Quo vadis, Alma Mater?

Annette Pehnts „Hier kommt Michelle“ als ein Roman der NachwuchswissenschaftlerInnen

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit ihrem Schlüsselroman über Michelle hat Annette Pehnt ein vielschichtiges Werk vorgelegt, das einen Längsschnitt durch alle Universitätsstrukturen liefert und dabei einen bedrückenden Zustand der Institution Universität präsentiert. Bereits auf der Konstruktionsebene des bisweilen nur der Unterhaltungsliteratur zugeordneten Romans wird der Universitätsbetrieb auf verschiedene Weisen reflektiert, und zwar u.a. durch das Voranstellen zweier in wissenschaftlicher Diktion gehaltener Vorworte, das Ersetzen der Kapitel durch „Module“ oder durch das Spiel mit der Autorschaft, denn es stellt sich die Frage: Ist die Erzählerin vielleicht doch Michelle selbst? Neben der personalen Erzählstimme gibt es einen Metaerzähler, der im Gestus der romantischen Ironie das Werk im Werk reflektiert und sowohl die Form als auch den Inhalt stets kommentiert. Nicht zuletzt wirkt der hypotaktische Satzbau, der eine gewisse „Ruhe“ in diesen in vielerlei Hinsicht turbulenten Roman bringt, wie ein Plädoyer gegen den immer öfter für wissenschaftliche Texte geforderten kurzen und knappen Schreibstil. Die Handlung wird multiperspektivisch erzählt, vorwiegend jedoch aus der Sicht der jungen Studentin Michelle, die der Leser vom ersten Tag ihres Studiums an über vier Module und ein Auslandssemester begleitet, bis sie als studentische Mitarbeiterin am Lehrstuhl eines älteren Professors tätig wird. Darüber hinaus charakterisiert der Roman den Universitätsalltag und zwar mit all seinen Schattenseiten. Daraus ergibt sich auch die besondere Herausforderung, vor der ein Rezensent steht – trotz der auf Empathie zielenden Darstellungsstrategie und des großen Identifikationspotenzials für einen involvierten Leser, objektiv und sachlich zu bleiben. Eine stark emotionale Rezeption dieses Werkes entspringt einerseits seiner gewollten Nähe zur Realität und andererseits der starken Stereotypisierung der Figuren. Dennoch handelt es sich hierbei um einen Roman, und als solcher soll er im Weiteren möglichst frei von literaturfernen Urteilen betrachtet werden. Dabei wird der Schwerpunkt der vorliegenden Besprechung auf diejenigen Figuren gelegt, die man nach akademischem Verständnis als Nachwuchswissenschaftler bezeichnen könnte.

Unter dem Begriff „Wissenschaftlicher Nachwuchs“ lassen sich in der Regel Personen verstehen, die sich im Anschluss an einen ersten Studienabschluss für eine wissenschaftliche Tätigkeit qualifizieren und langfristig eine Professur anstreben. Im engeren Sinne werden unter Nachwuchswissenschaftlern promovierte, aber noch nicht habilitierte wissenschaftliche Mitarbeiter der geisteswissenschaftlichen Fächer verstanden; im Roman geben sie an der Universität Sommerstadt zwar motivational ihr Bestes, sind aber  „einfach zu teuer“; mehr noch: „einen Teil von ihnen [sollte man] abschaffen“. Somit ist der grundlegende Konflikt und zugleich der Auslöser vieler Probleme des Uni-Alltags in Sommerstadt (und weit darüber hinaus) benannt worden: das liebe Geld.

Im Fokus stehen folgende drei Akteure des Unibetriebs an der Exzellenz-Universität Sommerstadt: der Keltologe Georg Hahnel, Heike Blum und ein „Junganglist“. Alle sind bereits promoviert und wollen in dem Haifischbecken Universität überleben. Dennoch werden ihnen allen unterschiedliche Motivationen unterstellt: Während der Keltologe die Wissenschaft und Heike Blum die Studenten weiterbringen will, scheint der Junganglist, den Michelle übrigens, obschon er „gut rasiert“ sei, doch gar nicht so jung findet, nur daran interessiert zu sein, die eigene Karriere voranzutreiben.

Das Sinnbild der alten Universität verkörpert der Keltologe Georg Hahnel – „jemand, der fünf Sprachen spricht und sieben liest, der alles, was die Zielkultur jemals hervorgebracht hat, auswendig kennt“ und der Studierende, die für das Wissen brennen, unterrichten darf. Da er aber nur einen Zeitvertrag hat und dazu eine Randwissenschaft betreibt, die wenig Zulauf hat (17 eingeschriebene Studenten), scheitert er an der Effizienz-Richtlinie und wird unter Protesten ins Prekariat geschickt. Daran zeigt sich bereits, wie schizophren ein System ist, das mit dieser Figur genau das abschafft, wonach es sich im Grunde sehnt: die Leidenschaft für das Wissen.

Dr. Heike Blum (Mittelbau) ist der Fraktion der Ambitionierten zuzuordnen, die mit Sehnsucht auf die berüchtigte Gedankenbeweglichkeit der früheren Studentengenerationen zurückblickt. Erfolglos versucht sie, ihre Studierenden zum selbstständigen Denken zu bewegen. Die Präsenzpflicht einzuhalten und sich gleichzeitig um ihre zwei Kinder zu kümmern, fällt ihr schwer und führt zu mehreren Mahnschreiben. Dennoch stellt sie „einen Antrag auf ein Frauenförderungshabilitationsprogramm“, was vermuten lässt, dass sie trotz allem an der Uni bleiben wird. Dies veranschaulicht die Situation der jungen Wissenschaftler, die ihre eigene Tätigkeit an der Universität zunehmend selbst durch Drittmittel zu finanzieren haben.

Der ehrgeizige Junganglist, „der noch nicht einmal zum Mittelbau zählte, sondern doch eigentlich zum Unterbau“, steht als eine namenlose Figur für die Masse der jungen, dynamischen Nachwuchswissenschaftler, die sich erst noch einen Namen müssen. Somit basiert diese Figur auf Verallgemeinerungen und Klischees. Er ist der Liebling aller Studenten, nicht zuletzt dadurch, dass er selten Fremdwörter benutzt, von den Studenten nicht allzu viel verlangt und sie mit der wissenschaftlichen Neugier in Ruhe lässt. In seinen Unterricht baut er Medien ein: „Man muss sie eben dort abholen, wo sie stehen, und wenn sie online stehen, holt er sie dort ab, damit hat er keine Probleme.“ Dafür wird er von seinen Studenten mit Bestnoten evaluiert. Er spezialisiert sich auf die computergestützte Auswertung urbaner narrativer Konzepte und hat „seit Semesterbeginn mehr Aufsätze veröffentlicht […] als sie [Heike Blum] in den letzten drei Jahren.“ Wenn es Heike Blum schlecht geht, geht sie mit ihm „einen Kaffee trinken und lässt sich Komplimente machen, die er alle paar Minuten absondert, ohne es überhaupt zu merken“. Seine Hilfsbereitschaft hofft er mit wertvollen Tipps zu Forschungsanträgen o.ä. erwidert zu bekommen. Schließlich scheint er sich mit den Strategien der Selbstvermarkung bestens auszukennen, denn er muss als einzige wissenschaftliche Figur dieses Romans nicht um seine Zukunft bangen. Von Bedeutung für die Rezeption dieser Figur ist, dass ihre Darstellung fast ausschließlich aus der Außenperspektive erfolgt, was die Identifikation des Lesers mit ihr erschwert und eher dazu veranlasst, sich von dem Urteil anderer Figuren leiten zu lassen. Erst, wenn er gegen die ersten „diffusen Anzeichen eines Hörsturzes zu kämpfen“ hat, wird auch dem Leser ein Blick in sein Inneres gestattet. 

Was lernen nun die Nachwuchswissenschaftler aus diesem Roman? Vor allem, dass eine Universitätskarriere „kein Zuckerschlecken“ ist und der Weg zum ersehnten Lehrstuhl scheinbar über Leichen führt. Die erbrachte Leistung und wissenschaftliche Anerkennung sind oft mit der eigenen Gesundheit zu bezahlen. Die fast schon allgegenwärtige Frage nach der Berechtigung der eigenen Existenz und die Suche nach dem Sinn der Beschäftigung mit etwas, das keinen messbaren Nutzen bringt, war den früheren Generationen der Geisteswissenschaftler wohl genau so fremd wie Credit Points, Bologna-Prozess oder Module. Diese Themen bestimmen aber seit langem schon den Alltag der reformierten Universität und lenken von ihren eigentlich Aufgaben, der Forschung und Lehre, ab.

Gute Literatur bewegt die Gedanken. So zwingt auch dieser Roman dazu, über die Rolle der Universität in der heutigen Gesellschaft zu räsonieren. Die privilegierte Position auf dem Bildungsmarkt und die lange Tradition der deutschen Universität als eines Ortes freier Denker neigen sich − zumindest in diesem Roman − ihrem Ende zu. Die steigende Mobilität der Studenten und ihre veränderten Erwartungen einerseits, die Entwicklung einer für Europa gemeinsamen Bildungspolitik andererseits fordern ihre Opfer. Die Universität wird zunehmend als eine weitere Stufe der beruflichen Ausbildung betrachtet, worin sie immer mehr an die Fachhochschulen erinnert, deren Aufgabe es ist, die Studenten möglichst gut auf die praktische Ausübung ihres Berufs vorzubereiten. Dagegen hat sich die Universität der Weiterentwicklung der theoretischen Ansätze wie des Geistes verschrieben. Für ein solch idealistisches Ziel gibt es aber in Zeiten des Kapitalismus, wo alles auf Gewinn ausgerichtet ist, scheinbar keinen Platz mehr. Die Reformen machen „mit der sentimentalen Humboldt-Romantik Schluss“. Zum neuen Ziel der Universitäten soll erklärt werden, „junge Leute wie Michelle fit für den internationalen, vernetzten, globalisierten Markt zu machen, mit dem kostbaren Gut, das wir haben: Wissen, und zwar nicht irgendwelchem unnützen Bildungsbürger-Ballast, sondern relevantem, aktuellem kompatiblen [sic] Wissen“. Dementsprechend ist es ein wirtschaftliches Kosten-Nutzen-Denken, das zur Abschaffung solcher Wissenschaftler wie des Keltologen oder Heike Blums führt, die, selbst geplagt von Existenzängsten, den Kampf um einen kritisch und selbstständig denkenden Studenten aufgeben müssen. Auch der Junganglist erscheint als ein Produkt einer solchen Gesellschaft, insofern er seine Existenz durch erbrachte Höchstleistungen rechtfertigen und einen bestimmten Erwartungen, die den jungen Wissenschaftlern vermeintlich entgegengebracht werden, erfüllen muss, in dem auch das Privatleben und die sozialen Kontakte (Netzwerke) nicht zu kurz kommen dürfen. Work-Life-Balance heißt hier die schwer zu realisierende Devise.

Dass die jüngere Generation der Studierenden nur eine HochSCHULE erwartet, findet eine gewisse Resonanz in den an sie gestellten Anforderungen. Unter dem Stichwort „Schlüsselkompetenzen“ lernen die Nachwuchswissenschaftler in den Seminaren zur Hochschuldidaktik u.a. die Taxonomie der kognitiven Lernziele nach Benjamin Bloom, die sich über folgende Stufen erstreckt: Wissen, Verstehen, Anwenden, Analyse, Synthese und Evaluation. Während in der Schulbildung vorwiegend die ersten drei anzuwenden sind, d.h. das Wissen zu erwerben, es zu verstehen und anwenden zu können, sollte die universitäre Bildung sich auf die Analyse, d.h. das Reduzieren der Probleme und Fragestellungen auf das Wesentliche, und die Synthese, d.h. eine kreative Kombination in der Analyse gewonnen Erkenntnisse, konzentrieren. Gerade dies passiert in dem untersuchten Roman nicht. Denn das von Michelle erworbene Wissen wird hauptsächlich in derselben Form wieder abgefragt; so entwickelt sich Michelle zu einer Musterstudentin mit Bestnoten – weil „sie gut auswendig lernen kann, ist sie nichts anderes gewöhnt“.

Campusromane, denen auch Hier kommt Michelle nach eigenem Verständnis (siehe Frontcover) zuzuordnen ist, zeichnen sich durch eine kritische Sicht auf das Universitätsmilieu aus. Da die Autoren der Universitätsromane oft selbst Mitglieder oder Angehörige einer Hochschule sind, kann ihnen eine appellative intentio auctoris unterstellt werden, in ihren Romanen (einen übertrieben dargestellten) Aufschluss über die Schattenseiten des prekären Uni-Daseins geben zu wollen, indem in satirischer Form sowie in Begleitung einer Auseinandersetzung mit der Bildungspolitik und einer Prise Selbstironie Autoritäten- und Institutionenkritik ausgeübt wird. Darin unterscheidet sich Pehnts Roman kaum von anderen (deutschen) Romanen dieses Genres, wie zum Beispiel von Jörg Uwe Sauers Uniklinik oder Dietrich Schwanitzʼ Der Campus. Darüber hinaus stehen im Zentrum des Geschehens meist die Studierenden, die permanent in Intrigen, Kriminalgeschichten und Sexexzesse involviert werden. Eben darin unterscheidet sich Pehnts Roman deutlich von ihren Genre-Genossen, denn obschon die studentische Perspektive beibehalten und Michelles Entwicklungsweg mit all seinen Stationen geschildert wird, ist der Mittelbau sowohl von der Zahl der Figuren als auch der ihm seitens der Erzählstimme gewidmeter Aufmerksamkeit überdurchschnittlich stark vertreten.

Schließlich ist dieser Roman durch seine provokative wie suggestive Machart als ein Werk zu betrachten, an dem sich lernen lässt, sachlich über Literatur zu sprechen. Dieses mit großen Emotionen beladene wie auch diese hervorrufende Buch lehrt nämlich, die Distanz zum Untersuchungsobjekt zu bewahren. Die Lektüre dieses Romans ist daher allen, die ihre Zukunft an der Universität sehen, nahezulegen.

Als Schlusswort sollte betont werden, dass in diesem Roman natürlich klischeehafte Figuren vorgeführt werden, die beim Leser starke Emotionen und auch Widerstand hervorrufen können. Die aktuelle Situation in den Geisteswissenschaften stellt sich zwar grosso modo nicht einfach dar, dennoch lassen sich durchaus  noch Professoren und Wissenschaftler ausmachen, die für ihre Studierenden ebenso inspirierend wie herausfordernd sind. Und so beabsichtigt Michelle, die Titelheldin, die nur Seminare wählt, die ihr nicht allzu viel abverlangen, zum Schluss des Romans es doch tatsächlich, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Dass zeitgleich die Universität Sommerstadt in Flammen aufgeht, niemand jedoch ein Löschen veranlasst, lässt aber auch hier ein ironisch gebrochenes Bild entstehen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Annette Pehnt: Hier kommt Michelle. Ein Campusroman.
Piper Verlag, München 2012.
138 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783492300827

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