Diese Langeweile, diese tief empfundene Langeweile

Treibgut als Ballast: „Reisen und andere Reisen“ von Antonio Tabucchi

Von Christian LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Jahre vor seinem Tod 2012 veröffentlichte Antonio Tabucchi ein Buch, das über Jahrzehnte veröffentlichte Reiseskizzen versammelt. Ein weiteres Reisebuch also, könnte man stöhnen, doch in Zeiten eines – leider verfrüht für tot und erledigt gehaltenen – an allen Ecken und Enden der Welt erneut grassierenden Nationalismus können vielleicht gar nicht genug Reisebücher veröffentlicht werden, denn das Reisen lässt sich als Nationalismus-Antidot empfehlen, zumindest, wenn es wie bei Tabucchi nationale Grenzen überschreitet – und nicht etwa nachzieht wie das Reisen Wolfgang Büschers und Co.:

Ich muss zugeben, alles in allem bin ich viel gereist. Ich habe viele fremde Orte besichtigt und habe an vielen fremden Orten gelebt. Und das empfinde ich als großes Privileg, denn wenn man ein ganzes Leben lang mit den Füßen auf demselben Boden steht, kann das zu einem gefährlichen Irrtum führen, zu dem Glauben nämlich, dieser Boden gehöre einem, als wäre er nicht ausgeliehen, so wie alles im Leben ausgeliehen ist.

Sind Reisende aber vor diesem Irrtum gefeit?

Der Anlass für eine Reise kann ja durchaus profanere Gründe haben als anti-nationalistische, das weiß auch Tabucchi: „Vielleicht war die Langeweile, eine tiefe, quälende Langeweile, ein mächtiger Motor meiner Reisen.“ Langeweile dürfte Bodeneigentumsverfechtern indes ebenfalls nicht ganz unbekannt sein. Womöglich brechen diese dann aber nicht auf, sondern bleiben einfach:

Die Langeweile, die tief und quälend empfundene Langeweile, kann ein Motor sein, einen aber auch so faszinieren, dass man sich bis auf ihren tiefsten Punkt sinken lässt. Und wo finden wir das Unbekannte, das wahre Unbekannte? Wenn wir in ein Flugzeug steigen und weit weg fahren oder am Grunde dieses Brunnens der Unbeweglichkeit, an einem Tag, an dem wir zu Hause bleiben und nachdenken und die Wand anstarren, ohne sie zu sehen?

Tabucchi hat sich anscheinend gegen das Wandanstarren entschieden, womit er, nach Blaise Pascal, der einzigen Ursache des ganzen Unglücks der Menschen, nämlich nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können, erlegen ist. Hinsichtlich Nationalismus ist das womöglich gut, hinsichtlich Langeweile eher schlecht.

Den ruhig in seinem Zimmer das Buch „Reisen und andere Reisen“ anstarrenden Rezensenten beschleicht jedenfalls von Seite zu Seite eine immer tiefere, quälendere Langeweile. Das Unbekannte, das wahre Unbekannte findet er hier nicht, trotz der Tour de Force in neun Kapiteln durch Europa, Amerika, Indien, Australien, Portugal. Oft liest sich das Reisebuch wie ein etwas überholter Kunst- und Kulturführer. Tabucchi hat allerdings „auch junge Paare beobachtet, die vielleicht noch nicht einmal die Uffizien oder das Kolosseum gesehen und ihre Hochzeitsreise auf die Seychellen oder die Komoren unternommen haben. Bei ihrer Rückkehr steht nichts in ihrem Gesicht. Was macht man überhaupt auf den Komoren? Diese Paare sind lediglich von der Sonne gebräunt. Das hätten sie auch erreicht, wenn sie im Hof oder auf ihrer Terrasse geblieben wären.“ Nun ist das bekannte Kritik älterer Bildungsbürger, die deshalb zwar noch lange nicht falsch sein muss; sie langweilt aber in ihrer Wiederholung, noch dazu in einem Buch, und ist dann doch auch falsch, zumindest, wenn man sie wie der Rezensent in einem Berliner Hinterhof überprüft (hier bräunt etwas anderes). Und überhaupt: Ist das jetzt nicht doch wieder ein Plädoyer gegen das Reisen, für die Scholle, für das Zuhausebleiben? Also vielleicht doch besser die Wand anstarren?

Die im Buch versammelten Texte sind „an den verschiedensten Stellen erschienen, im In- und Ausland, nahezu ohne Zugehörigkeit oder Identität, Treibgut. Sie zu sammeln war, als würde ich daraus ein Floß bauen, ein Schiff, ein Kanu; ich habe die Risse an ihrem Kiel abgedichtet, und die Strömungen, denen sie ausgesetzt waren, in eine gemeinsame Richtung gelenkt, damit sie ihre Fahrt als Buch fortsetzen konnten.“ Könnten Verlage sich nicht einfach einmal weigern beziehungsweise damit aufhören, gegen Lebensende gesammeltes Treibgut nochmals abzudrucken, selbst wenn es von einem noch so tollen Schriftsteller oder Wissenschaftler, einer noch so tollen Schriftstellerin oder Wissenschaftlerin ist? Statt Strandgut sammeln Ballast abwerfen – das wäre auch reisetechnisch von Vorteil.

Dieses Schiff, obwohl von Tabucchi, schwimmt nicht. Da hilft leider auch kein Rettungsring auf dem Cover.

Titelbild

Antonio Tabucchi: Reisen und andere Reisen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl.
Hanser Berlin, Berlin 2016.
254 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446250987

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch