Reales Träumen in aller Bodenständigkeit

Christine Mack schreibt vom Leben gegen das Vorgezeichnete

Von Holger EnglerthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Englerth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Christine Macks Roman Solange wir träumen wird, wie bereits der Titel andeutet, tatsächlich viel geträumt. Allerdings handelt es sich nicht um Träume während des Schlafens oder um surreale Fantasien. Stattdessen haben die Träume der Figuren etwas ungemein Bodenständiges und Reales an sich. Sie betreffen nicht das Unmögliche, sondern sind die seit der frühen Kindheit gestellten Fragen nach dem Möglichen. Was sich zu Beginn lediglich als eine von vielen Coming-of-age-Stories liest, entwickelt sich immer mehr zu einer doch deutlich raffinierteren Kritik von Erinnerung und der Möglichkeit, das Leben in den Griff zu bekommen – und das ist hier nicht nur literarisch zu verstehen.

Der Roman ist in kurze Kapitel gegliedert. Diese werden aus der Sicht der Hauptfigur Anni, später Anna (in der Namensänderung drückt sich der Wunsch aus, als Erwachsene wahrgenommen zu werden) erzählt. Die Leser erfahren darin, was der Erzählerin in der jeweiligen Situation wahrnehmbar war, das heißt, während zu Beginn nur die Perspektive des Kleinkindes zugänglich ist, reflektiert am Ende eine 50-jährige Psychologin über das Erlebte. Diese stetige Erweiterung der Perspektive, die auch mit Umdeutungen von Vergangenem verbunden ist, entzieht dem Text jene Eindeutigkeit und Einfachheit, die ihn besonders zu Beginn der Erzählung zu bestimmen scheinen.

Mit Verortungen in Raum und Zeit zurückhaltend operierend, schildert Mack das Heranwachsen der Erzählerin und ihrer Schwestern in einer eher ärmlichen oberösterreichischen Bauernfamilie. Dass es vor ihnen bereits eine Tochter gegeben hat, die jedoch früh verstorben ist, durchzieht den Text als durchgehendes Thema. Im Vordergrund steht zunächst die Alltäglichkeit einer ländlichen Kindheit, die mit Begriffen wie „Krampus“, „Weinbeißer“ und „Gewandweib“ zudem eindeutig österreichisch konnotiert ist. Zumindest beim Rezensenten vermögen die Schilderungen eine Fülle eigener Kindheitserinnerungen auszulösen. Doch die Beschreibung der Familienverhältnisse und der sozialen Differenzierung sind weit universaler angelegt. In der ohne Zweifel patriarchalischen Grundstruktur sind es doch vor allem die weiblichen Figuren, die zu Wort kommen und auf denen der Fokus liegt. Es ist eine Frauenwelt, die nicht nur die Mutter und ihre Mädchen, sondern auch Nachbarinnen und Mägde, die auf dem Hof arbeiten, umfasst. Männer kommen kaum vor. Der Vater zum Beispiel spricht kaum, seine Gewalt ist bereits aus Sicht der kindlichen Erzählerin vor allem ein Zeichen dafür, dass er die ihm zugewiesene Rolle als Ernährer und Versorger der Familie kaum erfüllen kann, ist das Geld doch trotz seiner Arbeit immer knapp. Und seine Frau hält nicht damit zurück, ihm das auch mitzuteilen. Welche Rolle dagegen Frauen zu übernehmen haben, erweist sich im Roman als ein ständiger Verhandlungsprozess, der bereits in der frühen Kindheit einsetzt: „‚Du brauchst nur die Kinder bekommen, erklärte ich. Ihnen das Flascherl geben und sie wickeln. Das ist fast nichts.‘ ‚Darüber müssen wir noch reden, sagte Josefa.‘“

Die Frage, was sie werden will, begleitet die Erzählerin beim Heranwachsen, so auch als Aufsatzthema: „Ich dachte alle Berufe durch, die mir so einfielen: Verkäuferin, Friseurin, Bürokaufmann, Floristin. Nichts davon entsprach meinen Interessen.“ Doch es wird das unstandesgemäße, sommerliche Tennisspielen, das – wenn auch nicht als schließlich gewählter Beruf – die Lösung von den fest vorgeschriebenen Bahnen bewirkt. Ihr Trainer meint nach einem Testspiel zu ihr:

Wir möchten über deine Tenniszukunft mit dir reden, sagte Jürgen. Sie werden mir sagen, dass ich keine hätte. Dass es Zeit war, hier zu verschwinden. Weil mein Platz nicht unter den Besseren, den Geldigen war, sondern dort, wo sie meine Sprache redeten. Bei den jungen Leuten auf dem Land, wo man auf Bällen Walzer und Polka tanzte. Jürgen konnte nicht wissen, dass ich lieber Beatles und Bob Dylan hörte.

Doch zu ihrer Überraschung wird sie in den Verein eingeladen, eine Möglichkeit, ein Traum scheint wahr zu werden. „Gehörte ich doch hierher? Oder zu den Leuten im Dorf?“ Jede der Schwestern wird im weiteren Verlauf des Romans ihre Antwort auf diese Frage finden. Dazu gehört aber auch, dass sich im Laufe der Zeit nicht nur ihre Definitionen der Verhältnisse untereinander ändern, auch ihr Verständnis für ihre Eltern und die sie begleitenden Menschen ihrer Kindheit sind einem Wandel unterworfen. Die zu Beginn des Buches aus kindlicher Perspektive erzählten Ereignisse erscheinen oft in einem neuen Licht, was zu einigen Aha-Effekten beim Lesen führen kann. Zu zeigen, dass gesellschaftliche Tabus im Gespräch unter Frauen thematisiert und auch gebrochen werden, ist ein Verdienst des Romans, der durchaus zu rühren weiß. In einfacher Sprache werden darin komplexe Themen verhandelt. Ein Einwand muss aber doch erhoben werden: An einigen wenigen Stellen wäre es besser gewesen, den Traum Traum sein zu lassen und einer Tendenz zum überdeutlichen Auserzählen nicht nachzugeben. Legt doch bereits der Titel Solange wir träumen nahe, dass gerade in der Fähigkeit, sich auch anderes vorstellen zu können als das, was sichtbar vor einem liegt, Freiheit zu finden ist.

Titelbild

Christine Mack: Solange wir träumen. Roman.
Picus Verlag, Wien 2016.
183 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783711720344

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