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Die erstmals publizierte Korrespondenz zwischen Sophie von La Roche und dem Prinzenerzieher am Darmstädter Hof hat das Potenzial zur Neubewertung des Alterswerks der Autorin

Von Katrin HenzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Henzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sophie von La Roche (1730–1807) ist in den letzten Jahrzehnten aus dem Schatten ihrer berühmten Verwandten Christoph Martin Wieland, Bettine und Clemens Brentano herausgetreten. Umso mehr erstaunt es, dass die Herausgabe von Schriften der als Verfasserin der „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ bekanntgewordenen Autorin noch immer ein großes Forschungsdefizit darstellt. Das betrifft insbesondere ihren Briefnachlass der Offenbacher Zeit. Der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Frankfurt am Main gelegene Ort wurde 1786 das Domizil der Eheleute von La Roche. Hier verbrachte Sophie nach dem frühen Tod ihres Mannes Georg Michael Frank ab 1788 die letzten 20 Jahre ihres Lebens. Hier begann sie im selben Jahr den Briefwechsel mit Johann Friedrich Christian Petersen (1753–1827). Dieser rege schriftliche Gedankenaustausch vollzog sich bis 1806 und liegt nun in einer beeindruckenden Erstedition von Patricia Sensch vor.

Doch muss man sich zugegebenermaßen erst einmal die Frage stellen, wer dieser Petersen denn überhaupt war, um in einem zweiten Schritt zu verstehen, warum sich die Lektüre dieser Ausgabe lohnt. Denn Petersen ist heute nahezu vergessen. Schuld daran trägt vor allem eine Verwechslung mit einem seiner Brüder, dem der Aufklärung verpflichteten Theologen und Hofprediger Georg Wilhelm Petersen (1744–1816). Es ist also ein großes Verdienst Patricia Senschs, den tatsächlichen Briefpartner Sophie von La Roches identifiziert zu haben. Johann Friedrich Christian Petersen wirkte ab 1782 als Prinzenerzieher am Hof Hessen-Darmstadt unter der Regentschaft des Landgrafen Ludwig IX., ab 1790 unter dessen Sohn Ludwig X. Was Petersen so außerordentlich interessant macht, ist seine Stellung am Hof zu einer Zeit, als sich Hessen-Darmstadt unter Ludwig X. (ab 1806 Großherzog Ludwig I.) vom Gegner Frankreichs zum Unterstützer Napoleons wandelte. Vom preußisch-französischen Konflikt nicht zu trennen sind die am Hof ausgetragenen Intrigen und offenen politisch-theologischen Kämpfe, unter denen Petersen als dem aufklärerischen Lager Zugehöriger massiv litt, mit gesundheitlichen Folgen. Mehrere Versuche, den Hof zu verlassen, liefern davon Zeugnis und spiegeln sich auch in den Briefen von La Roche an Petersen, die ihm immer wieder Mut zusprach, zu bleiben, da sie mit Petersen einen wichtigen Fürsprecher am Hof Hessen-Darmstadt hatte.

Von Petersens Plänen lässt sich aus den Briefen La Roches schließen, weil seine eigenen Briefe nicht überliefert sind. So erklärt sich auch der Titel der Edition „Sophie von La Roches Briefe an Johann Friedrich Christian Petersen“, die in der namhaften Reihe „Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte“ erschienen ist. Die Ausgabe ist als kritische konzipiert: Alle 196 Briefe werden originalgetreu diplomatisch wiedergegeben – im Hinblick auf die exakte Einrückung der Zeilen vielleicht zu korrekt und den Lesefluss störend, auch wenn Sensch ihre Entscheidung mit dem Gesprächscharakter der Briefe und analog deren stetig wechselndem Ton begründet. Die an eine kritische Edition gestellten Erwartungen hinsichtlich der Erläuterung und Verzeichnung des Materials nach verschiedenen Ordnungskriterien werden voll erfüllt. Insgesamt zeugen diese sowie die Darstellung der Briefe von einem hohen Maß an wissenschaftlicher und sprachlicher Sorgfalt und Akribie. So ist auch der zusätzliche Service der Übersetzung der auf Französisch geschriebenen Briefpassagen, die heutigen Lesern aufgrund ihrer historischen Distanz und des eigensinnigen Stils von La Roche schwer verständlich sind, positiv hervorzuheben.

Die Publikation enthält, wie im Untertitel benannt, neben der Briefedition mit Stellenkommentar auch einen Analyseteil. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis irritiert allerdings hinsichtlich der Anordnung: Die Analyse der Briefthemen ist dem Editionsteil vorgelagert. Die Briefe treten somit unweigerlich in den Hintergrund und verstecken sich nun unter der optisch nicht differenzierten Überschrift „Briefe und Stellenkommentare“ zwischen Verzeichnissen und Registern. Doch bewegt sich dieser Vorwurf auf der rein formalen Ebene und schmälert nicht die Leistung des Bandes.

Schaut man sich die Themen der chronologisch angeordneten Briefe an, wird deutlich, warum ein Blick und ganz sicher auch ein zweiter in diese Ausgabe lohnen: Es bietet sich dem Leser ein dichtes Konglomerat an Äußerungen zu Politik und Zeitgeschehen, zu kulturellen Ereignissen, aber auch zur eigenen Befindlichkeit. Oft sind viele verschiedene Themen, wie Perlen auf einer Schnur aneinandergereiht, in einem einzigen Brief zu finden. Wir lernen eine private Seite Sophie von La Roches kennen; eindringlich berührt der Tod des jüngsten Sohnes Franz im Jahr 1791, dessen Verlust die Mutter auch Jahre später nicht verwinden konnte. Neben der verletzlichen sehen wir aber auch eine selbstbewusste, zuweilen bissige Seite von La Roche. So fällt in einem Brief vom 3. Januar 1797 eine markante Äußerung gegen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller mit der Charakterisierung der „Xenien“ als „einer Schüssel voll teufels drek […] der abscheulich stinkt“.

Gänzlich neu ist und mit bisherigen Einschätzungen kollidiert ihr politisches Interesse und ihr Versuch der aktiven politischen Einflussnahme. Illustrativ zeigt sich dieses Bestreben insbesondere anhand ihres Austauschs mit Petersen zu Fragen der Prinzenerziehung sowie ihrer – letztlich scheiternden – Versuche, die Heiratspläne des Hofs von Hessen-Darmstadt zu beeinflussen. Ihr offenes Werben um den preußischen Königshof und das Herunterspielen der politischen Intrigen am Hof des hessischen Landgrafen müssen dem Briefpartner Petersen als einem der Opfer dieser Machtspiele übel aufgestoßen sein – umso bedauerlicher ist, dass wir seine Antwortschreiben nicht kennen. Ihr offen zutage tretender Pragmatismus brachte La Roche schon zu Lebzeiten Kritik ein, so vor allem von Wieland, aber auch von Petersen, wie wir in den Briefen sehen. Doch zeigen diese noch mehr: die Beweggründe ihres Handelns. Ihre Motive treten klarer hervor und bieten Stoff für neue Interpretationen. Kann man einer Witwe, deren finanzielle Einbußen durch den Tod des jüngsten Sohnes noch geschmälert sind, deren Existenz von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit abhängt, einen Vorwurf machen, dass sie die Nähe der Mächtigen sucht? Ein Beispiel: Sophie von La Roche schildert in einem Brief vom 1. Juni 1791 an Petersen, dass sie sich für die (erstmals mit der Briefedition überhaupt festgestellten) Neuauflage ihrer Zeitschrift „Pomona für Teutschlands Töchter“ mit einer Vorauszahlung in Schwierigkeiten begeben habe. In weiteren Briefen bittet sie Petersen um Einflussnahme bei der Landgräfin für eine finanzielle Unterstützung – mit Erfolg: Der preußische König zahlte ihr für 100 Exemplare der Zeitschrift insgesamt 100 Friedrich d‘or. Diesen Erfolg teilte sie am 26. Juni 1793 dankend Petersen mit: ihrem Bittsteller am Hof der Landgräfin, die in der Sache vermittelt hatte. Wielands Urteil hierüber ist bekannt. Der Leser wird sich nun jedoch dank der Briefe und des mitgelieferten Kontextes selbst ein Bild machen können.

Überhaupt wird die Forschung zur „alten La Roche“, wie sie sich selbst oft in den Briefen bezeichnet, ihr bestehendes Bild korrigieren müssen. Zudem stellt die Korrespondenz La Roches mit Petersen eine wichtige neue Quelle zu den 1790er-Jahren dar, in denen die Terreur nachhaltig in der europäischen Gesellschaft und auf deren Intellektuelle einwirkte und manche Auffassungen tief erschütterte. So auch die La Roches. Es ist über die letzten zwei Jahrzehnte ihres Lebens eine Änderung der politischen Haltung von einer reformkonservativen hin zu einer, die zentrale Argumente der Gegenaufklärer aufgreift, zu beobachten. Auch hier leistet Sensch ganz nebenbei einen wichtigen Forschungsbeitrag auf einem außerliterarischen Terrain. Bieten sich hier doch Anknüpfungspunkte an die aktuell diskutierten Fragen zum Konservativismus.

Sensch zeigt in einer bemerkenswerten Dichte viele neue Ergebnisse zu Sophie von La Roches Spätwerk auf – fast ist es schade, dass sie derartige Details in Stellenkommentaren versteckt. Es gibt noch viel zu tun für Literaturwissenschaftler. Doch nicht nur für diese: Jeder interessierte Leser wird die Briefe mit großem Genuss lesen und in ihnen spannende Elemente finden, die sich einem Kaleidoskop gleich zu einem lebendigen und neuen Bild der „alten La Roche“ zusammenfügen.

Titelbild

Patricia Sensch: Sophie von La Roches Briefe an Johann Friedrich Christian Petersen (1788-1806). Kritische Edition, Kommentar, Analyse.
De Gruyter, Berlin 2016.
663 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110405163

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