Ein deutscher Liberaler

Bernt Ture von zur Mühlen hat zum 200. Geburtstag des Autors eine erste Biographie Gustav Freytags vorgelegt – und eine 2012 erschienene Monographie von Benedict Schofield kann als eine wichtige Ergänzung dazu gelesen werden

Von Christine AchingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Achinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1816 geborene Gustav Freytag war der wohl meistgelesene Schriftsteller des Nachmärz und der Gründerzeit. In den letzten Jahrzehnten war Freytag aus dem öffentlichen Gedächtnis jedoch so gut wie verschwunden. Er erschien auch in der wissenschaftlichen Diskussion fast nur noch als Verfasser des 1855 veröffentlichten Bestsellers Soll und Haben, der heute in erster Linie als Beispiel für den literarischen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts gilt. Seinen Zeitgenossen war Freytag allerdings bekannt als erfolgreicher Romancier, Dramatiker, Literaturtheoretiker, kultureller und politischer Journalist, liberaler Politiker, als Abgeordneter des norddeutschen Reichstags und jahrzehntelanger Mitherausgeber der Grenzboten, einer der führenden liberalen Zeitschriften für Politik und Kultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Trotz seiner offensichtlichen literatur- und diskursgeschichtlichen Bedeutung gab es zu Freytags Leben jedoch bislang nur wenige kurze Darstellungen. Zu Freytags zweihundertstem Geburtstag am 13. Juli hat Bernt Ture von zur Mühlen nun erstmals eine Biographie vorgelegt, die diese Lücke schließt und schon aus diesem Grund verdienstvoll genannt werden muss.

Zur Mühlen zieht für sein Unternehmen unter anderem die frühen Lebensbilder von Freytags Freunden und Weggefährten und Freytags eigene Erinnerungen aus meinem Leben heran, denen er allerdings als „Akt inszenierter Selbstdarstellung“ mit begründeter Skepsis begegnet. Vor allem aber stützt er sich auf Freytags veröffentlichte Briefwechsel mit Freunden, seinem Verleger, seiner dritten Frau und seinem Gönner Herzog Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha. Das Bild, das so entsteht, zeigt Freytag nicht nur als Schriftsteller, sondern ebenso sehr als leidenschaftlich ins Tagesgeschehen und die politischen Entwicklungen involvierten Liberalen und Journalisten. Freytags literarische Produktion wird zumeist nur in knappen, doch treffenden Zusammenfassungen behandelt. Trotz des Schwerpunkts auf Freytags Beteiligung an den politischen Diskursen der Zeit bleibt jedoch der Beitrag des Buches zu einer der drängendsten Fragen, die Freytags Person und sein literarisches Werk bis heute aufwerfen – der nach dem Verhältnis von Liberalismus einerseits und Nationalismus, anti-polnischem Rassismus und Antisemitismus andererseits – begrenzt. Die Publikation liefert aber neues Material, das es erlaubt, diese Frage mit größerer Präzision zu stellen.

Zur Mühlens Biographie ist flüssig geschrieben. Sie richtet sich ebenso an ein allgemeines wie an ein wissenschaftliches Publikum. Allerdings sind dieser Lesbarkeit viele Quellenbelege im Text zum Opfer gefallen. Zur Mühlens Funden genauer nachzugehen wird dadurch erschwert. Eine Verklärung des Gegenstands seiner Untersuchung unterläuft dem Biographen sicherlich nicht. Zwar wird Freytag als Mann von unerschöpflicher Energie und unerbittlicher Selbstdisziplin porträtiert, als stolzer Bürger und engagierter Liberaler, der den wiederholten Konflikt mit Zensur und Obrigkeit nicht scheut und auf allen erdenklichen Wegen Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung seiner Zeit zu nehmen versucht. Er erscheint als verlässlicher Freund und noch als über 70-jähriger als ein leidenschaftlich werbender und liebender Mann. Zur Mühlen porträtiert ihn aber auch als rechthaberisch und geltungssüchtig, als allzu sehr von der eigenen Bedeutung überzeugt. Er porträtiert einen Schriftsteller, dem die breite Aufnahme seiner Werke häufig wichtiger ist als deren literarische Qualität und der in seinen Erinnerungen aus meinem Leben vor Verdrehungen, Halb- und Unwahrheiten nicht zurückschreckt. Nicht zuletzt wird Freytag als preußischer Nationalist und Polenhasser profiliert.

Das beschriebene Leben hat sich augenscheinlich trotz persönlicher Schicksalsschläge und historischer Unruhen und Umbrüche erstaunlich stetig und mit wenig existenziellen Krisen und Richtungswechseln entfaltet. Freytag scheint früh von der eigenen Bestimmung als Schriftsteller eines zunehmend selbstbewussteren Bürgertums und als Berater von Fürsten und Staatsmännern überzeugt gewesen zu sein, und er hat diese Ziele mit großer Entschlossenheit und einer angesichts seiner häufigen Erkrankungen erstaunlichen Arbeitskraft verfolgt.

Zur Mühlen fördert zahlreiche Details zu Freytags Privatleben zutage, die bislang nur umrisshaft bekannt waren, und fügt dem Bild des Schriftstellers so neue Facetten hinzu. Das gilt zum Beispiel für den Einblick in Freytags drei Ehen, die alle einen wesentlich unkonventionelleren Verlauf nehmen, als man dies vom Prediger protestantischer Bürgertugenden erwartet hätte, aber auch voll schmerzhafter Entwicklungen sind, die Freytags ungebrochene Produktivität um so überraschender erscheinen lassen. So beschreibt zur Mühlen etwa Freytags jahrelanges Verhältnis mit der sechs Jahre älteren Emilie Gräfin von Dyhrn, bevor diese die Scheidung erreicht und 1847 Emilie Freytag wird, und ihre Demenzerkrankung und frühen Tod nach achtundzwanzigjähriger Ehe im Jahre 1875. Zur Mühlen rekonstruiert auch Freytags anschließendes Verhältnis zu seiner Haushälterin Marie Dietrichs, mit der er zwei Söhne zeugt, bevor sie zu seiner zweiten Ehefrau wird. Der Biograph sieht diese Beziehung als ein Verhältnis radikal Ungleicher, das als „erotische Ausbeutung“ begonnen haben mag, und er deutet die Eheschließung als Versuch Freytags, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Die schwere psychische Erkrankung Maries, die schließlich zu ihrer Einweisung führt, bleibt – wohl aufgrund der dürftigen Quellenlage – eher unbestimmt; der frühe Tod des erst sechsjährigen zweiten Sohnes während einer Diphtherieepidemie im Jahr 1884 wird ebenfalls nur kurz behandelt. Ein lebhafteres Bild dagegen entsteht von der intensiven Liebesbeziehung des mittlerweile fast siebzigjährigen Freytag zur mehr als drei Jahrzehnte jüngeren Jüdin Anna Strakosch, die 1891, nach Scheidung der bestehenden Ehen beider, schließlich zu seiner dritten Ehefrau wird.

Neben solchen Einblicken in Freytags Privatleben und einem Abriss seiner schriftstellerischen Produktion entwickelt zur Mühlens Biographie ein detailliertes Bild von Freytags politischen Aktivitäten und seiner lebenslangen Verortung im gemäßigt liberalen – später nationalliberalen – Lager. Als einziges Mitglied der Philosophischen Fakultät Breslaus, so zur Mühlen, hat der junge Privatdozent Freytag den Mut, sich zu seinem früheren Lehrer Hoffmann von Fallersleben zu bekennen, als dieser seiner obrigkeitskritischen Gedichte wegen aus dem Staatsdienst entlassen wird. Er engagiert sich in einem Hilfsverein für die schlesischen Weber und hat erste Erfolge mit seinem Stück Die Valentine, dessen adelskritische Ausrichtung – ebenso wie die späterer Stücke – ihm bald Probleme mit der Zensur einbringen sollte. Freytags Zeit als Dramatiker in Leipzig und Dresden bringt die Bekanntschaft mit Arnold Ruge, Julius Fröbel und Robert Blum und die Freundschaft mit Heinrich Laube. Eine unglücklich verlaufende Begegnung mit Karl Gutzkow, der als Dramaturg des Dresdner Hoftheaters an Freytags Valentine Veränderungen vornehmen will, um sie am zensurwilligen Intendanten vorbeizumanövrieren, trägt zur Erklärung des zeitlebens gespannten Verhältnisses beider Schriftsteller bei. Mit diesen Vertretern der radikalen Opposition teilt Freytag die Forderung nach einem deutschen Nationalparlament, dem Ende des Parteienverbots, der Abschaffung der Feudalrechte, einer Agrarreform und Pressefreiheit, auch wenn sich in den revolutionären Erhebungen des Jahres 1848 politische Gräben zwischen ihnen und dem preußischen Patrioten Freytag, dem Unordnung und Umstürze ein Gräuel sind, auftun sollten.

Ähnliche Ziele verfolgt Freytag auch als Mitherausgeber der Grenzboten, eine Rolle, die er zusammen mit Julian Schmidt im selben Jahr übernimmt. Die Freundschaft mit dem fortschrittlich gesinnten Herzog Ernst von Sachsen-Coburg und Gotha führt unter anderem zu Freytags Involvierung in die Gründung des ‚Literarisch-politischen Vereins‘, dessen Aufgabe das Einwirken auf die öffentliche Debatte zum „Schutz der deutschen Nation vor reaktionären und revolutionären Bedrohungen“ sein und der zur Vorläuferorganisation des Nationalvereins – und damit indirekt der Nationalliberalen Partei – werden sollte. Als Verantwortlicher für die Redaktion der Presseagentur des Vereins ist Freytag zeitweise sogar wegen Geheimnisverrat von einem preußischen Haftbefehl bedroht und nimmt zum Schutz vor Auslieferung die sächsisch-coburg-gothaische Staatsbürgerschaft und das nominelle Hofamt des herzoglichen Vorlesers an.

Einigen Raum gibt zur Mühlen Freytags ambivalenter Stellung dem Herzog gegenüber – einerseits fühlt sich der Autor durch diese Freundschaft und den Zugang zur Welt des Hochadels, den sie ihm gewährt, geschmeichelt und ist wiederholt von den Gunstbezeugungen des Herzogs abhängig, andererseits sieht er sich, wie zur Mühlen überzeugend darstellt, als Fürstenlenker, und sein Bürgerstolz bewegt ihn, die später angebotene Nobilitierung abzulehnen. Das Verhältnis beider erscheint emblematisch für die komplizierte Position des liberalen deutschen Bürgertums in einer immer noch feudalen Welt.

Die chronologische Zusammenschau von Freytags politischen und journalistischen Aktivitäten und der Entwicklung seiner schriftstellerischen Arbeit macht deutlich, wie sehr Freytags Werk der künstlerischen Umsetzung programmatischer politischer Positionen gewidmet ist. Zur Mühlen zeigt dies zum Beispiel überzeugend für Freytags Rechtfertigung preußischer Herrschaft über Polen in Soll und Haben, seine Beschwörung deutschen Volkslebens, das seine zeitgenössische Verkörperung im deutschen Bürgertum finde, in den Bildern aus der deutschen Vergangenheit und den Ahnen, und seine Kritik an der Vorrangstellung des Adels in verschiedenen Dramen und anderen Werken.

Die erhellende Parallelisierung von Freytags literarischer, journalistischer und politischer Arbeit hätte allerdings auch dazu Gelegenheit geben können, der Frage nachzugehen, wie sich die antisemitischen Motive in Soll und Haben zu Freytags Liberalismus und seinem expliziten Engagement gegen den Antisemitismus in späteren Jahren verhalten. Diese Frage erklärt das Buch jedoch implizit für gegenstandslos. Zwar benennt zur Mühlen deutlich die antisemitischen Motive im Roman, er sieht sogar einen „direkte[n] Weg“ von der Figur Veitel Itzigs zu Julius Streichers und Veit Harlans antisemitischen Zerrbildern und erklärt Verständnis für die Einsprüche Hans Mayers und anderer gegen die geplante Verfilmung des Romans durch Rainer Werner Fassbinder. Die Frage nach dem Antisemitismus in Freytags Werk verschiebt sich jedoch unmittelbar auf die Bewertung Freytags als Person: „Aber Freytag war kein Antisemit. Er hat mit der Darstellung des Veitel Itzig nur die antisemitischen Klischees seiner Zeit bedient“, schreibt zur Mühlen.  Freytag habe dies, wie der Biograph später ergänzt, „nicht zuletzt mit dem Nebengedanken an die Verkäuflichkeit seines Romans“ getan. Überdies präsentiere der Roman „nicht die rassische Herkunft Veitel Itzigs als Grund für seine kriminelle Entwicklung“, sondern die Umstände und die christliche Umwelt, und den negativen Judengestalten seien mehrere positive beigefügt. Dass Freytag als Person über den Verdacht des Antisemitismus erhaben sei, zeige sich auch in seiner expliziten Stellungnahme gegen Richard Wagners Antisemitismus in „Der Streit über das Judenthum in der Musik“ (1869) und insbesondere in seiner letzten Veröffentlichung, „Eine Pfingstbetrachtung“ (1893), in der Freytag sich ganz prinzipiell gegen den wachsenden Antisemitismus seiner Zeit wende.

Das Problem dieser Argumentation ist weniger, dass ihr eine problematische Annahme der Konstanz politischer Überzeugungen zugrunde zu liegen scheint. Auch wenn vierzehn oder gar fast vierzig Jahre Jahre spätere Veröffentlichungen kaum Freytags Position zur Zeit der Abfassung von Soll und Haben belegen dürften, ist zur Mühlen vermutlich zuzustimmen, dass Freytags Judenporträt im Roman – ganz im Unterschied zu seiner negativen Darstellung der Polen – keine systematische propagandistische Absicht zu Grunde liegt. Was hier aus dem Blick gerät, ist jedoch gerade die Tatsache, dass die Produktion und Reproduktion antisemitischer Denk- und Diskursmuster nicht unbedingt an die persönliche Abneigung gegen individuelle Juden gebunden sein müssen und nicht notwendig eine rassistische Vorstellung von Juden voraussetzen. Gerade diesem Umstand nachzugehen, hätte am konkreten Beispiel einen interessanten Beitrag zum Verständnis des komplizierten und widersprüchlichen Verhältnisses vieler deutscher Liberaler zur sogenannten ‚Judenfrage‘ leisten können. Damit hätte der Autor eine Frage berührt, die bis heute Relevanz besitzt.

Angesichts der Tatsache, dass zur Mühlen überzeugend zeigt, wie eng bei Freytag politisches Programm und literarische Produktion verbunden waren, drängt sich die Frage auf, welche Funktion den jüdischen Bösewichten im Gesamtprojekt von Soll und Haben zukommen soll. Das Hauptanliegen des Romans ist wohl kaum die Propagierung von Judenhass, hier hat zur Mühlen Recht – sondern, getreu nationalliberaler Überzeugungen, die Verklärung des deutschen Bürgertums und eines deutschen Wegs zur Moderne, frei von Entfremdung und ohne der Herrschaft abstrakter Mächte unterworfen zu sein. Zu fragen wäre, ob das Bild negativer jüdischer Figuren sich nicht gerade aus der Funktion erklärt, die ihnen für die Aufrechterhaltung dieses Gesellschaftsbildes zukommt: als Projektionsfläche für all jene Aspekte der Moderne, die die nationale Harmonie zu unterwandern drohen und die auf diese Weise exiliert werden können.

Zur Mühlens Biographie entschärft stattdessen die Frage nach dem Verhältnis von Liberalismus und Antisemitismus in Freytags Roman, indem die antisemitischen Gehalte gewissermaßen als akzidentell erscheinen, als seien sie mehr dem Schielen auf Verkaufszahlen als dem Weltbild des Autors geschuldet. Andererseits verstellt das Buch die entgegengesetzte Strategie, mit dem Skandalon eines liberalen Antisemitismus umzugehen, nämlich die, Freytags Liberalismus zu leugnen und so ein Bild des Liberalismus zu konservieren, das diesen ausschließlich auf der Seite des mutigen Kampfes für die Sache der Demokratie und des Universalismus sieht. Vielmehr stellt sich nach Lektüre der zu Mühlen’schen Biographie eine Frage um so dringlicher, warum ein Autor, der offensichtlich keinerlei Probleme hatte, sich im Berufs- und persönlichen Leben mit Jüdinnen und Juden zu umgeben, der schon früh zumindest prinzipiell die Judenemanzipation befürwortete und der später dem offenen Antisemitismus der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts explizit entgegentrat, sein Porträt einer national versöhnten deutschen Bürgerwelt dennoch durch den Kontrast zu jüdischen Gestalten entwickelte und stabilisierte. Freytags späterer Sinneswandel mag ihm persönlich zur Ehrenrettung gereichen; Soll und Haben illustriert dennoch die Entwicklung eines spezifisch modernen Antisemitismus – und zwar schon deutlich vor den 1870er Jahren, in denen dessen Aufstieg gewöhnlicherweise angesiedelt wird –, eines Antisemitismus zudem, der nicht notwendigerweise mit einer rassischen Vorstellung vom Judentum oder persönlicher Abneigung individuellen Jüdinnen und Juden gegenüber gepaart sein muss, und der sich nicht gegen, sondern in und mit der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft konstitutiert. Gerade darin liegt die Aktualität dieses literarischen Antisemitismus bei Freytag.

Diesen Fragen nach der Existenz, dem Wesen und dem Ursprung eines spezifisch liberalen Antisemitismus geht zur Mühlens Biographie nicht nach, und das ist wohl auch nicht sein Interesse. Das Buch liefert aber zusätzliches Material, sie zu stellen. Vor allem aber entwickelt der Text ein wesentlich differenziertes Bild von Freytag als Person, als es bislang zur Verfügung stand, und er beleuchtet exemplarisch seine literarischen und journalistischen Arbeiten als Reaktion auf die politischen Entwicklungen der Zeit.

*

Wo in zur Mühlens Biographie die literarische Analyse notwendigerweise eine Nebenrolle spielt, rückt sie in Benedict Schofields 2012 erschienener Monographie Private Lives and Collective Destinies. Class, Nation and the Folk in the Works of Gustav Freytag ins Zentrum. Schofield unternimmt eine Überblicksanalyse des Werks Gustav Freytags, die fast die gesamte Schaffensphase des Autors, von den frühen 1840ern bis zu Beginn der 1880er Jahre, umfasst. Er konzentriert sich dabei auf die Entwicklung der zentralen Themen Klasse, Nation und Volk und liefert so gleichzeitig eine literarische Biographie Freytags und einen Einblick in die Entwicklung seines politischen Denkens, die das stärker an äußeren Lebensumständen orientierte Buch zur Mühlens ausgezeichnet komplementieren. Angesichts der Vielfalt und des schieren Seitenumfangs des Freytagschen Werks hat Schofield sich keine kleine Aufgabe gesetzt; er erfüllt sie in einem kompakten Band von knapp über zweihundert Seiten mit Bravour. Die historische und literaturgeschichtliche Relevanz dieses Unterfangens liegt auf der Hand, wurde Freytags Werk doch trotz seines Einflusses aufs deutsche Publikum, abgesehen von Soll und Haben und vereinzelten Untersuchungen zu den Bildern aus der deutschen Vergangenheit und den Ahnen, in jüngerer Zeit kaum wahrgenommen – eine Verengung des Blicks, die Schofield überzeugend korrigiert.

Ähnlich wie in zur Mühlens Biographie ergibt sich auch bei Schofield das Bild einer hochgradigen Konsistenz der Themen und Motive. Die Konfrontation der korrupten und frivolen Welt des Adels mit der tätigen und sinnerfüllten Existenz des moralisch überlegenen Bürgertums ist bereits in Freytags frühen Dramen gestaltet; sie endet zumeist in Heiraten über Standesgrenzen hinweg, die die Vision des Aufgehens des Adels im Bürgertum gestalten. Für die Periode des Nachmärz konstatiert Schofield die zunehmende Verschränkung von klassenbezogenen und nationalen Themen, indem das Bürgertum zum Hüter nationaler Werte wird. In Soll und Haben (1855) werde jedoch auch dem Adel in der kolonialen Herrschaft über Polen letztlich doch eine Rolle im nationalen Projekt zugewiesen. In Freytags Arbeiten ab den 60er Jahren sieht Schofield eine Hinwendung zu historischen Stoffen im Dienste gegenwärtiger Belange. So spürt er etwa in Freytags Bildern aus der deutschen Vergangenheit (1859–1867) ebenso wie in den Ahnen (1872–1880) der Idealisierung der ‚Volkskraft‘ und der Deutung der deutschen Vergangenheit als eines langen Siegeszugs des Bürgertums nach. Eine erhellende Diskussion von Freytags Geschichtskonzeption als dialektischem Verhältnis von Individualität und ‘Volksleben’ in der Einleitung zu den Bildern, die Schofield auch in den Ahnen nachweist, rundet die Analyse ab.

Schofields Buch ist klar geschrieben und argumentiert überzeugend. Es betritt an vielen Stellen textanalytisches Neuland und vermag auch den unbekannteren Werken eines insgesamt nur noch wenig gelesenen Autors Aspekte abzugewinnen, die über ein Interesse an Freytag hinaus Licht auf politische Kernfragen insbesondere des Nachmärz werfen. Die von Schofield vermerkten Spannungen in Freytags Werk zwischen Klasse und Nation, Individuum und Gemeinschaft, nationaler Kontinuität und gesellschaftlichem Wandel oder antimaterialistischer Werthaltung und pro-kapitalistischer Orientierung verweisen sämtlich auf Kernprobleme liberaler Politik und gesellschaftlicher Modernisierung im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts, zu deren Verständnis Schofields Buch so indirekt auch einen Beitrag liefert.

Titelbild

Benedict Schofield: Private Lives and Collective Destinies. Class, Nation and the Folk in the Works of Gustav Freytag.
(= MHRA Texts and Dissertations 81 / Bithell Series of Dissertations 37).
Modern Humanities Research Association, London 2012.
219 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9781907322228

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Bernt Ture von zur Mühlen: Gustav Freytag. Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
272 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835318908

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch