Von konservativ-normativen Perspektiven zum radikalfeministischen Roman

Codela Weiss-Sussex hat mit ihrer Studie „Jüdin und Moderne“ eine lang überfällige Untersuchung zum literarischen Selbstbild deutschsprachiger Jüdinnen um 1900 vorgelegt.

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich gehen Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus gerne Hand in Hand. Besonders unangenehm fiel in dieser Hinsicht Anfang des 20. Jahrhunderts ein Buch auf, das im deutschsprachigen Raum etliche Jahre Furore machte und unter der Akklamation diverser Intellektueller wie Elias Canetti und Karl Kraus zahlreiche Auflagen erreichte. Die Rede ist von Otto Weinigers 1903 erschienenem Werk Geschlecht und Charakter. Seit etlichen Jahrzehnten stoßen seine Thesen allerdings (fast) nur noch auf negative Resonanz, dabei wird es in Untersuchungen zum Juden- und Frauenbild um 1900 allerdings nach wie vor als historisches Dokument herangezogen. Nicht nur die (allzu oft antisemitischen) Vorstellungen über Juden und die (zumindest ebenso oft misogynen) Weiblichkeitskonstruktionen der Zeit sind inzwischen einigermaßen erforscht, sondern – spezifischer – auch das damalige Bild der jüdischen Frau etwa in der zeitgenössischen Literatur des deutschen Sprachraums. Weitgehend unbeachtet blieb dabei allerdings die Konstruktion jüdischer Weiblichkeit in literarischen Werken deutschsprachiger Jüdinnen. Dem Abhilfe zu verschaffen ist Godela Weiss-Sussex mit ihrer unter dem Titel Jüdin und Moderne erschienen Untersuchung zu „Literarisierungen der Lebenswelt deutsch-jüdischer Autorinnen in Berlin zwischen 1900 und 1918“ angetreten, mit welcher der doch erklecklichen Anzahl der „vorliegenden Arbeiten zum Fremdbild der deutschen Jüdin“ endlich eine „Untersuchung ihres Selbstbilds“ zur Seite gestellt wird.

Die Autorin zieht hierzu vier denkbar unterschiedliche Texte ebenso unterschiedlicher Autorinnen heran. Der literarischen Trias Die Intellektuellen (1911) von Grete Meisel-Hess, Elisabeth Landaus unter dem Pseudonym L. Audnal veröffentlichtem Roman Der Holzweg (1918) und dem unter den beiden Titeln Die Familie Lowositz (1908) und Rudolf und Camilla 1910) erschienenen zweibändigem Romanwerk von Auguste Hauschner hat Weiss-Sussex ein Kapitel über Else Croners völkerpsychologische Studie Die moderne Jüdin (1913) vorangestellt und den triadischen Untersuchungskorpus so zur Quadriga vervollständigt. Das Werk Croners hat die Autorin in ihre Untersuchung aufgenommen, weil es sich dazu anbietet, „auf der Grundlage von Kontextualisierungen und Vergleichen einen Überblick über die  zeitgenössische Diskurste zum Begriff der Jüdin zu schaffen“.

Die untereinander so divergenten Texte verbindet die für ihre Auswahl bestimmende Gemeinsamkeit, dass sie mit der „gesellschaftlichen Einbindung deutsch-jüdischer Identität“, den „Konzeptionen von Weiblichkeit“ und der „Erfahrung der großstädtischen Lebensumwelt“ allesamt nicht nur „drei Kernfragen der Moderne“ thematisieren, sondern als „Ausdruck des Ringens um neue Formen persönlicher und gesellschaftlicher Positionierung im späten Kaiserreich“ darüber hinaus auch „für die gesellschaftliche  Position der Autorinnen selbst bestimmend sind“.

Weiss-Sussex zieht die drei Faktoren „Deutsch-Judentum“, „Weiblichkeit“ und „großstädtischer Raum“ als „Diskursachsen“ heran, auf denen sie „Positionsbestimmungen“ der untersuchten Werke vornimmt. Dabei stellt sie gerade „die inhaltliche und strukturelle Vielfalt“ der Texte in den Mittelpunkt, die sie „paradigmatischen Analysen“ unterzieht. Die inhaltlich und formal „sehr verschiedenen Entwürfe“ der vier Autorinnen decken ein weites Spektrum divergierender Standpunkte und Sichtweisen ab. Sie „reichen von der Positionierung der deutschen Jüdin als Führerin geistiger und sozialer Erneuerungsbewegungen zu resignierter Aufgabe deutscher Volkszugehörigkeit; von der Propagierung einer Rückkehr zum traditionellen Rollenverständnis der Frau zu radikalem Feminismus; und von der Ablehnung des großstädtischen Lebensentwurfs zu dessen enthusiastischer Bejahung.“ Gemeinsam ist den vier Autorinnen dabei, dass sie durch und mit ihren Texten ihr „soziales Engagement öffentlich äußern und sich in gesellschaftliche Diskurse einmischen“. Ein Interesse der vorliegenden Untersuchung liegt nun darin, herauszuarbeiten, „wie die Autorinnen über die Verwendung literarischer Mittel ihren Beiträgen zu zeitgenössischen Debatten Gehör verschafften“.

Doch noch eine zweite Gemeinsamkeit prägt die untersuchten Texte: Sie alle sind durch das „Spannungsverhältnis von (sozialpolitischer) Gleichheit und (biologischer) Differenz“ der Geschlechter geprägt, das sie „oft über die Begriffe der Mütterlichkeit und Mutterschaft verhandeln“. Dies kann nicht verwundern, da Mütterlichkeit, die bis dahin „als ‚natürliche‘ Kernkomponente von Weiblichkeit verstanden und auf den privaten Bereich der Familie festgeschrieben“ war, mit und nach der Jahrhundertwende Weiss-Sussex zufolge als „Inbegriff des empathischen, altruistischen Wesens von der bürgerlichen Frauenbewegung unter dem Banner der ‚erweiterten‘ oder ‚geistigen Mütterlichkeit‘ konfiguriert“ wurde, „der nicht nur im Rahmen der Familie zu erfüllen ist, sondern im öffentlichen Bereich, im Rahmen der Nation“. Hierzu ist einschränkend anzumerken, dass dieses Hohe Lied auf (soziale) Mütterlichkeit durchaus nicht von allen Feministinnen der Zeit mitgesungen wurde. Es war insbesondere der gemäßigte Flügel, der es anstimmte, nicht die Minderheit der Radikalen. Rosa Mayreder etwa beklagte vielmehr „die Domestizierung des Weibes zur Mütterlichkeit“ und Hedwig Dohm polemisierte schon 1902 in den Antifeministen gegen die damals allgegenwärtige Propaganda, welche „die Mütterlichkeit bis zum Überdruß in den Himmel – den siebenten Himmel – erhob“.

Jedem der vier Quellentexte – Hauschners zweibändiger Roman wird hier nur einmal gezählt – ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das Weiss-Sussex jeweils mit einem einführenden Abschnitt zur jeweiligen Autorin eröffnet. Sie sind nicht einheitlich gestaltet, sondern sinnvollerweise auf die jeweilige Autorin zugeschnitten. So befasst sich etwa der Meisel-Hess gewidmete Abschnitt insbesondere mit dem Bund für Mutterschutz, dessen Begründerin und langjährige Vorsitzende die Verfasserin der Intellektuellen war. Der Croner vorstellende Teil fokussiert hingegen auf das „geistige Umfeld der ‚jüdischen Renaissance‘“.

Croner ist diejenige der vier Autorinnen, über deren Biographie am wenigsten bekannt ist. Sicher ist allerdings, dass sie Romane, Erzählungen, auch Märchen sowie 1906 eine Studie über Fontanes Frauengestalten veröffentlichte. Einige pädagogische und psychologische Arbeiten, die sich an ein breites Publikum richteten, zählen ebenfalls zu ihrem Œuvre. In fortgeschrittenerem Alter konvertierte sie zum Christentum – Weiss-Sussex vermutet, dies sei bereits vor 1925 geschehen. Für die Zeit nach 1933 macht Weiss-Sussex eine „offensichtliche Annäherung“ Croners an „faschistische Denkmodelle“ aus. Noch vor dem Ende der Naziherrschaft schied Croner 1942 im Alter von 63 Jahren durch Suizid aus dem Leben.

Croners Buch eignet sich Weiss-Sussex zufolge nicht nur aufgrund seiner „Spannweite und Vielschichtigkeit“ dazu, wie kein anderes „Grundlage für ein einleitendes Kapitel zu einer Studie über Konzeptionen von Weiblichkeit und Judentum in Berlin“ zu sein, sondern auch, weil es „die möglichen Positionsbeziehungen zur identitären Beschreibung der Jüdin“ deutlich macht. Die „diskursive Verwirrung“, der Croner dabei erliegt, sei der Thematik selbst inhärent. Croners Verhältnis zum Judentum und jüdisch-Sein reicht „von schwärmerischer Verherrlichung über kritische Beobachtung bis zu rassistischer Diskriminierung“. Demzufolge unterlaufen ihr geradezu zwangsläufig diverse „Unstimmigkeiten und Paradoxa“. Dabei vertritt sie einen biologistisch und essentialistisch begründeten konservativen Weiblichkeitsbegriff, der Frauen von Bildung und Berufsleben „ausschließt“. Emanzipierte Frauen schilt Croner zwar nicht in ihrer Studie über die moderne Jüdin, aber doch in einem Tagebuch-Roman als „moderne Zwitterfrauen“.

Das von ihr entworfene „Idealbild der Jüdin“ deckt sich dementsprechend mit „einem von religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit unabhängigen konservativen Begriff der Frau als Schwester, Ehefrau und Mutter“.  So kann es nicht wirklich erstaunen, dass Croners Auffassungen sich immer wieder in „gefährlicher Nähe zu den misogynistischen und antisemitischen Thesen Weiningers“ bewegen. Vor allem aber lässt Weiss-Sussex deutlich hervortreten, wie Croners „Idealbild der Jüdin als ‚Kulturträgerin‘“ ein ums andere Mal durch argumentative „Brüche und Ambivalenzen“ durchkreuzt wird, „die aus der Kollision von dissimilatorischen mit assimilatorischen und zum Teil rassistischen Diskursen entstehen“.

Während Croner das Idealbild der Jüdin an die traditionelle Rolle der Frau in der Familie bindet, verhandelt und verdeutlicht Auguste Hauschner in ihren Weiss-Sussex zufolge noch immer „unbedingt lesenswerten“ Romanen um das Geschwisterpaar Rudolf und Camilla Lowositz an ihrer Protagonistin „die psychologischen Kosten weiblichen Gehorsams“, ohne dabei allerdings „anti-bürgerlich“ zu sein. Vielmehr zwingt Hauschner „feministisch-kritische Ansätze mit konservativ-normativen Perspektiven“ zusammen.

Die Verfasserin der vorliegenden Untersuchung unternimmt eine überzeugende  Neuinterpretation und -bewertung der beiden Romane, indem sie aufzeigt, dass die weibliche Figur Camilla ebenso „facettenreich“ entwickelt wird wie diejenige ihres Bruder Rudolf und beider Rollen somit „gleichgewichtig“ sind. Die bisherige Rezeption – selbst von Feministinnen wie Gertrud Bäumer – übersahen das und fokussierten ihr Interesse fast ausschließlich auf den männlichen Part des Geschwisterpaares. Weiss-Sussex arbeitet erstmals Camillas „Zerrissenheit zwischen patriarchalischen jüdischen Familienstrukturen und dem Versuch des Ausbruchs in eine freier Lebensgestaltung“ heraus und zeigt zudem, dass das „Leiden der Geschwister am Judentum“ den ebenfalls oft übersehenen „thematische Kern“ des Romans bilden, in dem „der jüdische Brauch der arrangierten Ehe zentrale Bedeutung einnimmt“. Die „patriarchalische Gewalt“ dieses Brauchs „fesselt die kultivierte und an deutschen Bildungswerten orientierte Bürgerstochter an eine Lebenswelt, von der sie sich zu lösen sucht“, und bildet somit den „Knotenpunkt“ der von Hauschner in den Romanen entworfenen jüdischen Weiblichkeit.

Wie schon  in Hauschners Romanen steht auch in Die Intellektuellen von Grete Meisel-Hess ein jüdisches Geschwisterpaar im Mittelpunkt: Stanislaus und Olga Diamant. Anders als jene musste ihr nach fast einem Jahrhundert seit einigen Jahren immerhin als elektronische Ressource erneut zugänglich gemachtes Werk allerdings keine ähnlich fehlgehenden Interpretationen erdulden, zumindest von Wissenschaft und Forschung nicht. Denn die haben den Roman, anders als die sexualtheoretischen Werke der Autorin, bislang so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen. Ein Versäumnis, das sich kaum erklären lässt. Umso größerer Dank gebührt Weiss-Sussex dafür, sich seiner angenommen zu haben.

Die von Weiss-Sussex als „paradigmatische Entwicklungswege“ interpretierten Biographien der Geschwister Diamant führen die Lesenden durch ein „Panorama der Moderne“, in dem „verschiedene Lebensmodelle, von George-Kreis-ähnlichen Zirkeln bis hin zum asketischen Neu-Buddhismus“ vorgestellt und „die Aufgabe und Zukunft der Frau“ sowie die zeitgenössische „Stellung des Judentums“ diskutiert werden. Wie schon bei Croner und Hauschner kommt auch in Meisel-Hess’ Roman der Frage der Mutterschaft „zentrale Bedeutung“ zu, hier allerdings für einen „positiven, zukunftsorientierten Entwurf von Weiblichkeit“. Denn die Gründerin des Bundes für Mutterschutz erhebt in ihrem „radikalfeministischen“ Roman Mutterschaft zur „Möglichkeit selbstbestimmten Eingreifens in gesellschaftliche Prozesse“. Zudem entwirft sie anhand ihrer Protagonistin Olga „ein optimistisches und selbstbewusstes Bild einer deutschen Jüdin“, indem sie diese zur „intellektuellen und sozialen Führerin“ macht, „deren Reformwillen Sozialismus, Eugenik, radikalen Feminismus und jüdische Assimilation unter einen Hut bringt“.

Weiss-Sussex liest Meisel-Hess’ Buch als „monistischen Weltanschauungsroman, der auf Wissenschaftsdiskurse in der Nachfolge Darwins zurückgreift sowie auf von Goethe und Hedwig Dohm entwickelte Modelle des Bildungsromans“. Dabei zeigt sie auf, dass Meisel-Hess’ Werk „auf auffallend minutiöse Weise“ Hedwig Dohms „weiblichem Entwicklungsroman“ Christa Ruhland folgt und dabei zugleich – das ist das eigentlich Interessante! – Dohms „strukturelle Vorlage“ dazu nutzt, „deren Gedankenführung auf subtile aber entscheidende Art auf andere Gleise zu bringen“, so dass sich „Olgas Weg als Fortführung der Entwicklung Christas lesen“ und „in gewisser Weise sogar als Abschluss“ verstehen lässt.

In L. Audnals Roman Der Holzweg entdeckt Weiss-Sussex gegenüber den bisher beleuchteten Werken einige „interessante neue Akzente und Verschiebungen“, die sie auch darin begründet sieht, dass der spätere Entstehungszeitraum – nämlich nicht vor, sondern während des Ersten Weltkriegs, ein „wesentlich anderes Anliegen“ bedingte. Zwar macht die Literaturwissenschaftlerin „ein ähnlich reformorientiertes Gedankengut“ wie bei Meisel-Hess aus, doch der Vorkriegsoptimismus in Bezug auf die Lage der deutschen Juden, sei nun „Bitterkeit und Resignation“ gewichen. Anhand zweier Figuren verhandelt Audnal die beiden Möglichkeiten, die den deutschen Juden nun noch zu bleiben schienen, um sich zu ihrem Judentum zu bekennen: entweder trotz des erstarkenden Antisemitismus um Gleichstellung und Anerkennung zu ringen oder Deutschland zu verlassen, wobei Weiss-Sussex zufolge kein Zweifel an Landaus „Parteinahme“ für die zweite Option bestehen kann. Wie in den anderen beleuchteten Werken spielt auch in Audnals Roman die Mütterlichkeit eine prominente Rolle, die in dem Roman den als lebenserhaltendes „weiblichen Prinzip“ den Gegenpol zur „todbringenden Großstadt“ bildet.

Godela Weiss-Sussex hat zwar vor allem deshalb eine bedeutende, ja wegweisende Untersuchung vorgelegt, weil sie erstmals das literarische Selbstbild deutschsprachiger Jüdinnen in ein angemessenes Licht rückt. Doch bietet sie darüber hinaus oft luzide Interpretationen der von ihr behandelten Werke, wobei die Analyse des Romans von Meisel-Hess noch einmal besonders positiv hervorsticht.

Titelbild

Godela Weiss-Sussex: Jüdin und Moderne. Literarisierungen der Lebenswelt deutsch-jüdischer Autorinnen in Berlin (1900–1918).
De Gruyter, Berlin 2016.
275 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110447477

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