Eine Mitschuld, dass es die DDR so lange gab?

Am Beispiel Bertolt Brechts untersucht Uwe Kolbe die Rolle von Dichtern in totalitären Regimen und kommt dabei nicht zuletzt auch auf sich selbst zu sprechen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hildebrand und Hadubrand nennen sich nach ihren bekannten mittelalterlichen Vorbildern die Helden in Uwe Kolbes erstem, 2014 erschienenem Roman Die Lüge. Es ist eine Vater-Sohn-Geschichte mit deutlichen autobiografischen Bezügen, auch wenn Kolbe seinen Harry Einzweck, Sohn des DDR-Kulturfunktionärs und Stasimannes Hinrich Einzweck, nicht Dichter, sondern Komponist sein lässt und einer ganzen Reihe von eindeutig zu identifizierenden DDR-Kulturprominenten von Christa Wolf bis Franz Fühmann Tarnnamen und leicht geänderte Biografien verpasst. Jenseits aller persönlichen Bezüge geht es dem Autor in seinem Romandebüt um eine Frage, die nun auch sein aktuelles Buch, ein Brecht-Essay, aufgreift: Wie weit kann ein Dichter den Herrschenden in einem totalitären Staat entgegenkommen, ohne sich selbst und andere zu verraten?

Bertolt Brecht war im Oktober 1948 – ein Jahr vor der Gründung der DDR –  auf Einladung des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ aus Zürich über Prag nach Berlin gekommen, um die Lage in der viergeteilten Stadt zu sondieren. Obwohl die Sowjetische Besatzungszone zunächst nicht das bevorzugte Ziel des staatenlosen Dichters nach seiner Rückkehr aus dem Exil war, fand er hier doch Arbeitsbedingungen und alte Freunde und Verbündete vor, die ihm nach und nach einen dauerhaften Aufenthalt schmackhaft machten. Die Gelegenheit, zu inszenieren und später gemeinsam mit seiner Frau Helene Weigel einem eigenen Theater vorzustehen, tat wohl ein Übriges. Auf der anderen Seite war es den neuen Machthabern durchaus bewusst, welch Aushängeschild sie in dem weltbekannten Dichter und Dramatiker für ihr Projekt eines demokratischen Deutschlands besaßen. Sie ließen deshalb auch nichts unversucht, ihn an sich zu binden. 

Welch Schlitzohr Brecht war, hatte er zuletzt 1947 bei seiner Anhörung vor dem „Ausschuss für unamerikanische Umtriebe“ bewiesen. Er schwieg nicht zu den Unterstellungen, gab auf der anderen Seite aber auch nichts zu, auf das er festgenagelt werden konnte. Als ähnlich raffiniert taktierend muss wohl sein Umgang mit den Mächtigen – sowohl denen des Staates als auch denen des Kulturbetriebs – in der jungen DDR gesehen werden. Er nahm, seit 1950 österreichischer Staatsbürger, die Privilegien, die man ihm für sein Bleiben einräumte, gerne in Anspruch, dafür hielt sich seine Kritik, etwa aufgrund des  Arbeiteraufstandes 1953, in Grenzen, wenn er sie denn überhaupt in die Öffentlichkeit dringen ließ.

Für Kolbe hat Brechts Umgang mit der Macht im neuen Deutschland etwas Paradigmatisches: „Es hätte ohne Brechts Anpassung an die Verhältnisse in der DDR die Anpassung so vieler Intellektueller an dieselben so lange und so geschmeidig nicht gegeben“, stellt er fest und kommt letztendlich zu der ein wenig kühn anmutenden Schlussfolgerung: „Die Fron in den Ketten, die Brecht zwar nicht geschmiedet, aber in seiner Werkstatt gehärtet hat, zuletzt verrichteten sie ein paar alte Männer. Ohne ihre Treue hätte es die DDR überhaupt nicht so lange gegeben.“

Womit der Autor schließlich auch bei sich selbst ankommt, obwohl er sich im Brecht‘schen Sinne nicht zu den „Nachgeborenen“ zählt – das sind für ihn vor allem Volker Braun, Wolf Biermann, Heiner Müller und Thomas Brasch, die dann auch entsprechend gescholten werden –, sondern als „dieser nach-nachgeborene Kolbe“ doch eine etwas größere Distanz zu einer der staatgewordenen Ideologie mit Dichtung beispringenden Autorengruppe samt ihrem Vorreiter  für sich in Anspruch nimmt. Gleichwohl darf man hier, im Privat-Persönlichen, wohl den Ausgangspunkt von Kolbes Rundumschlag gegen Brecht und all jene, die ihm im Dichten und Taktieren sowie in der Selbstinzenierung nacheiferten, vermuten. So wie im Roman Die Lüge der Sohn letzten Endes erkennen muss, dass ihn von seinem Vater gar nicht so viel unterscheidet und er zum Künstler nicht zuletzt auch durch die Hilfe des die restriktive Kulturpolitik der DDR an vorderer Front mittragenden Vaters werden konnte, weiß auch der Autor des Brecht-Essays, dass er im Grunde zu jenen zählte, deren Wider-den-Stachel-Löcken sie nie in wirkliche Gefahr brachte: „Der Autor dieser Zeilen genoss auch fühlbaren Schutz vor härterem Zugriff der ‚Organe‘, dessen Ursachen bis heute nicht ganz klar sind. Andere waren nicht so gleich und gingen vielleicht für das Kopieren von Tonbandaufzeichnungen mit Liedern Wolf Biermanns oder für das Abschreiben und Weitergeben von Reiner Kunzes nur im Westen erschienenem Buch Die wunderbaren Jahre ins Gefängnis.“

Kolbes scharf und gedankentief formulierter Essay stellt nicht nur die Abrechnung eines Betroffenen – „eines von Brecht Betroffenen“ –  mit einem der herausragenden deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, sondern auch mit einem Teil der Literatur der DDR dar, der bisher weniger im Verdacht stand, den im ostdeutschen Staat über die Köpfe seiner Bürger hinweg Herrschenden mit seinem künstlerischen Wirken den Rücken gestärkt zu haben. Namen wie Braun oder Müller ließen und lassen eher an eine gemäßigte Opposition, einen anderen als den praktizierten Sozialismus oder den berühmten „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus denken. Werken wie Brauns Hinze-Kunze-Roman (1985) oder Heiner Müllers bis 1988 in der DDR verbotenem Stück Mauser (1970) vorzuwerfen, ihre Schöpfer hätten mit ihnen die Affirmation des Gegebenen betrieben, würde den kritischen Impetus beider Texte verkennen.

Und doch: In einem Punkt kann man Kolbe nicht widersprechen. Das Brecht‘sche „Wir“, wie es etwa in dem bekannten Gedicht Lob des Kommunismus aus dem nach dem gleichnamigen Roman Maxim Gorkis entstandenen Stück Die Mutter (1931) auftaucht – „Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen./ Wir aber wissen:/Er ist das Ende der Verbrechen./ […]/ Er ist das Einfache/Das schwer zu machen ist.“ –, ist nichts als ein geschickter rhetorischer Kniff. Mit ihm gibt der Dichter vor, im Namen all derer zu sprechen, die ihre Zukunft in einer humanen Gesellschaft jenseits des Kapitalismus sehen. Jene Arbeiter und Bauern, die der „Arbeiter- und Bauernstaat“ DDR als seine Basis proklamierte, hatten mit den tatsächlich zwischen Oder und Elbe, Ostsee und Erzgebirge in einer Mangelwirtschaft lebenden Werktätigen nichts zu tun. Und wenn tatsächlich einmal Autoren wie Wolfgang Hilbig (1941–2007) oder Gert Neumann (geb. 1942) in ihren Romanen und Erzählungen aus eigenem Erleben in das dunkle Innere der sozialistischen Arbeitswelt abtauchten, sorgte man staatlicherseits dafür, dass deren Wahrheiten in der DDR möglichst ungedruckt und ungelesen blieben.

Über Brechts Qualitäten als Dichter ist sich Uwe Kolbe – das wird an vielen Stellen seines Essays deutlich – durchaus im Klaren. Als „Frontmann seiner eigenen Band“, deren Mitgliedern er seine ideologischen „Haltungsschäden“ vererbte, hält er ihn für ein Verhängnis. Dass „seine spezifische intellektuelle Lebensform Modell für den kritischen Dichter im Totalitarismus sowjetischer Prägung wurde“, führte letzten Endes dazu, dass das Ganze des Systems weder von Brecht noch seinen Nachfolgern je in Frage gestellt wurde. Die These, es durch die Art ihres Auftretens und die Tendenz ihrer Texte länger am Leben erhalten zu haben, als es eigentlich zu leben verdiente, verkennt, was Literatur und Kunst zu leisten vermögen und was ihnen verwehrt bleibt. Schließlich waren es im Jahre 1989 auch nicht die mutigen Dichter, die das misslungene Experiment „Sozialismus“ beendeten – die plädierten mehrheitlich eher für eine zweite Chance unter gewandelten Rahmenbedingungen –, sondern jene, die, noch einmal mit Bertolt Brecht gesprochen, das „siebentorige Theben“ mit ihrer Hände Arbeit erst errichtet hatten, nahmen sich das Recht, es auch wieder einzureißen, da es ihnen kein Glück gebracht hatte.

Titelbild

Uwe Kolbe: Brecht. Rollenmodell eines Dichters.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
176 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100014573

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