Eine fragile Wirklichkeit

Fridolin Schley beleuchtet den brutalen Hintergrund einer Flucht

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fridolin Schleys Erzählung Die Ungesichter über die Flucht der 15-jährigen Amal aus Somalia vor dem Schreckensregime einer Terrormiliz ist nicht nur ein bemerkenswerter Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsthematik, sondern auch ein wichtiger Blick über den Tellerrand hinaus. Denn der 1976 in München geborene Schriftsteller klärt darüber auf, was sich hinter dem Wortungetüm „Emigrationshintergrund“ verbirgt, er verknüpft das geläufige Abstraktum mit einer bewegenden Geschichte und verleiht den „Ungesichtern“ somit Gesicht und Namen.

„Die Veränderungen kommen nicht über Nacht“, heißt es zu Beginn, aber die „Vorschriften und Verbote“, mit denen die „Patronenmänner“ von Al-Shabaab ihre Macht demonstrieren, lähmen immer mehr das Leben in dem Dorf, in dem Amal aufwächst. Die bunten Farben der Gewänder verschwinden ebenso wie die Heiterkeit, die sich seit jeher in den fröhlichen Liedern der Gemeinschaft ausgedrückt hat. Der Vater, ein Englischlehrer, beugt sich der neuen Regelung, wonach die westliche Sprache nicht mehr vermittelt werden darf, unterrichtet aber heimlich weiter. „Wenn auch die Schule die Jungen noch fallen lässt, werden sie Soldaten, schließen sich den Milizen an, die die armen Familien locken mit hundertfünfzig Dollar am Tag“, erklärt er, wird daraufhin vom Nachbarn verraten und von den Islamisten ermordet. Diese verschleppen nun seine Tochter Amal in ein Lager und verheiraten sie mit einem der Kämpfer. Amal gelingt schließlich die Flucht, und mithilfe der Mutter, die bei Verwandten in Mogadischu untergeschlüpft ist, begibt sie sich in die Hände von Schleusern, die versprechen, sie in das sichere Europa zu bringen.

Gerade erst dem Bürgerkrieg entkommen, begegnet sie jetzt einer Welt, die kaum hinter der Brutalität der Milizen zurücksteht. Überall trifft sie auf Verachtung und Misstrauen, oft auch auf Habgier. Im Ankunftsland Ukraine, später dann in der Slowakei, gerät sie in eine Welt, die sie nicht versteht. Die Hilflosigkeit der Heimatvertriebenen provoziert bei der Flüchtlingsverwaltung zumeist ein besonderes Machgefühl, ein nur allzu verbreitetes Verhaltensmuster. Nicht selten wird die junge Frau als Hure beschimpft. Solidarität unter Leidens- und Geschlechtsgenossinnen ist eher die Ausnahme. Mitten in Europa scheinen die Gesetze des Dschungels zu herrschen. Amal flieht aus Lagern, die Gefängnissen gleichen, und vor Uniformmännern, die sich nicht von den heimischen Milizen unterscheiden. Ihre wohlbegründete Angst trifft auf einen Alltag, der in seinem Bürokratismus die Aussichtslosigkeit der Flucht zu verstärken scheint. Bei all dem bleibt Europa, das sie nur aus Erzählungen und aus dem Radio kennt, ein vages, aber verheißungsvolles Ziel. Die Handlung endet schließlich etwas abrupt mit dem Erreichen Wiens.

Schley erzählt in einem drängenden Satzfluss, den kein Punkt unterbricht und der dadurch umso mehr zu einem endlosen Albtraum wird. Illustriert wird der Text durch ganzseitige Grafiken von Thomas Gilke. Schwarzweiße Pixel gruppieren sich zu schattenhaften Schemen, die an Platons Höhlengleichnis erinnern und wohl eine fragile Wirklichkeit symbolisieren sollen. Wo die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, Flüchtlinge lediglich als Zahlen wahrgenommen werden, sind alle Beteiligten nur „Ungesichter“.

In der editorischen Notiz erfahren wir indes, dass die Erzählung auf wahren Begebenheiten beruht und die Protagonistin heute in Deutschland eine Ausbildung zur Krankenschwester macht.

Titelbild

Fridolin Schley: Die Ungesichter.
Allitera Verlag, München 2016.
100 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783869068374

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