Der göttliche Kosmos der kreativen Zeugung

Die Neuherausgabe der Gedichte von Else Lasker-Schüler kombiniert den Anspruch einer kritischen Ausgabe mit Lesevergnügen

Von Sandy SchefflerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Scheffler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Acht Gedichtbände sind von Else Lasker-Schüler von 1902 bis 1943 zu ihren Lebzeiten veröffentlicht worden. 1996 erschienen ihre Gedichte, bearbeitet von Karl Jürgen Skrodzki unter Mitarbeit von Norbert Oellers, als „Kritische Ausgabe“ innerhalb der „Werke und Briefe“ im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp. Seinerzeit bot die Gedichtausgabe erstmals einen umfassenden Einblick in die Chronologie und Textgestaltung des lyrischen Schaffens von Else Lasker-Schüler. Ein eigens erstellter Teilband zur Gedichtausgabe stellte seinen „Anmerkungen“ eine Auflistung der „Sammelhandschriften“, der „Selbständigen Buchveröffentlichungen“ und der „Unselbständigen Gedichtdrucke“ voran. Mit den „Anmerkungen“ zu den Gedichten spezifizierte er die Textgeschichte bezogen auf „Überlieferungen“, „Erläuterungen“, „Varianten“ und „Lesarten“. Ergänzt wurde dieses nützliche Werkzeug durch eine Verskonkordanz und ein Schlagwortregister. Ziel war es, leitmotivische Begriffe und ihren Gebrauch nachzuvollziehen und somit verschiedene Textstellen miteinander in Beziehung setzen zu können. Dies war vor allem im Hinblick auf typische Lasker-Schüler’sche Wortschöpfungen hilfreich, die sich eher aus einem vergleichenden Bezug auf diverse Belegstellen erschließen lassen denn durch sachliche Argumentation. Man denke hierbei an Neologismen wie „Himmelsrose“, „Irrlichtauge“ oder „Scharlachblume“. Zudem druckte die kommentierte Ausgabe zahlreiche Gedichte aus dem Nachlass der Lasker-Schüler, der sich in der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek zu Jerusalem befindet, erstmals ab.

Die von der Literaturwissenschaftlerin Gabriele Sander neu herausgegebenen Gedichte sind nun in einem 509 Seiten starken Band im Reclam Verlag erschienen. Die Kommentare stellen die Gedichte in einen autobiografischen Zusammenhang und weisen die breite Vernetzung von Else Lasker-Schüler mit dem (Berliner) Kultur- und Literaturbetrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus. Die Lyriksammlung setzt auf Vollständigkeit, auf Chronologie und auf eine sorgfältige Sichtung von Dopplungen und Ähnlichkeiten. Damit wird dem Leser und Forscher das Erschließen von Parallelismen und Ähnlichkeitsbezügen leicht gemacht. Insbesondere da bekannt ist, dass Lasker-Schüler ihre lyrischen Beiträge oftmals Umformungen und Bearbeitungen unterzog. So hat man sich für einen Abdruck zwar ähnlicher, aber in ihrer Textgestalt doch deutlich differenzierter Gedichte unmittelbar hintereinander entschieden. Dies gilt für diejenigen Gedichte, die Lasker-Schüler „in doppelter Version nebeneinander abdrucken ließ“, selbst wenn sie deutliche Überlappungen zeigen, wie es bei den Gedichten „Vorahnung“, „Ahnung“ und „Ballade“ (Erste Fassung / Zweite Fassung) der Fall ist. Einmal mehr kommt hierin das „typische Verfahren der Mehrfachverwertung“ zum Ausdruck. Der Band beginnt mit den „Gedichten nach den Erstdrucken“. Ihnen folgen „Ausgewählte Gedichte aus dem Nachlass“. Bei Gedichten, die in Periodika erschienen sind, wird nur auf die gedruckte Buchform verwiesen. Bezüglich weiterer Erscheinungsorte verweist die Neuausgabe für Interessierte auf die „Kritische Ausgabe“ von Skrodzki, die sämtliche Details hierzu aufführt. Der zweite Gedichtteil verzichtet derweil auf Gedichte, die selbst Fragmente oder Fragmente aus Prosatexten sind, wie sie etwa die „Tagebuchzeilen aus Zürich“ (1938) enthalten, da sie ohne ihren Kontext teilweise schwer zu verstehen sind.

So wie Lasker-Schülers Eva in dem Gedicht „Erkenntnis“ in der Allianz mit Gott zur „Gott-Seele“ wird, gerät sie zur Quelle der kreativen Zeugung – „Sich selbst schaffend“. Dies geschieht „ungestüm raffend“, temperamentvoll und mit dem unbedingten Willen zur Gestaltung, wächst sich aus und überragt schließlich alles: Zeit und Raum, Anfang und Ende. So wird der Leser der Gedichte in den Lasker-Schüler-Kosmos hineingezogen und von dem Tanz der Energien zwischen den Zeilen fortgerissen. Schmerzhaftes Leiden und die Sehnsucht nach Befreiung und Entgrenzung gehen ganz in der religiös gefärbten Thematik der Expressionisten auf. Weltanfang („Im Anfang – Weltscherzo“) und „Weltende“ loten dabei die Pole aus, zwischen denen sich die Tragik von Zeitzerrissenheit und sehnsuchtsvoller Schmerzfreiheit deutlich zeigt:

Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär,
und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer. […]

Du, wir wollen uns tief küssen…
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
an der wir sterben müssen.

Die Ahnung, dass die „Gott-Seele“ in der Welt keine Auflösung der Tragik erfahren kann, mag in den letzten beiden Zeilen zum Ausdruck kommen. Die Diskrepanz zwischen weltentgrenzender Erfüllungssehnsucht und weltbegrenzter Realidentität führt einen inneren Bruch herbei, den auch die Küsse in der Welt nicht zu heilen vermögen. So irrt die „Gott-Seele“ vom ersten Anfang bis zum letzten Ende auf der Suche nach dem Gotteskuss im Dunkeln oder muss es vielleicht sogar, „Um mit dem Wolkenbild / In die Himmlischkeit zu ziehn“. Dennoch oder gerade deswegen bekennt sich Lasker-Schüler als Künstlerin, die ganz im Leben steht. Das Leben durch die Kunst hindert Lasker-Schüler nicht daran, die sozialen und gesellschaftlichen Lebensumstände sehr genau mitzuverfolgen und in ihren Gedichten zu spiegeln, etwa in den Exilgedichten: „Wie lange war kein Herz zu meinem mild…. / Die Welt erkaltete, der Mensch verblich.“ Weder im Leben noch in der Gesellschaft erkennt sie eine Ausnahme vom Künstlersein an: „[W]ir Künstler sind einmal bis ins tiefste Mark und Bein Aristokraten“. Derart geadelt wird die Kunst nicht zur Lebensverzierung, sondern sein expressiver Ausdruck selbst. Dichterin und Dichtung, Künstlerin und Kunst verschmelzen zur Personifikation des Künstlerischen selbst. So ist es nahezu folgerichtig, dass sich Lasker-Schüler als Figuren wie Tino von Bagdad oder Jussuf Prinz von Theben kreiert und auch ihr Umfeld in diesen Kunstkreis mit einbezieht. Da wird etwa der Prager Literaten- und Kunstförderer Max Brod in einem Brief zum „Prinz von Prag“. Selbiger Brief ist unterzeichnet mit „Ihre Tino von Bagdad“.

Das stetige Pendeln zwischen den Polen Sehnsucht, (kurzzeitige) Erfüllung und Schmerz des Nichtgelingens durchzieht die gesamte Lyrik der Lasker-Schüler. Hymnisches, gottgesegnetes Lieben kämpft gegen profanes, dumpfes Leiden an. Darin findet jedoch keine Auflösung des beständigen Hin- und Herfallens zwischen Schmerz und Glückseligkeit statt, vielmehr schöpft die Dichterin aus dem Riss ihre literarische Kunstfertigkeit. Dabei arbeitet sie sich durch biografische Erlebnisse zu empfindsamen Ausdruck in poetischen Gedichten vor und deckt indes sämtliche existentielle Lebensbereiche ab: Liebe und Sexualität, das Sterben und der Tod, Welt und Wunder sowie die beständige Sehnsucht nach göttlicher Vereinigung, die im Lieben und im Leben anvisiert wird, jedoch in ihrem Ringen mit den Polaritäten unerreichbar bleibt, sind ihre Themen: „O ich möchte aus der Welt! / Aber auch fern von ihr / Irr ich ein Flackerlicht // Um Gottes Grab“. Das Gebet nimmt eine wichtige Stellung ein, so dass Lasker-Schüler einigen Gedichten einen Gebetscharakter verleiht oder sie gleich selbst „Gebet“ nennt.

Auch ihre Liebesszenen rückt sie in die Nähe einer blaugefärbten Göttlichkeit: „Und wir wollen unter Pinien / Heimlich beide umschlungen gehn, / In die blaue Allmacht sehn“ oder „O, Deine Lippen sind sonnig …. / Diese Rauschedüfte Deiner Lippen …. / Und aus blauen Dolden, silberumringt / Lächelst Du … Du, Du.“ Stets ist sie eine Heimatsuchende („Heimweh“), in der Liebe, im Leben und in Gott („Gott wo bist du?“ oder „Und suche Gott“). Dabei bleibt die Erfahrung auf allen Gebieten von Verlustgefühlen durchdrungen und nährt beständig die Sehnsucht, die die sprachpoetischen Bilder ihrer (Liebes-)Gedichte formt: „Ich will meine Augen nicht mehr öffnen / Wenn sie sich nicht / Mit deiner Süße füllen.“ Die Nähe zu Musik und Tanz betont das Bewegungsmoment, das ständige Flirren auf dem bunten Ball der Möglichkeiten. Textintern wie -extern sind die Lust am Spiel und am Abenteuer unverkennbare Zeichen der Lasker-Schüler’schen Lyrik: „Kinder waren unsere Seelen, / Als sie mit dem Leben spielten, / Wie die Märchen sich erzählen.“ Der Augenblick der Erfüllung darf dabei allerdings nur kurz sein, kann nicht dauern und muss fließend sich in Neues begeben. Zum Teil wird das Flirrende, Bewegungshafte auch als „Irren“ ausfindig gemacht und doch bleibt das suchend Sehnende dominant für den Kunstkosmos der Dichterin und wird ihr zum Quell der poetischen Kreativität und Produktivität.

Titelbild

Else Lasker-Schüler: Die Gedichte.
Herausgegeben und kommentiert von Gabriele Sander.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
509 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783150109540

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