor, Lovecraft, Dürrenmatt, Schirmbeck, Barth, Borges, Eco, Saramago, Durrell, Lem, Dibs und Olliers. Eine topographische Beschreibung der erzählten labyrinthischen Räume bildet die Grundlage, auf der Hennig dann nach der symbolischen Bedeutung fragt. Dass auch Wüstenlabyrinthe eine Kategorie bilden, mag überraschen. Die unendlich erscheinenden, oft flachen Sand- und Steinwüsten scheinen auf den ersten Blick gar nicht labyrinthisch zu sein. Aber in den Texten, die Hennig untersucht, erfahren die Figuren auch die Wüste als Labyrinth, weil die Entgrenzung und Strukturlosigkeit die Erfahrung von Desorientierung hervorruft. Auch die Sanddünen in der Wüste, die einander gleichen und deshalb keine unterscheidende Orientierung bieten, unterstützen diese Wirkung. Hennig erkennt zwei Grundmodelle von Labyrinthen; das eine, wie die Wüste oder auch eine Schneelandschaft, die keine Orientierung bieten, ist durch Endlosigkeit charakterisiert, das andere, an das man beim Begriff Labyrinth zunächst denkt, durch Verwinkelung und hypertrophe Architektur und ist entsprechend meist vom Menschen geschaffen.

Man kann das Vorgehen Hennigs als phänomenologisch bezeichnen. Das fordert vom Leser eine gewisse Geduld beim Lesen, weil Hennig recht ausführlich, Wiederholungen nicht scheuend, auf die literarischen Texte beschreibend eingeht. Aber sein Vorgehen vermittelt zugleich einen intensiven Eindruck von der Raumgestaltung in den Texten und schafft so für den Leser der Studie eine Nähe zur ästhetischen Imagination. Das ist auch der gut verständlichen Ausdrucksweise Hennigs geschuldet, in der sich Anschaulichkeit und klare abstrahierende Begrifflichkeit verbinden. Typisch für Hennigs Vorgehen ist, dass sich die beschreibenden Aussagen oft nicht nur auf die exakte Textbedeutung beziehen, sondern diese auch imaginativ erweitern: Der Satz „Entonces imploró socorro divino“ in Borges’ Los dos reyes y los dos laberintos wird bei Hennig zum „inständige[n] Flehen“ und der Satz „Luego le desató las ligaduras y lo abandonó en mitad del desierto, donde murió de hambre y de sed“ führt bei Hennig zur Aussage, dass „alle Hilferufe des Königs von Babylon von der raumgreifenden Stille und Leere der Wüste verschluckt“ werden. Es ist der Gesamtzusammenhang von Borges’ Parabel, die beim Leser die Imagination von Hilferufen, die von der Stille und Leere der Wüste verschluckt werden, hervorruft. Den Gegenpol zu solchen mehr beschreibenden Ausführungen, die vorstellungsbildend auf den Leser der Studie wirken, sind die abstrahierenden Interpretationsaussagen, die oft in dialektische Formulierungen gefasst sind wie „labyrinthische Bewegungslosigkeit der Bewegung“, „Hyperkohärenz schlägt in Inkohärenz um“ oder „Experimentalsituationen […], in denen der Raum limitiert und delimitiert zugleich wird“. Solche Begrifflichkeit ist bei einer Studie zu Labyrinthen, in denen sich Gewohntes in Ungewohntes, Verstörendes verkehrt, nicht verwunderlich, und wenn die Formulierungen trotz der stringenten Herleitung einen gewissen Irritationseffekt für den Leser ausüben, kann man nur sagen: Einfache, undialektische Formulierungen können dem Phänomen des Labyrinthischen nicht gerecht werden. Etwas unzuverlässig sind in Hennigs Studie die Zitate; sie müssten für eine zweite Auflage überprüft werden. In einem zitierten Satz aus Robbe-Grillets Dans le labyrinthe findet man z.B. gleich drei Fehler: „continue à parler“ statt „continue de parler“, „s’arrêtant à chaque pas“ statt „s’arrêtant presque à chaque pas“ und „repartir une direction différente“ statt „repartir dans une direction différente“.

Nun ist Hennigs Studie allerdings nicht nur eine erhellende, interpretierende Darstellung der labyrinthischen Räume in den ausgewählten Texten, sondern eröffnet auch darüber hinausgehende Perspektiven. Dazu gehören die historischen Bezüge, z. B. auf den Minotaurus-Mythos und die barocken Irrgärten. Besonders interessant ist aber, wie Hennig die Wirkung der Labyrinthe auf die Figuren herausarbeitet. Er zeigt, wie die Labyrinthe zu Desorientierung, Wirklichkeitsentzug und letztlich zum Selbstverlust der Figuren führen. Hier ergeben sich Bezüge zur Psychologie und Philosophie, die Hennig auch explizit herstellt, u. a. mit entsprechenden Anmerkungen und Literaturverweisen. Für die Zusammenhänge, die Hennig dabei herausarbeitet, spielt der Aspekt der Leiblichkeit eine wichtige Rolle: Orientierung im Raum bedeutet für ein Subjekt, dass es sich körperlich in einen Bezug zum Raum setzen kann. Desorientierung durch Labyrinthe wirkt sich deshalb störend auf das Körpergefühl aus und irritiert dadurch das Selbstbewusstsein. Sowohl die Entgrenzung endloser als auch die Beengtheit verschachtelter, verstellter Räume kann diese Wirkung hervorrufen. Durch solche Fragestellungen wird die Studie von Hennig interessant für grundlegende Aspekte interdisziplinärer Raumtheorie. Das gilt auch für den Zusammenhang von Raum und Zeit, der in der labyrinthischen Raum-Erfahrung eine Rolle spielt und der von Hennig nachdrücklich an den literarischen Beispielen herausgearbeitet wird. Labyrinthe, die das Erreichen eines Zieles zur Illusion machen, in denen das Fortschreiten nicht mehr in neue Räume führt, sondern im Immergleichen verbleibt, irritieren das Zeitgefühl. Bewegung im Raum ist Voraussetzung für Zeit-Erfahrung; wenn kein Voranschreiten mehr stattfindet, schwindet das Zeitgefühl und zerfällt das Ich-Bewusstsein. Diese Dissoziation von Raum und Ich kann dann auch eine irrealisierende Wirkung auslösen, durch die das Ich auf seine Fantasien zurückgeworfen wird und einem Wirklichkeitsverlust unterliegt. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hennigs Studie nicht nur ausgesprochen erhellende Analysen und Deutungen der untersuchten Texte bietet, sondern auch ein bemerkenswerter Beitrag für grundlegende literaturtheoretische Fragen zur Raumanalyse darstellt. Hennigs Formulierung einer „Raumgeschichte als Subjektgeschichte“ bezeichnet diese weiter ausgreifende Perspektive seiner Studie.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Matthias Hennig: Das andere Labyrinth. Imaginäre Räume in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
292 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770559749

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