Hör mal, was da dämmert

Jürgen Große über die Profession des Philosophen und andere Katastrophen

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach zahlreichen philosophischen Veröffentlichungen und Preisen für dieselben ist das zuletzt erschienene Buch Philosophendämmerung von Jürgen Große eine skeptische Abrechnung mit Praxis und Idee der Philosophie als Profession. Er selbst macht hier einen radikalen Bruch mit dieser und verkündet: „Ich bin kein Philosoph: Ich muss nicht zu allem eine Meinung haben. Aber freigekommen von den Philosophen bin ich erst, als ich das nicht mehr begründen konnte.“ Ganz wie dies schon in seinen metaphysischen Milieustudien, die der Philosophendämmerung vorangingen, der Fall ist, werden auch hier Eindrücke aus dem Alltag und Denken des freien Autors ironisierend verdichtet. In drei Textsorten ist der Band gegliedert – Aufsätze, Anekdoten und Aphorismen. Vorab sei gesagt: Dieses Buch lässt sich wahrscheinlich nur verstehen, wenn man selbst Philosoph ist und Denker – eine solche Unterscheidung nimmt Große mehrfach vor – und wenn man Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Sören Kierkegaard und Emil M. Cioran in ähnlicher Weise liest wie der Autor. Die Philosophendämmerung ist hochgradig persönlich und ein wertvolles Dokument individueller Weltperzeption, das an einer Bewertung streng genommen keinen Bedarf hat. Große fragt nach Leidenschaft und Produktivität des Berufsphilosophen, lotet die Grenzen von Stumpfsinn und Wahnsinn, von Stolz, Geltungsbedürfnis und Erniedrigung aus, belächelt den menschlichen Ehrgeiz und erfasst dabei doch selbst die Welt in seinen aphoristischen Ausschweifungen. Oder all das ist ein enormes Missverständnis und Jürgen Große möchte überhaupt nicht verstanden werden.

Gleich der erste Teil erschlägt den Leser mit einer Reihe von Aufsätzen, die ihr eigenes Thema sind: Mit Formeln wie „Reden und Schreiben“, „Lesen und Forschen“, „Gedankenleere und Gefühlsreichtum“, „Wahrheit und Geltung“, „Taumel und Fortschritt“ tituliert Große seine Texte. Problematisiert wird bereits zu Beginn die sinnentleerte Bemühung eines jeden Berufsphilosophen, ein Denken zu kultivieren und sich dabei zugleich gesellschaftlichen Gesetzen zu fügen. Große entgeht dem schon, indem er seine Überlegungen gänzlich auf Unbestimmtheit gründet. In den Aufsätzen wimmelt es von der Auflehnung gegen intellektuelle Posen, philosophische Anmaßungen und fehlende Glaubwürdigkeit. Dabei bleiben das Konkurrenzprinzip und der Zwang zur Originalität im Metier des individualistischen Geistesprofessionellen nicht unerwähnt. Die Wissenschaft gewordene Philosophie und ihre unermüdliche Produktion, letztlich die ins Nichts laufende Tatkräftigkeit des ehrgeizigen Schriftstellers, die begrifflichen Zwangsjacken zeitgenössischer Philosophie und die Nivellierung aller Erfahrungen in dieser selbstgewählten Geistesversklavung – Große hat eine liebevolle Hasspredigt gegen die Selbstgenügsamkeit und konstitutive Heuchelei der ihn umgebenden Welt verfasst. Gefragt wird, ob nicht gerade das Platznehmen am professoralen Schreibtisch, das Verfestigen der philosophischen Gedanken also, jedes mögliche Denken am Ende zum Stehen bringt. Großes Weltvermittlung ist, wie man es von ihm bereits gewohnt ist, in hohem Maße bildhaft und in dieser Bildhaftigkeit nur zu verstehen in einem Zustand vollkommener Hingabe an sein Werk. Der Schriftsteller führt in seinem Buch ein (manchmal) ernstes Gespräch mit dem Leser, und der Leser selbst mag weniger lesen als dass er lauscht.

Zugutehalten kann man diesem Ansatz vieles – die Philosophendämmerung ist jedenfalls mutig. Eine Aussage wie „Reisen verdummt und macht träge“ provoziert ebenso wie „Lob ist Liebe von oben herab“, Studierende sind überwiegend eine Enttäuschung, Dozierende ohnehin – und was werden Philosophiestudenten anderes als Lehrende! Den Teufelskreis der institutionalisierten Geistesversklavung sieht Große unendlich fortgesetzt, die Fließbandproduktion starrer Prinzipien im Feld der Philosophie empfindet er als insuffizient. Derlei aphoristische Provokationen stehen neben tiefgreifenden Thesen zu verfehlter Existenz im Streben, zum Unglück im Ich und zu erfüllender Verzweiflung im gebrochenen menschlichen Selbstverständnis, die mindestens mit Schopenhauers und Ciorans anthropofugalen Gedankengebäuden mithalten können und bis in die Kritik der Anthropologie als Ausdruck menschlicher Hybris reichen. Dann wieder schwingt die Stimmung um und Große schildert mit meisterhaft verschlagenem Humor und analytischem Blick eine alltägliche Szene während einer Zugfahrt, belächelt ganz in der Tradition philosophischer Geistesgrößen die Einfältigkeit so manchen weiblichen Geschöpfs, lässt aber auch die prahlerische Selbstinszenierung männlicher Kollegen nicht aus und widmet sogar einem abgewetzten Sitzpolster, auf dem bereits etliche Denkergesäße sich wälzen durften, einige gewitzte Zeilen. Jürgen Große, der zynische Loriot der Philosophie.

Doch die Texte sind vor allem eines – dicht. Große kritisiert den zusammengepressten Gedanken und presst zugleich selbst. Und das ordentlich. Nur kleine Überreste sind zu finden von der melancholischen Sogkraft seiner dreibändigen zivilisationskritischen Veröffentlichung Der gekränkte Mensch und der fließenden Eingängigkeit seiner Thesen und Begriffsbildungen; vielmehr führt die hauptsächliche Beschränkung auf die Kritik der professionellen Philosophie dazu, dass der Autor zuweilen von beeindruckend großen Kreisen in kleinere rutscht, sich in leicht überheblichen Anekdoten über Kollegen, sonstige Mitmenschen und deren Verhalten belustigt, woraufhin der Leser sich Große gezwungenermaßen mit süffisantem Lächeln, amüsiert über die eigenen Witze, vorstellen muss. Zuletzt lacht er über sich selbst. Zugegebenermaßen muss man mitlachen – und schämt sich dann für die eigene Arroganz.

Großes Philosophie oszilliert zwischen rauschender Poesie und forschender Beobachtung, und es ist ein Vergnügen, dem Schriftsteller dabei zuzusehen, wie er mit Absicht in die eigenen Fallen tappt und den Leser gleich mitzieht. Ihm geht es nicht länger um fertige Aussagen, sondern um Reibungsfläche. Hält er das Geistige für parasitär, so präsentiert er mit seinem Band das Gegenteil; hier haben wir es nicht mit einem „Geistessklaven“ intellektueller Redlichkeit, einem bezahlten „Geistesarbeiter“ zu tun. Keine Schreibwut ist zu erkennen, die Ideen überschlagen sich nicht, Satz für Satz ist frei und leicht und ohne Endgültigkeit. Denn, so stellt er fest, „mit Wahrheiten lässt sich keine Diskussion eröffnen“. Philosophie will größere Zusammenhänge konstituieren, vielmehr produzieren, und in Systemen zum Stehen bringen. Große verweigert sich dieser von ihm so empfundenen Missbildung der Professionsphilosophie und geht den anderen Weg: Bei ihm gibt es kein inhaltliches System, die Verfasstheit seines Werks hat keinen zielgerichteten, strebsamen Urheber, sie gleicht mehr einem reißenden Fluss ohne Kontrolle oder fremdbestimmte Zwänge. Soviel zum Inhalt.

Der Eindruck jedoch, dass Große ähnlich wie der Protagonist Tim in der US-amerikanischen Sitcom Hör mal, wer da hämmert exzessiv alle möglichen technischen Mittel ausreizt, um den Rezipienten dieses genialen Wahnsinns die optimale Show zu bieten, liegt leider nicht fern. Der Leser wird mit radikalen Standpunkten überschüttet: Das Leben ist Trauer („die Trauer, zu sein“), Ehrung ist Hohn, Misstrauen ist tief, Profession ist Prostitution, jeder Professionelle ein Zyniker, von Philosophen gibt es sowieso nur zwei Arten. Der Superlativ ist stets zur Stelle und rhetorisch aufgeladene Polarisierung ein Dauertopos. Das würde, wie auch in der Sitcom, unter normalen Umständen in einem Unfall enden. Zu sehr zwingt sich der Philosoph zuweilen dazu, kein Philosoph und doch ein Philosoph zu sein und dies ironisierend über einen explizit philosophischen Duktus zu persiflieren. Er schreibt fast wie Nietzsche über Nietzsche (und wie Nietzsche über das Schreiben über Nietzsche schreiben würde), er beschwert sich wie ein Berufsphilosoph über Berufsphilosophie (und berufsphilosophiert dabei emsig). Vielleicht ist das Sinn der Sache. Dass Große allerdings jedem zweiten Aphorismus das Bauprinzip der Antithese zugrunde legt, ist entweder eine Folge mangelnder Kreativität oder so offensichtliche Ironie, dass sie sich selbst nivelliert. Sein Buch hat stilistisch trotz des organischen, allen professionellen Zwängen trotzenden Inhalts den Charakter eines groben, handwerklichen Erzeugnisses. Indem alles in Widerspruch gesetzt wird, bleibt die Überraschung aus – fast lassen sich die einzelnen Aphorismen schon zu Ende denken, bevor man sie fertig gelesen hat, man hat sie fertig gelesen, bevor sie zu Ende gedacht wurden, und so weiter. Man kann jenen spielerischen Umgang mit den Regeln philosophischer Ausdrucksfähigkeit kunstgerecht nennen. Oder langweilig. Einige Aphorismen in das epische Präteritum zu setzen, rettet diese Janusköpfigkeit auch nicht mehr.

Nichtsdestotrotz entlarvt Große das spezifische Streben und die Reproduktionslogik, die philosophischen Karrieren innewohnen mögen, auf hervorragende Weise. Wohin geht die Philosophie, wenn Philosophen stets ihresgleichen zeugen? Wie viel Raum für das Denken hat ein Philosoph noch, wenn die meiste Zeit seiner Profession mit konsumtiver Produktion anderer Schriften gefüllt ist? Mit Recht bemerkt er an einer Stelle: „Ein Philosophenkönig ist, wer andere für sich denken lässt“, und provoziert den Leser damit bis zuletzt. Denken und Philosophieren bleiben zweierlei Dinge. Menschen denken, Philosophen machen ihren Job. Wenn jemand das Denken lehren möchte, so wirke dies stets lächerlich. Große selbst will nicht belehren – und tut es doch, manchmal subtil, noch häufiger mit dem rhetorischen Hammer. Über die Philosophie kann man von diesem außergewöhnlichen zeitgenössischen Denker – denn er wäre nach eigener Definition sicherlich mehr Denker als Philosoph  – jedenfalls genug lernen. Seine sarkastischen Glossen bringen den Lesenden möglicherweise eher zum Denken als dies ein philosophisches Einführungswerk leisten könnte. Insgesamt lässt sich Großes neuer Band, um mit den Worten des Philosophen zu sprechen, mit einem Augenzwinkern genauso rückhaltlos empfehlen, wie er rückhaltlos geschrieben wurde.

Titelbild

Jürgen Große: Philosophendämmerung. Aufsätze, Anekdoten, Aphorismen.
edition fatal, München 2014.
188 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783935147286

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