Wendepunkt Stalingrad

Heinrich Gerlachs wiedergefundener Roman „Durchbruch bei Stalingrad“ erzählt vom Entsetzen und Verstehen in Stalingrad – und ist zudem ein Dokument der Zeitgeschichte

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Berliner Galliani ist die voluminöse Edition von Heinrich Gerlachs Roman „Durchbruch bei Stalingrad“ erschienen. Sie enthält neben dem mehr als 500 Seiten starken Roman auch ein umfangreiches, fast 200 Seiten zählendes Nachwort, in dem der Herausgeber, der Gießener Literaturwissenschaftler Carsten Gansel, die Geschichte von Gerlachs Text erzählt. Und die ist romanwürdig spannend. Denn Gerlach schrieb den Roman über den Untergang der 6. Armee in Stalingrad in sowjetischer Gefangenschaft. Der Autor hatte das Stalingrad-Drama überlebt und war als Offizier der Wehrmacht von den Sowjets in Gefangenschaft genommen worden. Dort gehörte er zu den Mitgründern des Bundes Deutscher Offiziere, zu dem sich im September 1943 im Gefangenenlager Lunjowo bei Moskau Wehrmachtsoffiziere gegen den verbrecherischen Krieg Hitlers zusammengefunden hatten. Der Bund ging bald nach seiner Gründung im Nationalkommitee Freies Deutschland auf, blieb aber als eigenständige Organisation erhalten. Viele der in beiden Organisationen aktiven Militärs waren von den Sowjets für Funktionen in einem neu zu gestaltenden Nachkriegsdeutschland ausersehen. Auch Gerlach sollte Aufgaben im Geheimdienst übernehmen. In der Zwischenzeit hatte er aber seinen Roman über die Ereignisse in Stalingrad fertiggestellt. Gansel konnte durch Recherchen in ehemaligen sowjetischen Archiven nicht nur das Originalmanuskript auffinden, sondern auch nachweisen, dass die Sowjets dasselbe einbehalten hatten, um Druck auf Gerlach ausüben zu können, der die geheimdienstliche Tätigkeit für sie abgelehnt hatte. Als er dann 1950 aus der Gefangenschaft entlassen wurde, ging er denn auch zügig – ohne seinen Roman – in den Westen.

Gerlach plante nun eine Neufassung seines Romans. Dafür wollte er das Original so weit wie möglich rekonstruieren. Mit Hilfe eines Hypnotiseurs versuchte er seine Erinnerungen verfügbar zu machen. Eine spektakuläre Spurensuche, die von einer Illustrierten gesponsert und vermarktet wurde. Mit Erfolg, wie es schien: 1957 wurde „Die verratene Armee“ veröffentlicht.

Doch im Vergleich mit dem nun wieder aufgefundenen Originalmanuskript, so erläutert Gansel an Textbeispielen in seinem Nachwort, unterscheidet sich der ‚neue‘ Roman markant von seinem Ursprung. Denn in der Bundesrepublik hatte sich inzwischen gewissermaßen als Nebenprodukt der allgemeinen Verdrängung der NS-Zeit auch eine gewisse Landser-Idealisierung in der Erinnerung an den Krieg durchgesetzt: Alles sehr schlimm, das mit den Nazis, aber die Wehrmacht, ihre Offiziere und die Soldaten, sie hätten sich bis zuletzt ehrenvoll im Kampf bewährt. Die Führung dagegen, und gemeint war vor allem Adolf Hitler, hätte die tapfer und anständig kämpfende Armee verraten. So wie in Stalingrad. Im Buchtitel ließ Gerlachs Roman diese Sicht der Dinge für die Zeitgenossen deutlich anklingen.

Zeit nun, den Originalroman zu lesen: „Durchbruch bei Stalingrad“. Denn der hat nur wenig zu tun mit den tendenziell entpolitisierten aber umso mehr idealisierten Landser-Opfer-Tragödien der 1950er Jahre. Zu diesen gehörte eine wissend-kommentierende Distanz der erzählerischen Instanz, die selbst dann noch zu spüren war, wenn die „harte Schreibweise“ unmittelbar in das kriegerische Grauen hineinführte. Doch blieb das Schreckliche, das den Zeitgenossen ja noch sehr nah war, vermittelt, wurde so erträglicher, weil, wissend und tröstend zugleich, der Erzähler entlastend kommentierte. Markant lassen sich diese Entlastungssehnsüchte auch in der Rezeption der Luftkriegsliteratur nachweisen.

In „Durchbruch bei Stalingrad“ lässt der Erzähler aber jene unmittelbare, schwer auszuhaltende Authentizität entstehen, die die grausame Realität bezeugte, statt sie zu kommentieren. Das ‚funktioniert‘ bis heute auch deshalb so überzeugend, weil der Erzähler, statt sich wissend von den Ereignissen zu entfernen, im wahrsten Sinne des Wortes den Ereignissen und Menschen in seinem Roman sehr nahe ist. Er ist selbst Teil des brutalen und grausamen Geschehens, das in der „harten Schreibweise“ ungeschminkt dargestellt wird. Alles spricht für sich und nichts muss von einem wissenden Erzähler kommentiert werden. Wohl auch deshalb wurde diese Erzählweise später in der DDR von den Hütern des wahren und einzigen Sozialismus mit dem Vorwurf des unkritischen Naturalismus versehen: der Erzähler habe den ‚richtigen Standpunkt‘ nicht eingenommen. Ein unsinniger Vorwurf, wie man bereits nach den ersten Zeilen dieses Roman erkennt. Gerlach erzählt aus der Situation heraus: chronologisch. Zeitraum sind die Wochen im Winter 1942 bis zur endgültigen Kapitulation im Februar 1943. In dieser Zeit verschärft sich die Lage der deutschen Soldaten bis hin zur Katastrophe. Mit unbarmherziger Konsequenz schildert Gerlach, wie die Soldaten erfrieren, verhungern, von Kugeln zerschossen, von Granaten zerfetzt, oder von Panzerketten zermalmt werden.

Aber wichtiger noch als solche äußerlichen Grausamkeiten sind die Einblick in die zerstörten inneren Seelenlandschaften der Soldaten. Und dazu trägt nicht nur die verzweifelte Lage im Kessel von Stalingrad bei, sondern auch die Einsicht in den verbrecherischen Charakter dieses Krieges. Eine schwer lastende unabwendbare Einsicht, der auch der Oberleutnant Breuer, eine Art Alter Ego des Autors, nicht mehr entkommen kann. Eine gewaltige Verunsicherung entsteht mit dieser Einsicht, die Männer verlieren ihre Orientierung und es ist ausgerechnet der einfache Soldat, der Fahrer Lakosch, der den Mut aufbringt und endlich eigenständig handelt, indem er zu den Russen überläuft – um Leben zu retten, wie er sagt. Er befreite sich durch diesen in den Augen der meisten seiner ‚Kameraden‘ dennoch unerhörten Schritt. Die anderen erwarten ihr Schicksal: erschöpft, ergeben, apathisch, todgeweiht, oder starrsinnig-verblendet des Führers geniale Rettungsidee erwartend. In einem Bunker erwarten die Offiziere die herankommenden sowjetischen Soldaten. Einmal noch heben sie den Arm zum Führergruß und brüllen verzweifelt-sarkastisch „Heiiiiiil Hitler! … Heiiiiiil Hitler!“ in die Kälte. „Es ist nicht Spott, nicht Hohn, es ist eine kalte, klare, furchtbare Abrechnung. Es ist wie das Fallen eines Beils …“.

„Durchbruch bei Stalingrad“ ist ein großartiger Roman. Darüber hinaus machen ihn die Umstände seiner Entstehung und Rezeption zu einem zeitgeschichtlichen Dokument.

Titelbild

Heinrich Gerlach: Durchbruch bei Stalingrad. Roman.
Hg. von Carsten Gansel.
Galiani Verlag, Berlin 2016.
704 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711218

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