Shoah und Waldeinsamkeit

Über Aharon Appelfelds Roman einer märchenhaften Kindheit

Von Bastian ReinertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Reinert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als sich gegen Ende des Krieges bereits die Niederlage der Nazis abzuzeichnen beginnt, werden in Osteuropa noch die letzten Ghettos aufgelöst, um ihre Bewohner ‚umzusiedeln‘. Umsiedlung war der geläufige Euphemismus für die Deportationen in die Vernichtungslager. In Auschwitz, Treblinka und Majdanek, an Orten, deren Namen sich uns heute eingebrannt haben als Stätten der Massenvernichtung, warten nicht die versprochenen besseren Lebensbedingungen, sondern lediglich der Tod. Alte und Kinder werden als erste in die Gaskammern geschickt.

Von alledem wissen die beiden so gegensätzlichen Jungen Adam und Thomas in Ein Mädchen nicht von dieser Welt, dem neuen Roman des israelischen Schriftstellers Aharon Appelfeld, jedoch nichts. „Warum bringt man die Alten weg?“, fragt Thomas seinen Freund. „Und auch die Kinder? Was haben die Kinder Schlimmes getan? Und was die Alten?“ Als ihm Adam auf die Frage, warum es denn ausgerechnet sie träfe, entgegnet, weil sie eben Juden seien, reagiert Thomas abermals mit Unverständnis: „Was haben die Juden denn Böses getan, dass man sie bestraft?“

Der zweifelnde, stets mit seinem Schicksal hadernde Thomas wurde – ebenso wie Adam – von seiner Mutter im Wald nahe des Ghettos ausgesetzt, um so der drohenden Deportation und damit dem sicheren Tod zu entgehen. Hier im Wald, wo die beiden erst Neunjährigen, die sich schon von früher flüchtig kannten, aber nicht besonders mochten, hier in diesem Setting des locus amoenus kommt es zu einer wahren Begegnung der beiden Kinder, die aneinander, vor allem aber am gemeinsamen Überleben wachsen werden. Denn anders als ihnen versprochen wurde, kommen ihre Mütter nicht am Abend wieder, um sie abzuholen, sondern sind sie auf unbestimmte Zeit auf sich allein gestellt. Sie lernen schnell, dass Überleben nur möglich ist durch Zusammenhalt und Freundschaft, durch Vertrauen in die ‚gute Natur‘ und den Glauben an Gott. Der Wald als magischer Ort, der den Jungen im Frühjahr und Sommer noch als Schlaraffenland erscheint, der Schutz bietet und naturmystisch aufgeladen ist („Der Bach ist ein lebendiges Wesen“), zeigt im Winter sein hartes Gesicht und stellt die Jungen mit zunehmender Kälte und vor allem durch den immer größer werdenden Hunger stets vor neue Herausforderungen. Im Augenblick größter Not, während die Jungen in ihrem selbstgebauten Baumhaus ausharren und zu erfrieren drohen, erscheint plötzlich das titelgebende Mädchen Mina, das sie, offenbar unter größter Gefahr für das eigene Leben, mit Essen und Kleidung versorgt und so über den harten Winter rettet.

Diese Coming of Age-Geschichte, die Appelfeld gut, um nicht zu sagen: einigermaßen pathetisch in einer allegorischen Überhöhung des Überlebens enden lässt, ist eingefasst in eine an sich realistische Ausgangssituation, die dann aber einen mal mystisch-religiösen, mal märchenhaft-magischen Anstrich verliehen bekommt. Auf dem Vorsatz des Bandes heißt es, Appelfeld erzähle „mit elementarer, kindlicher Schlichtheit“. Man kann seine Sprache schnörkellos nennen oder lakonisch, aber ihre Schlichtheit ist hier doch enttäuschend. Dass Appelfeld selbst einmal in einem Interview sagte, er habe die Musikalität seiner kurzen Sätze der Bibel abgeschaut, offenbart schon das Missverständnis von musikalischer Sprache, denn dieses Stakkato allein erzeugt zwar einen gewissen Klang, aber noch keine Melodie. Zudem ist die als Qualität herausgestellte „Schlichtheit“ in sich nicht besonders stimmig, etwa wenn die beiden Neunjährigen beispielsweise immer wieder Lebens- und Altersweisheiten wie „Ein ermutigendes Wort hilft manchmal mehr als ein Verband“ oder „Der Wald ist manchmal besser als die Menschen“ austauschen und schließlich allzu weltklug erkennen, dass sie in den Wald gebracht wurden, „um erwachsen zu werden“.

Was Appelfeld – und möglicherweise ist das zum Teil auch der Übersetzung der sonst so geschätzten Mirjam Pressler anzulasten – auf sprachlicher Ebene nicht geglückt ist, weil diese Sprache Neunjährigen einfach durchweg unangemessen ist („Danke dafür, dass du deine Gefühle mit mir teilst“), gelingt ihm dafür umso mehr auf der formalen Ebene, nämlich in der Anlage des Romans, der mit kulturellen Mustern spielt, sie verdreht oder auch nur andeutungsweise aufscheinen lässt. Mit deutlichem Bibelbezug markiert – neben zahlreichen anderen Anleihen aus dem Alten Testament – ist bereits die Grundkonstellation: Der fromme, gottesfürchtige Adam ist in seinem Erfindungsreichtum wirklich wie der erste Mensch, der die Dinge findet und erfindet, der sie kennt und benennt. Und nicht von ungefähr erinnert Thomas der Zweifelnde, der den Gottesbeweis Einfordernde – die beiden Jungen könnten tatsächlich nicht gegensätzlicher sein – an den an Jesus zweifelnden Jünger und späteren Apostel Thomas aus dem Johannes-Evangelium. Auch das umgekehrte Hänsel- und Gretel-Motiv ist frappierend. Die beiden Jungen werden nicht aus Selbstsucht ihrer bösen Stiefmütter ausgesetzt, sondern, man kann die seelische Not der Mütter wohl erahnen, in der Hoffnung, ihnen damit das Leben zu retten statt zu nehmen. Auch die Grimmʼsche Frauenfigur im Wald wird in ihr Gegenteil verkehrt. Das Mädchen Mina ist keine die Kinder zu verschlingen drohende Hexe, sondern entpuppt sich als der rettende, Leben spendende Engel, der am Ende des Romans selbst der Rettung bedarf.

Appelfelds Ein Mädchen nicht von dieser Welt ist vor allem Kindern und Jugendlichen zur Lektüre zu empfehlen. Sie werden den Roman vermutlich zunächst einmal als ein spannendes Abenteuer zweier Jungen im Wald lesen, als einen Jugendroman wie Hermann Hesses Demian (der Thomas wohl nicht ganz zufällig im Traum erscheint) und sich erst im Laufe ihrer Lektüre der Doppelbödigkeit des Textes bewusst werden. Denn hier wird in nur diffusen Umrissen die Shoah mit Kinderaugen wahrgenommen oder allererst erahnt. Ganz anders geschieht dies hier jedoch als in Ruth Klügers weiter leben (1992) oder im Tagebuch der Anne Frank (1942–44), mit denen der Roman bisweilen – und zwar zu Unrecht – verglichen wurde. Zu Unrecht nicht nur, weil Appelfelds Roman im Gegensatz zu Klüger oder Anne Frank keine autobiografische Aufzeichnung ist, sondern auch deshalb, weil die Erzählhaltung nichts mit diesen beiden Texten gemein hat. Klüger referiert und reflektiert als 60-Jährige das, was die Kinderaugen erst in Wien, dann in Auschwitz wahrgenommen haben, das heißt die Erzählung ist eine von der erwachsenen Erzählinstanz vermittelte und perspektivierte Wahrnehmung des Kindes. Anne Franks Aufzeichnungen wiederum können diese erwachsene Perspektive durch ihren frühen Tod gar nicht haben, sondern zeichnen sich gerade aus durch die Authentizität ihres jugendlichen, unverstellten Blicks. Beides trifft auf Appelbaums Roman nicht zu. Am ehesten vergleichen ließe sich Ein Mädchen nicht von dieser Welt daher – wenn man es denn will – mit Kevin Vennemanns Roman Nahe Jedenew (2005), in dem zwei jüdische Mädchen, vor den Pogromen ebenfalls in ein Baumhaus geflüchtet, die Vernichtung um sie herum aus der Sicherheit ihres Verstecks beobachten. An Vennemanns verstörend rhythmisierter Sprache ließe sich dann im Vergleich auch studieren, was Musikalität in der Literatur wirklich heißt.

Titelbild

Aharon Appelfeld: Ein Mädchen nicht von dieser Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
128 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783871347887

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