Nichts läuft mehr in San Francisco

Jim Nisbets Roman „Der Krake auf meinem Kopf“aus dem Jahr 2007 spielt in einer Stadt im Niedergang

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Curly Watkins ist Musiker in San Francisco. Einer, der sich nach dem großen Hype anders als viele seiner Freunde, von denen einige schon längst tot sind, hinübergerettet hat ins alltägliche Geschäft in kleinen Cafés und Bars. Dort spielt er mit seiner Gitarre für ein immer wieder neu auszuhandelndes schmales Salär gegen den Lärm der Laufkundschaft an. Und während er dabei an die Tage des Punk zurückdenkt, von denen ihm nicht mehr als ein großes Krakentattoo auf dem kahlen Kopf geblieben ist, muss er Tag für Tag jene Ohrwürmer intonieren, die er insgeheim hasst.

Kein Wunder deshalb, dass er sich bemüht, seinen alten Freund Ivy Pruitt, einen begnadeten Schlagzeuger, zu überreden, es noch einmal mit einer Band zu versuchen, sich nicht unterkriegen zu lassen von den Verhältnissen. Doch Pruitt hat den gemeinsamen Weg schon lange verlassen, hängt am Stoff und schlägt sich mit kleinen, in der Regel illegalen Geschäften durch. In die lässt sich schließlich auch Watkins einspannen und schon ist der Traum von einer zweiten, gigantischen Musikerkarriere ausgeträumt.

Jim Nisbet ist einer jener amerikanischen Autoren, deren Namen sich in Deutschland noch nicht allzu weit herumgesprochen haben, obwohl sie es seit Langem verdient hätten. In den USA kennt man den 1947 Geborenen als Romancier, Lyriker, Dramatiker und Essayisten. Hierzulande sind drei von seinen insgesamt dreizehn Romanen inzwischen erschienen, ein vierter befindet sich in Vorbereitung. In die deutsche Wikipedia hat das den in San Francisco lebenden Autor noch nicht gebracht, aber immerhin reagiert die Feuilletonkritik durchgehend euphorisch auf seine Werke.

Das überdimensionale Krakentattoo jedenfalls verleiht seinem Besitzer genau jene gefährliche Aura, die beim Schuldeneintreiben von Vorteil sein kann. Obwohl Watkins eher der friedfertige Typ ist, sorgt sein Anblick für ungute Gefühle und hebt automatisch die Zahlungsmoral. Warum also nicht für ein paar zusätzliche Dollars sorgen, wenn dazu nichts weiter nötig scheint als ein grimmiger Gesichtsausdruck? Und so schlittert Nisbets Held gemeinsam mit der aktuellen Flamme des nach einer Drogenrazzia im Gefängnis auf seine Auslösung wartenden Kumpels Pruitt in eine Geschichte hinein, zu deren Ingredienzien Mord und einer der fiesesten Serienkiller, die je der Fantasie eines Schriftstellers entsprangen, gehören.

San Francisco verkörperte im Laufe seiner Geschichte viele Träume. Hierher kamen die Hippies in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts und feierten mit Scott McKenzie – „There’s a whole generation – with a new explanation – people in motion.“ – den „Summer of Love“ und die Stadt an der Westküste der USA als Anziehungspunkt für all jene, die sich als Gegner des politischen Establishments der USA verstanden. Später wurde San Francisco zum Magneten für Homosexuelle und im nahe gelegenen Silicon Valley entwickelte sich der bedeutendste HighTech- und IT-Standort weltweit mit den Firmensitzen von Apple, Google, Yahoo, eBay, Intel, Amazon, um nur ein paar der bekanntesten zu nennen.

In Nisbets Roman, der nach dem Platzen der Dotcom-Blase und nach dem nationalen Trauma von Nine-Eleven spielt, ist das alles Vergangenheit, untergegangen „zugunsten einer prächtigen Insel der Topimmobilien, die den Namen San Francisco noch immer für sich beansprucht.“ Hier wird nicht mehr der Traum von der großen Freiheit jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge geträumt, sondern um das tagtägliche Überleben gekämpft. Drogenkonsum dient statt der von Timothy Leary und anderen in den Hippie-Jahren gepredigten halluzinogenen Bewusstseinserweiterung nun allein dem Vergessen des Elends, von dem man zunehmend umgeben ist. Und Musik, Literatur und Bildende Kunst, einst wesentliche Bestandteile der Gegenkultur und ihr Spiegelbild zugleich, haben im Zeitalter der „weltweit überhandnehmenden Ausgeburten […], die kaum etwas lasen, erst recht keine Bücher“, längst ihre einstige Bedeutung verloren. Bei Ivy Pruitt liegen die Bücher jener Autoren, die man damals las – Hermann Hesse, Aldous Huxley, Germaine Greer, James Baldwin, Tom Wolfe und Ho Chi Minh, Simone de Beauvoir, Thomas de Quincey und all die anderen –, aktuell in einem großen Haufen am Boden „zwischen Warmwasserboiler und Spülschrank“.

Der Krake auf meinem Kopf ist, indem er den Niedergang einer Stadt samt der mit ihrem Namen einst verbundenen Kultur und Lebensutopie registriert und anhand von drei Einzelschicksalen beschreibt, mehr als nur ein schlichter Spannungsroman mit dem Aufdruck „Pulp“. Indem er die Sehnsüchte seiner Figuren an ein „Goldenes Zeitalter“ zurückbindet, macht Jim Nisbet überaus deutlich, wie weit die Vereinigten Staaten von heute von dem Weg abgekommen sind, der sie einmal so anziehend erscheinen ließ. Dass allein noch ein Serienkiller Ordnungsvorstellungen in dem allgemeinen Chaos zu entwickeln vermag, ist dabei so bezeichnend wie pervers. 

Titelbild

Jim Nisbet: Der Krake auf meinem Kopf.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ango Laina und Angelika Müller.
Pulp Master Verlag, Berlin 2014.
320 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783927734487

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