Szenen einer Ehe

Nell Zinks Romandebüt „Der Mauerläufer“ ist eine ironische Milieustudie

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im März 2016 widmete das Zeit Magazin der amerikanischen Autorin Nell Zink einen großen Artikel, kürte sie sogar zum Covergirl, posierend in BH, Slip und leichtem Satinhemd: ein echter eye-catcher also. Mutig war das und lässt den Gedanken nicht all zu fern erscheinen, dass das Zeit Magazin ganz vorne dabei sein wollte, wenn es ein literarisches Wunder zu feiern galt, nämlich dass eine Frau Anfang Fünfzig, befördert von niemand geringerem als Jonathan Franzen, ihr literarisches Debüt vorlegt. Nun erschien Nell Zinks in den USA schon 2014 veröffentlichter Roman Der Mauerläufer auch in Deutschland, sicher nicht zufällig bei Franzens deutschem Verlag Rowohlt. Im Zeit Magazin emanzipiert sie sich erfrischend frech von ihrem berühmten Förderer, mit dem sie zwar die Leidenschaft für Vogelkunde teilt, jedoch offenbar weniger das Streben nach künstlerischer Gefolgschaft oder gar tieferer Dankbarkeit dafür, die Veröffentlichung ihres Romans vermittelt zu haben. So lernt man Nell Zink als kauzige, kritische und vielleicht auch ein wenig unbedarft in den literarischen Betrieb hinein gestolperte Frau kennen, die es als Amerikanerin in die deutsche Provinz nach Bad Belzig verschlagen hat.

Und so kauzig wie Nell Zink sich selbst präsentiert, ebenso kauzig ist Tiffany, die Erzählerin des Romans. Als Schreibkraft in einem Pharmaunternehmen in Philadelphia lernt sie Stephen kennen, einen Ingenieur, der im Unternehmen an der Entwicklung von medizinischen Geräten arbeitet. Beide heiraten drei Wochen nachdem sie sich kennengelernt haben. Stephen möchte gerne aufsteigen und lässt sich nach Bern versetzen, um von dort aus bald an der Entwicklung des „Apparats“ mitwirken zu können, einem Gerät, das alle möglichen Organe im Körper ersetzen können soll. Doch stattdessen baut er „Ersatzteile für alkoholabhängige Raucher“. Die Ehe zwischen Tiffany und Stephen ist einer der Hauptverhandlungsgegenstände des Romans und auch nur eines der vielen irritierenden Momente, denn was diese beiden Menschen zusammenhält (Tiffany: „Mir wurde klar, dass er überhaupt nicht so war wie ich.“) ist mehr als rätselhaft. Die über den Text verstreuten Liebesbekundungen beider bleiben nämlich allzu oft bloße Behauptungen.

Das größte Rätsel aber ist Tiffany selbst. Es gibt literarische Figuren, die sind aus bestimmten Gründen unausstehlich, im besten Falle auch einfach nur unsympathisch. Tiffany ist solch eine literarische Figur, die fast jeden emotionalen Zugang abwehrt durch ihre äußerst distanzierte Haltung sich selbst und der Welt gegenüber. Dies ist der Erzählperspektive geschuldet, denn Tiffany erzählt über sich aus einer Distanz von mehreren Jahren, sie betrachtet ihr früheres Ich in gewisser Weise wie ein wissenschaftliches Objekt. Mit dieser erzählten Figur vertraut zu werden ist nahezu unmöglich, was nicht als ästhetisches Urteil zu verstehen ist, sondern ein Verfahren des Textes selbst darstellt. Denn für die Erzählerin Tiffany ist die Figur Tiffany in jeder Hinsicht ein unsteter Charakter. Und doch hat sie sich an Stephen gebunden, folgt ihm von Philadelphia nach Bern und Berlin, schließlich landet sie in der ostdeutschen Provinz. Von sich selbst sagt sie: „Ich tat nur Dinge, zu denen ich mich stark motiviert fühlte“. Und da dies äußerst selten vorkommt, ist ihr so ziemlich alles egal. Sie lässt das Leben einfach geschehen, nimmt, was sich ihr bietet beziehungsweise tut wenig, um Dinge zu verhindern. Dass diese Distanz ein Verfahren des Textes ist, zeigt sich gerade am Schluß, denn Tiffany selbst schreibt an einem Roman mit dem Titel Der Mauerläufer. Auf der letzten Seite zeigt sich dann eine durchaus sympathische Tiffany, die mit ihrem früheren Ich scharf ins Gericht geht.

Doch zunächst beginnt der Roman geradezu klassisch mit einer in medias res-Situation: Stephen und Tiffany sind im Auto unterwegs, „als Stephen plötzlich ausscherte, gegen den Felsen schrammte und die Fehlgeburt verursachte.“ Er ist einem Vogel ausgewichen, der nun scheinbar tot am Straßenrand liegt. Ein Mauerläufer, wie Stephen noch vor dem Zusammenprall erkannte und weshalb er auch ausweichen wollte. In einem klassisch gebauten Roman würde die Fehlgeburt als Ausgangspunkt einer Reihe von Entwicklungen dienen, was sie in Der Mauerläufer jedoch nicht tut. Zwar erahnt man hinter der kühl-betrachtenden Perspektive Tiffanys, dass ihr die Fehlgeburt durchaus nahegeht, doch sie liefert gerade kein psychologisches Deutungsangebot für die Figur Tiffany.

Es ist vor allem der Mauerläufer, der das Leben von Tiffany und Stephen gehörig durcheinanderbringt. Sie nehmen ihn bei sich auf, sorgen sich um seine Libido, richten ihm das Haus her, das bald von Hobby-Ornithologen belagert wird, die alle einen Blick auf den Mauerläufer werfen wollen. Als sie ihn schließlich schweren Herzens in die Freiheit entlassen, müssen sie beobachten, wie er von einem Greifvogel getötet wird.

Der Mauerläufer ist der Motor, der die Geschichte in Gang bringt, der das Leben Tiffanys und Stephens aus der gewohnten Bahn wirft, denn die Begegnung mit dem Vogel löst vor allem bei Stephen den Drang aus, sich fortan für Umweltschutz zu engagieren. Als er in Bern auf die Global Rivers Alliance (GRA) aufmerksam wird, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Flüsse zu renaturalisieren, das heißt deren Begradigung rückgängig zu machen, beginnt Stephen sich intensiv daran zu beteiligen, auf Konferenzen zu fahren, Gelder zu sammeln und schließlich sogar seinen Job zu kündigen, um gänzlich für die GRA zu arbeiten, die schon bald nach Berlin umzieht. Und mit ihr Tiffany und Stephen.

Aus dieser Wendung der Geschichte entwickelt sich schließlich eine ironisch gestimmte Studie über das Milieu der NGOs, in dem sich hoch engagierte Menschen für wenig oder kein Geld verausgaben, ein Milieu, in dem oft nur die charismatischen Chefs Aufmerksamkeit bekommen. Im Kontext dieser prekär beschäftigten Arbeiterklasse werden Themen ironisch gebrochen verhandelt, wie Vegetarismus, Promiskuität, Spendenwesen, Berlin und anderes. Tiffany lässt sich nach und nach ebenfalls in dieses Milieu hineinziehen, jedoch nicht ohne ihre kritische wie egalistische Haltung aufzugeben. Sie macht mit und weiß, dass sie mit ihren Aktionen nichts bewegen wird. Am Ende wird Tiffany davon erzählen, dass sie schließlich doch noch einmal studiert hat, nämlich Hydrogeologie und damit schließlich mehr zu bewegen vermag als mit jeder ihrer unüberlegten Aktionen zuvor. Mit ihren Studien kann sie nämlich dazu beitragen, „das Ausbaggern der Elbe verboten teuer zu machen.“

Der Mauerläufer reißt in ironischer Brechung eine Vielzahl an Themen an. Es ist ein Eheroman und ein Umweltroman, der sicher vom in den letzten Jahren aufgekommenen Ecocriticism geprägt ist, ein Selbstfindungsroman und auch ein Emanzipationsroman. In dieser Fülle an Registern, die der Roman bedient, ist man am Ende dann doch ein wenig ratlos, weil erstaunlich wenig in Erinnerung bleibt. Die Dialoge sind stark selbstreflexiv und jede Figur deutet ihre Handlungen und Motivationen selbst, dass dem Leser nur wenig Raum für eigene Vorstellungen bleibt. Deshalb berühren diese Figuren auch kaum, geben trotz ihrer teils verschrobenen Kauzigkeit keine Reibungsfläche, an der man sich als Leser entzünden könnte, sei es nun gegen oder für die jeweiligen Figuren. Auf halber Strecke schon beginnen die milieu-kritischen Bonmots, die ironischen und mitunter auch sarkastischen Analysen Tiffanys mehr zu stören als zum Nachdenken anzuregen. Das ist schade, denn die erfrischende Sprache, die Laxheit im Erzählen und die oft treffenden Beschreibungen deutscher Verhältnisse haben etwas für sich.

Titelbild

Nell Zink: Der Mauerläufer. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Überhoff.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
192 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783498076542

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