Hermeneutischer Eros

Der Tübinger Philologe Ernst A. Schmidt lotet die Liebe in Dichtung und Philosophie der Antike aus

Von Cathrin NielsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cathrin Nielsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Sappho-Zitat des Buchtitels, „Das süßbittre Tier“ – der Vers der griechischen Dichterin aus Mytilene vom „süßbittren Eros“ –, markiert das Grundmotiv antiker Liebesvorstellungen, denen der emeritierte Tübinger Altphilologe Ernst A. Schmidt in seiner großen Untersuchung zur Liebe in Dichtung und Philosophie der heidnischen Antike nachgeht. Im letzten Kapitel des fast 600 Seiten starken Bandes, einem in Anlehnung an Roland Barthes’ Fragments d’un discours amoureux (1977) inspirierten „ABC der Liebe in der antiken Literatur“, findet sich eine kurze Notiz zu dem zusammengesetzten Adjektiv des „Süßbittren“, die in ihrer Subtilität, Genauigkeit und, ja, Leidenschaft etwas von dem grundsätzlichen Gestus dieses Buches verrät. Schmidt schreibt hier, für die Titelgestalt „Das süßbittre Tier“ (wo wir doch eher das geläufigere „bittersüß“ erwarten würden) seien vor allem drei Gründe ausschlaggebend gewesen: Erstens: Die geforderte Treue der Übersetzung; zweitens: die Phänomenologie: Die Süßigkeit der Liebe rangiert ihrem Erfahrungsgehalt nach eindeutig vor jeder Bitterkeit, und drittens der Rhythmus, das spezifische Wie einer Aussage, ihr innerstes Organisationszentrum. Bei der Wendung „das bittersüße Tier“ handle es sich nämlich um einen „rhythmisch harmlosen“ halben jambischer Trimeter, während „das süßbittre Tier“ einen Dochmier bilde, und damit „ein typisch tragisches Maß, dessen Ton immer Dringlichkeit und Emotionalität transportiert.“

Das ist exakt jene Form von Genauigkeit, die auch der von ihm untersuchten Liebesliteratur innewohnt und die sie zu einem „Erkenntnisinstrument“ ersten Ranges werden lässt. Denn, wie Schmidt den Schweizer Germanisten Peter von Matt zustimmend zitiert, das einzelne Werk (Hymnus, Drama, Epos, Ode, Elegie), der einzelne Vers, ja die einzelne Wortfügung, das scheinbar flüchtigste Maß ihrer phonetischen, rhythmischen und musischen Eigenart, stellen nicht einfach Positionen innerhalb eines Ganzen dar, sondern etwas, „das allen Systemen, die es einfangen möchten, Widerstand leistet“ (Peter von Matt) – gerade weil es in seiner sprechenden Einzelheit ein unendliches Gewicht gewinnt, wie eben das (oder der oder die), was man liebt. Die Liebe wägt jedes Detail ab, sie verwahrt sich gegen Verkürzung, Eingemeindung und Kitsch auch da, wo sie rabiat wird, rasend, ungeheurlich. Zur Eigenart gerade der antiken Liebesliteratur gehört nach Schmidt in einem fundamentalen Sinne, dass sie in ihrer Essenz auf Erkenntnis aus ist. Sie ist Gedankenarbeit von existenzieller Dringlichkeit, Anstrengung des Verstehenwollens, und darin charakterisiert durch eine Analyse der eigenen Erfahrung, der jede Form von Sentimentalität abgehe und die sich stattdessen durch die grundlegende Bereitschaft auszeichne, sich zu verwandeln. „Die Liebenden sind unmittelbar betroffen und sehen sich doch in dieser Betroffenheit mit wachster diagnostizierender Verstandesaufmerksamkeit. Sie erkennen ‚ich rase‘ und rasen.“

Auch Schmidt folgt in seiner Philologie der Liebe dieser aufmerksamen Sachlichkeit und damit einer Form von Objektivität, die nichts mit szientistischer Distanznahme zu tun hat, sondern mit Erkenntnisinteresse, mit Beteiligung, damit, etwas über sich selbst zu erfahren. Seine Untersuchung ist nicht als Handbuch oder Kulturgeschichte des Liebens angelegt, sondern ausdrücklich als „Interpretation“. Sie zeichnet sich durch ein langsames Lesen aus, „tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen“, wie Friedrich Nietzsche (ursprünglich selbst Klassischer Philologe) die Fähigkeit des Interpretierens umschreibt – eine Fähigkeit, die in der gegenwärtigen universitären Bildungslandschaft, auch und vor allem in den sogenannten Geisteswissenschaften, mitsamt der Liebe zur Sache hinter Kompetenzorientierung und Nützlichkeitsbestrebungen rigoros zurückzutreten hat. Zugleich mit der Frage nach der Liebe und ihren Bildern stellt die großartige Untersuchung Schmidts daher die Frage: Was heißt lesen? Dabei lässt er die ganzen hysterischen Vorvergewisserungen – Ist das heute noch relevant? Ist mein Instrumentarium up to date? Welches gesellschaftliche Input ist zu erwarten?– souverän links liegen (nicht jedoch Reflexionen bezüglich seiner Herangehensweise als solcher!) und überzeugt, indem er sich mit Lust, Erfahrung und den stupenden Kenntnissen eines Fachgelehrten auf den Weg der Aneignung und des Verstehens begibt, auf die verzweigten Spuren des geschriebenen Wortes über das Mysterium und Existential der Liebe. Das Ergebnis ist eine „Lese“ im besten Sinne des Wortes.

Schmidt folgt der Grundüberlegung, dass unsere Liebesbilder nach wie vor durch die Literatur der Vergangenheit geprägt sind, und zwar nicht nur durch das höfische Liebesideal des Mittelalters oder die Romantische Liebe, sondern auch und keineswegs zuletzt von der Antike. Es lassen sich demnach Subtexte, Korrespondenzen und Kontinuitäten nachverfolgen, die unser heutiges Erleben der Liebe, ihre Verheißungen, Täuschungen und Frustrationen, Seligkeiten und Tricks mit dem jener Menschen zusammenschließen, die zwei-, dreitausend Jahre vor uns bemüht waren, ihrer eigentümlichen Macht Menschlichkeit zu verleihen. Man vergleiche beispielsweise die wunderbar komplexe Deutung der Polarität Unsterblichkeit-Sterblichkeit in der Liebe des Odysseus zu seiner wartenden Frau Penelope, die eigentlich erst durch die betörende Umwerbung durch die Göttin Kalypso, die Odysseus zu ihrem Gemahl und damit unsterblich machen will, ihre humane Substanz gewinnt. Odysseus’ schmerzlicher Wunsch, nach Hause zu kommen, wird zum gegen die alters- und geschichtslose Göttin gerichteten „Willen zu sich selbst als zu einem Sterblichen, als zu einem Leidenden, als zu einem Wollenden und damit Zukunft habenden“.

Dennoch gehören die Liebesgöttinnen und -götter wie auch die archaische Auffassung von der welterzeugenden Potenz des Eros zu den spezifischen „Überschüssen“ des antiken Liebeskonzepts, die keine Fortsetzung im christlichen Europa finden. Auch fehlt der Antike die Alternative zwischen egoistischer und altruistischer Liebe (Freundschaft und Selbstliebe gehören antik gedacht zusammen), wie jene zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, deren Moral und Anthropologie der späteren Geistesgeschichte angehören. Antik „kann Liebe unvernünftig sein; das ist sie aber nicht, weil sie nur sinnlich wäre. Und wenn Liebe vernünftig ist, so nicht etwa deshalb, weil sie auf Sinnlichkeit verzichtete. Auch ist Liebe weder selbstlos noch selbstsüchtig; sie ist dieses beides so sehr nicht, daß es nicht einmal sinnvoll ist, von einem ausgeglichenen Tauschgschäft zu sprechen.“ Und auch das, was Schmidt in Anlehnung an John Ruskin pathetic fallacy nennt – die Übertragung einer komplexen Liebesgeschichte auf ein einzelnes ‚Zeichen‘ (ihr Parfum, ihren linken Schuh, den Namen der Straße, in der sie wohnt), das die Einbildungskraft des Liebenden totalisiert und zur süßen Hölle werden lässt: l’amour passion – ist der Antike fremd, nicht dagegen der Riesenphallos als Symbol der geistigen Zeugungskraft, die auch Platon im Charmides in vieldeutiger Weise anspielt, wenn er Sokrates berichten lässt, er habe neben dem Charmides gesessen und ihm unter das Gewand gesehen und „entbrannte und war nicht mehr bei mir“.

Bei den ausgewählten Texten handelt es sich unter anderen um den homerischen Aphroditehymnus, den Venushymnus von Lukrez, Teile aus den homerischen Epen Ilias und Odyssee, Hesiods Theogonie, Vergils Aeneis, Platons Symposion, Aristoteles’ Nikomachische Ethik (Buch 8 und 9) und die Metamorphosen Ovids sowie Plotins Schrift Über das Schöne; die Liebeslyrik Sapphos wird ebenso behandelt wie jene von Catull, Horaz’ Oden, Dramen von Euripides, Plautus und Seneca, darüber hinaus hellenistische Liebesepigramme, bukolische Verse, römische Liebeselegien (Properz, Tibull), Liebesnovellen und Ehebruchsschwänke (Apuleius). Aber auch die Stimmen von Novalis, Hugo von Hofmannsthal und Jean Paul sind zu hören, von Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Wolfgang von Goethe, Auguste Barbier, Paul Valéry, Eduard Mörike, Heinrich von Kleist, Adalbert Stifter, Joseph Conrad, Robert Musil, Max Kommerell oder Martin Heidegger und – immer wieder – Julia Kristevas Histoire d’amour (1985), Roland Barthes’ Fragments d’un discours amoureux (1977), Niklas Luhmanns Liebe als Passion (1982) und Peter von Matts Liebesverrat (1989) als ständige Begleiter. Ein hochdifferenziertes Register erlaubt dem, der es möchte, die gezielte Suche, und auch das sprechende Inhaltsverzeichnis sowie das bereits erwähnte „ABC der Liebe in antiker Literatur“, das mit etwa 80 Einträgen das Schlusskapitel bildet, erleichtern den Zugang zu diesem reichhaltigen Buch, das man sicher eher mehrmals und immer wieder anders in die Hand nehmen und befragen wird, als es in einem Happen zu verschlingen.

All diese Stimmen (das Register nennt Autoren und Texte; Sachen und Begriffe; Götter, mythologische und fiktive Personen beziehungsweise Personen in fiktionalen Texten; Gelehrte) ergeben ein wundersames Gespräch durch die Zeiten hindurch über diesen mächtigsten Strom im Leben mit seinen tausend Verzweigungen, Resonanzen, Provokationen und Gedächtnissen, ein Gespräch über zahllose Geschichten, die uns bewohnen, und die weiterhin ihre offenen Enden bereithalten und ihre unzähligen Anfänge. Liebe ist mit anderen Worten durchaus mehr als ein „Gefühl“ (oder Gefühle waren einmal mehr als bloße subjektive Regungen und Affekte) und selbstverständlich auch mehr als jenes neurochemische Feuerwerk des limbischen Belohnungssystems, zu dem zeitgleich ein Forscherteam am Tübinger Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik sie erklärte, während der Philologe Schmidt sich ein paar Hausecken weiter an die Lektüre der alten Texte machte und den „Erwartungen an die Liebe im Leben und Lesen“ nachging. Schmidt selbst hält sich nebenbei gesagt nicht bei solchen despektierlichen Vergleichen auf, dazu ist er zu sehr bei der Sache. Dem trägt auch der Vers von William Wordsworth Rechnung, den Schmidt als Motto über das erste der insgesamt sechzehn Kapitel setzt: „and I will dare to tell / but in the lover’s ear alone“.

Titelbild

Ernst A. Schmidt: Das süßbittre Tier. Liebe in Dichtung und Philosophie der Antike.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2016.
584 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783465039488

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