Mord und andere Sehnsüchte

Über Erzählungen des zu Unrecht vergessenen Expressionisten Alfred Lemm

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das expressionistische Jahrzehnt war reich an Autoren, die weder ein hohes Alter noch eine lang anhaltende Bekanntheit erreichten. Einer dieser genialischen frühverstorbenen und längst kaum mehr gelesenen Dichter ist Alfred Lemm, der – wie der Herausgeber des vorliegenden Bandes beteuert – „selbst im Reich der vergessenen Schriftsteller, unter all den Verlierern der Literaturgeschichte […] schwer zu finden wäre“. In der Tat: Selbst einschlägige Einführungsbände in die Literatur des Expressionismus erwähnen Lemm nicht. Es muss bezweifelt werden, dass die neue, von Nils Gelker besorgte Ausgabe der erstmals 1918 erschienenen Erzählungen Lemms am Bekanntheitsgrad des Autors entscheidendes ändern wird. Zu fremd scheint uns die Prosa des Expressionismus mittlerweile geworden zu sein, zu zahlreich die Namen derer, die gleichermaßen dem Vergessen entrissen werden müssten. Im Falle Alfred Lemms ist diese mutmaßlich auch weiter anhaltende Nichtbeachtung allerdings schlichtweg ein Jammer. Es gilt, ein großes Talent zu entdecken, das trotz seines jugendlichen Alters einen ganz eigenen Ton gefunden hat. Doch auch abseits von literarhistorischer Beflissenheit: Lemms Texte sind eine große Freude.

Alfred Lemm, mit bürgerlichem Namen Alfred Lehmann, lebte von 1889 bis 1918 in Berlin. Neben politischen Essays und einem Roman („Der fliehende Felician“, 1917) schrieb Lemm Erzählungen, die er in zwei Bänden unter dem Titel „Mord“ veröffentlichte. Der erste Band trägt den Untertitel „Erzählungen“, der zweite „Versuche“, was allerdings weder bedeutet, dass die Texte des zweiten Bandes nun weniger erzählerisch, noch dass sie weniger ausgereift sind. Darüber hinaus ist der Titel insofern irreführend, als hier keine Kriminalliteratur im klassischen Sinne vorliegt. Es geht nicht um die Aufklärung von Mordfällen. Wohl aber steht zumeist – in gewissermaßen bereits degenerierter Novellentradition – ein „unerhörter Vorfall“, ein „zerstörendes Ereignis“ im Mittelpunkt. Diese Begebenheiten sind fast immer drastische Todesfälle oder andere Verbrechen, sei es der Mord einer aufgewühlten Großstadtmasse an einem Außenseiter, der buchstäblich zermalmt wird (in der großartigen Erzählung „Der Herr mit der gelben Brille“), oder die mit deutscher Gründlichkeit und Beflissenheit ausgeführte fahrlässige Körperverletzung mit Todesfolge in „Radfahrer Behnke oder Wie wird man Mörder?“ – einem kleinen Glanzstück der Verbrechensliteratur. Auch von Selbstmördern erzählt Lemm in nicht minder grotesker Weise, wenn sich ein panischer Mann auf der Flucht vor seiner nackten Braut aus dem Fenster stürzt.

Der weltumstürzende Krieg, das epochale Ereignis seiner Generation, hinterlässt geradezu unausweichlich seine Spuren in Lemms Werk, wenngleich nicht mimetisch oder als vordergründiges Sujet (und schon gar nicht verklärend). Nur in „Die Hure Salomea“ spielt „der große Krieg“ eine größere Rolle, aber auch abseits der Schlachtfelder und Lazarette ist die menschliche Gesellschaft bei Lemm von kriegerischen Konstellationen, von Gewalteruptionen, destruktiven Gelüsten und gestörten Ordnungen geprägt. Zwar steht nicht überall ein Mord am Ende, doch es scheint, als habe sich Lemm den mephistophelischen Vers „Und auf Vernichtung läuft’s hinaus“ zum Motto erkoren. Selbst wenn am Ende einer Erzählung die Ordnung wieder hergestellt erscheint, kündigt sich der nächste Exzess bereits an.

Beeindruckend ist neben der sich in imposanten Sprachbildern Ausdruck verschaffenden Drastik von Lemms Prosa das Vermögen des Autors, mit unterschiedlichen Genres und Tonlagen zu spielen. Eine Taugenichts-Geschichte wie „Der Arme Reinhold“ (die schon im Titel anklingende Nähe an Franz Grillparzers Novelle „Der arme Spielmann“ ist kein Zufall) zählt ebenso zu seinem Repertoire wie Versatzstücke der  Schauerliteratur („Der Ausländische Professor“) oder amüsant anmutende, dann aber doch wieder ins Groteske kippende Charakterstudien („Die Schauspielerin, ihre Kammerfrau und von Zapkow“). Nicht zu vergessen sind der hintergründige böse Humor und der Hang zu geradezu lyrischen Bildern am Ende der Erzählungen, mit denen die Leser in angeregter Ratlosigkeit zurückgelassen werden. Die Texte versperren sich gegen einfache und offensichtliche Erklärungen. Was bleibt, sind Sehnsüchte, poetische Stimmungen, in denen stets ein Untergang schwelt. Mag sein, dass Lemm nicht über die gleiche Brillanz verfügt wie die Allergrößten seiner Generationsgenossen, etwa die ebenfalls mit dem Expressionismus verbundenen Gottfried Benn, Franz Kafka oder Alfred Döblin. So groß wie der Abstand der literarhistorischen Beachtung ist der Abstand des Talents jedoch mitnichten.

Nicht zum ersten Mal gelingt es dem Wehrhahn Verlag, dem kulturellen Gedächtnis entfallene Texte (auch aus dem Umfeld der Verbrechensliteratur) wieder zugänglich zu machen. Das kluge und informative Nachwort von Nils Gelker rundet eine gelungene Edition ab. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Verlag weiterhin solche Preziosen ausgräbt – und dass künftige Einführungsbücher zum literarischen Expressionismus Alfred Lemm nicht mehr übersehen.

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Alfred Lemm: Mord. Erzählungen und Versuche.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Nils Gelker.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2014.
148 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783865253941

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