(Fast) Alles über Krimis …

… in 10 einfachen Sätzen

Von Jochen VogtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Vogt

Als der deutschamerikanische Poltersänger Bill Ramsey mit seinem Schlager „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett …“ von 1962 auch das Kürzel „Krimi“ erst richtig populär machte, hatten seine Fans vermutlich die blutroten Romänchen von Edgar Wallace oder Agatha Christie aus dem Wilhelm Goldmann Verlag im Sinn. Die lagen ja, wie man hörte, auch beim Bundeskanzler auf dem Rhöndorfer Nachttisch. Aber weder Bill & Mimi noch Konrad Adenauer sollen uns von der Feststellung abhalten:

1. Der Krimi ist kein Roman.

Jedenfalls nicht immer und nicht von Anfang an. Tatsächlich ist die Kurzform „Krimi“, die wir umgangsprachlich für bestimmte Geschichten, Bücher, Filme oder Fernsehserien verwenden (oder auch für Fußballspiele, die erst in der Nachspielzeit entschieden werden), ganz nützlich, weil sie die unterhaltsam-spannende Erzählung, die in unserer Alltags- und Medienkultur eine so wichtige Rolle spielt, nicht auf ein Medium, wie die Literatur, oder ein Format, wie eben den Roman festlegt. Diese Polyvalenz entspricht der Tatsache, dass „Krimis“ für mehrere Medien und verschiedene Zielgruppen produziert werden: im Druck nach wie vor als Kurzgeschichten oder Erzählungen, als Krimirätsel oder Comics und – quantitativ sicherlich dominierend – als Romane und Romanserien. Daneben behauptet sich das Kriminalhörspiel im Rundfunk oder auf CD, auch bei Kindern sehr beliebt, und natürlich der Kriminalfilm, von seinen schlichten Anfängen über die Klassiker der Schwarzen Serie bis zum jüngsten Blockbuster. Der Fernsehkrimi, oft auch in Serie oder als Mehrteiler, ist in Deutschland längst das vorherrschende fiktionale Format auf fast allen Kanälen, wird auch auf DVD verwertet oder gleich aus dem Netz bezogen, Krimi-Computerspiele sind nicht nur bei Kindern und Jugendlichen beliebt. Kurz: Der „Krimi“ hat sich im Verbund der Unterhaltungsmedien so erfolgreich wie kein zweites Genre durchgesetzt, was auf fortdauernde Attraktivität und Nachfrage schließen lässt. Insofern ist er mehr als ‚nur‘ ein Roman, nämlich ein vielfach variables transmediales Genre.

Er ist aber – zunächst – auch etwas anderes: eine kurze oder mittellange literarische Narration, die von einem Verbrechen und seiner Aufdeckung handelt und eben dadurch definiert ist. Historisch wurzelt die Kriminalerzählung vor und um 1800, in der Philosophie der Aufklärung, den Anfängen des modernen Rechtswesens und der Erzählkunst der Romantik. In Deutschland nimmt die „Criminalnovelle“ aus juristischem und „seelenkundlichem“ Interesse von Friedrich Schiller bis Theodor Fontane besonders die Motive und den Werdegang des Verbrechers in den Blick.

Als Erfinder der modernen Detektivgeschichte, der es hingegen um die Aufklärung des Verbrechens durch einen Ermittler geht, gilt der amerikanische Romantiker Edgar Allan Poe. Ihm haben wir (ähnlich wie seinem Landsmann Thomas A. Edison in der Technik) zahlreiche Erfindungen zu verdanken, darunter eben auch den ersten, quasi handgebastelten Prototyp der detective story: „Der Doppelmord in der Rue Morgue“ (1840). Poe selbst nennt dies „a tale of ratiocination“, also eine Erzählung von den logischen Schlussfolgerungen.

Zur Serienreife bringt sein Modell aber erst der schottische Augenarzt, Hobbyfotograf und Freizeitschriftsteller Arthur Conan Doyle (gewissermaßen der Henry Ford jr. der Kriminalliteratur). In seinen Stories um den „beratenden Detektiv“ Sherlock Holmes tritt der literarische Krimi als klar abgrenzbare Form moderner Massenlektüre an die Öffentlichkeit. Die Kriminalfälle, die Holmes löst und sein Freund Dr. Watson aufzeichnet, auch er ein Mediziner, werden als kurze abgeschlossene Stories in einem ‚schnellen’ und massenhaft verbreiteten Medium, dem „Strand Magazine“, vierzehntäglich präsentiert. Der Erfolg ist riesig. Erst später fasst Doyle sie in Bücher zusammen, die dann „The Adventures of Sherlock Holmes“ oder „The Casebook of Sherlock Holmes“ heißen. Solche Titel legen nahe, dass er – wie hundert Jahre zuvor der Jurist und Mediziner Schiller – sich weniger an literarischen Vorbildern als an einer wissenschaftlichen Gebrauchsform orientiert: an der medizinischen, psychologischen oder juristischen Fallgeschichte. Dies entspricht dann auch dem vom Triumph der Naturwissenschaften geprägten Zeitgeist um 1900.

Die Figur des Meisterdetektivs ist deshalb auch nicht als Jurist oder als romantischer Künstler modelliert (wie noch bei Poe), sondern als (Pseudo-)Logiker und Naturwissenschaftler, mit einem besonderen Faible für die Chemie. Seine kriminalistischen Lösungen führt er gern, für uns nicht immer nachvollziehbar, auf „logische“ oder „exakte“ Erkenntnisse zurück. – Der Krimi sagen wir also, ist kein Roman –

2. Aber er will einer werden.

Zweifellos hat die kurze Erzählform seither an Verbreitung und Bedeutung verloren; ihr wichtigstes Rückzugsgebiet dürfte die TV-Serien-Episode sein, vom „Tatort“ bis zum „Tatortreiniger“. Langfristig wurde die Gattungsgeschichte eben doch von der Transformation ins Romanformat bestimmt. Sie verdankte sich auf einem florierenden Literaturmarkt ökonomischen Motiven, aber auch dem wachsenden Prestige des Romans als literarische Leitgattung des 20. Jahrhunderts, hatte jedoch strukturelle Probleme zu überwinden. Die Detektivstory ist auf ein punktuelles Geschehen, eben „den Fall“ rückbezogen; ihr fehlt zunächst die fortlaufende „Ereignishaftigkeit“, die erst den Roman ausmacht: Wenn die Leiche erst mal tot ist, kann nicht mehr viel passieren. Oder?

Erst in der Zwischenkriegszeit entwickeln AutorInnen wie Agatha Christie oder Georges Simenon den kurzen Detektivroman von circa 220 Seiten, der unser Bild vom Krimi lange Zeit geprägt hat. Das geschieht durch Erweiterungen oder Vertiefung des Schemas: Christie vergrößert den Kreis der Verdächtigen, stattet jeden mit einem eigenen Motiv aus – bis zur Extremlösung, wenn der „Mord im Orientexpress“ arbeitsteilig von allen begangen wird. Simenon bettet seine Fallgeschichten in die Routine der Polizeiarbeit, dichte Milieubeschreibung und einfühlsame Opfer- und Täterpsychologie ein. Andere wie etwa Raymond Chandler, Großmeister des hardboiled-Romans in den 1940er-Jahren, flechten schon mal eine Liebesgeschichte ein, die aber für Figuren wie Leser fast immer unbefriedigend bleibt.

Inzwischen gehört der Einbezug des Alltags- und Privatlebens der Ermittler mit ihren Überlastungs- und Beziehungsproblemen, ihren Durchhaltestrategien und spärlichen Tröstungen zum Repertoire des Genres. Oft überlagern diese ’sekundären‘ Themen schon den Fall – was die Leserschaft kaum zu stören, sondern eher zu erwarten scheint. Krimis sind heutzutage zu einem Gutteil realistisch-psychologische Literatur des Alltags, oder gar Literatur der Arbeitswelt.

Alles in allem kann man die Formgeschichte des Kriminalromans als Weg der detective story zum vollwertigen Roman beschreiben. In der aktuellen Produktion, etwa bei den britischen, amerikanischen und skandinavischen Marktführern, wird dieses Ziel meist durch die Verkettung mehrerer Fälle aus Gegenwart und Vergangenheit oder durch eine Typus-Kombination von Detektivroman und Thriller erreicht. Dies ist Resultat einer nachholenden Modernisierung der Erzählform und ein neuer Standardtyp des Kriminalromans: Die Ermittlung gilt dem Fall in seinem spezifischen Kontext (realistisch erweitertes Detektivschema), wird aber durch Planung und Ausführung weiterer Verbrechen sowie Bedrohung der Ermittler erschwert (Thriller- oder Abenteuerschema). Zur herkömmlichen Rätselspannung (Wer war’s?) kommt die Endspannung (Wird er’s schaffen?), die erst in letzter Minute aufgelöst wird. So sind, um beliebte Beispiele zu nennen, fast alle Romane von Henning Mankell oder Stieg Larsson gebaut; sie erreichen damit den marktgängigen Umfang von 440 bis 600 Seiten bei entsprechendem Ladenpreis. – Aber nochmals zurück in die Vergangenheit: Schon dort stoßen wir auf die Behauptung:

3. Der Krimi ist modern.

Denn das Basismodell der Detektivgeschichte wurde um 1900 reif für die Massenproduktion; in einer Zeit forcierter Modernisierung in Wissenschaft und Technik wie auch in den mentalen und kulturellen Reaktionen darauf. Während Sherlock in der fiktiven Baker Street 221b sein Reagenzglas über den Bunsenbrenner hält, wird – nur beispielsweise – im real existierenden Ludwigshafen die Badische Anilin- und Soda-Fabrik gegründet. Gleichzeitig versucht der europäische Naturalismus, all diese Umwälzungen möglichst genau zu erfassen – und zwar, darin selbst wissenschaftsnah, um ihre Bewegungsgesetze zu erkennen. Detektivgeschichte und -roman sind Generations- und Gesinnungsgenossen des naturalistischen Dramas (von Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann) oder der Prosa (von Emile Zola und weniger bekannten deutschen Kollegen). Auch die frühe Kriminalliteratur bringt die teils zukunftsfrohen, teils bedrohlichen Wandlungen der Lebenswelt zur Sprache, entwickelt eine Poetik der genauen Deskription und will die Naturgesetze auch der Menschenwelt entschlüsseln. Sie konfrontiert ihre Leser also mit den Veränderungen der Moderne, ist jedoch weder eskapistisch noch antimodern wie die gleichzeitige „Heimatkunstbewegung“ in Deutschland oder auch der europaweit florierende Historische Roman.

Die Faszination, die von Großstadt, Massengesellschaft, Technik und Wissenschaft, von Infrastrukturen wie Eisenbahn und Gasbeleuchtung ausging, legte es schon damals nahe, den Krimi als ‚modern‘ zu feiern. Doyles wichtigster Konkurrent, der Allroundautor und Alltagsphilosoph Gilbert K. Chesterton, rühmt 1901 die detective stories als Heldenepen der Großstadt, die allein der „Poesie von London“ gerecht würden, und die Detektive und Polizisten als die „fahrenden Ritter“ der Moderne. Die Modernität des Genres wird also aus seiner inhaltlichen Aktualität abgeleitet – und tatsächlich ist dies ein hervorstechendes Merkmal bis heute. Dass der Krimi fast jedes Thema oder Problem unserer Gegenwart, von der Schönheitschirurgie bis zur Flüchtlingskrise, schnell integrieren und verarbeiten kann, macht seinen Reiz aus und trägt zu seinem Erfolg bei.

Hingegen begründet der Chesterton-Fan Bertolt Brecht die Modernität des Krimis strukturell:„Der Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt vom Leser logisches Denken“, schreibt er in seiner theoretischen Skizze „Über die Popularität des Kriminalromans“ von 1938. Den Verächter aller Einfühlung fasziniert das mechanistisch-apsychologische Erzählmodell, das die Interaktion der Figuren vorzugsweise aus logischen Kausalitäten oder Reiz-Reaktions-Schemata ableitet. Konsequenterweise sieht er im Krimi eine „kultivierte“ Form zeitgenössischer Rationalität, vergleichbar mit seinem dramaturgischen Konzept, das er ja auch ein „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ nannte.

4. Der Krimi ist vormodern.

Dieser Satz, und sein Widerspruch zum vorigen, verweisen auf eine poetologische und literatursoziologische Frage. Sie gilt, mit Pierre Bourdieu gesprochen, dem Ort der Kriminalliteratur im literarischen Feld, ist bis heute ungeklärt und von nutzlosen Debatten über die Genre-Bezeichnung oder den ästhetischen und moralischen Wert beziehungsweise Unwert überlagert. Mit Bourdieu wird man sagen, dass der Krimi dicht am Pol der Reproduktion liegt, wo ökonomisches Kapital umgesetzt wird, und weit entfernt vom Pol der Innovation, an dem kulturelles Kapital zu gewinnen wäre. Oder auch mit Roland Barthes, dass Krimis zur Literatur der Leser und nicht der Schreiber gehören. Aber vielleicht muss man die Sache noch etwas genauer betrachten.

Der Detektivroman, um terminologisch präzise zu sein, ist sowohl inhaltlich wie formal definiert. Damit steht er in der modernen Literatur ziemlich allein. Deren Dynamik besteht ja wesentlich darin, dass traditionelle Regeln, wie sie die Poetik seit Aristoteles überliefert hat, in mehreren Innovationsschüben seit Mitte des 18. Jahrhunderts überschritten, ignoriert, lächerlich gemacht und aufgehoben wurden. Diese Entwertung zieht sich in einem weiten Bogen vom Sturm und Drang über Frühromantik, Symbolismus und die Avantgarden um 1900 bis zur Postmoderne. Nur der Krimi befolgt – und produziert – auch im 20. Jahrhundert noch Regelpoetiken wie die berüchtigten catalogues of crime mancher Autoren und Kritiker. Die epochalen Innovationen der modernen Literatur: also die Entgrenzung und Neukombination der Genres, die Destruktion der Handlung und Deformation des sprachlichen Materials sowie die Pluralisierung der Bedeutungen spielen im traditionellen Kriminalroman praktisch keine Rolle. Man kann ihn deshalb, trotz der inhaltlichen Bezüge zur modernen Welt, als vormoderne oder eben auch aristotelische Form verstehen.

Diesen Gedanken hat – unter erheblichem Augenzwinkern – die Krimiautorin und Altphilologin Dorothy L. Sayers schon 1935 in ihrer Vorlesung „Aristoteles über Detektivgeschichten“ dargelegt. Wenn wir ihr – gleichfalls zwinkernd – Glauben schenken, so geht es im Krimi wie in der antiken Tragödie, und in der Tradition einer normativen Poetik, um den Nachvollzug eines vorgegebenen Musters. Vielleicht ist er mit seinen Spielregeln also einfach nur im falschen Jahrtausend gelandet. Und damit nochmals zu Brecht und seiner bereits zitierten Genretheorie: Der Kriminalroman, so heißt es da, hat „ein Schema und zeigt seine Kraft in der Variation. […] Die Tatsache, dass ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau.“

Modern oder vormodern, wer weiß? Unstrittig ist der Befund an sich. Er umreißt eine Alternative zur Literaturästhetik der Moderne. In ihr geht es um Wiederholung und Variation, nicht um Innovation und Überbietung. Der Kriminalroman erlaubt beziehungsweise fordert im Gegensatz zur modernistischen Prosa oder Lyrik nur minimale und dennoch überraschende Distinktionen auf einem durch Regeln eng umschriebenen Spielfeld. Das hat schon Poe im „Doppelmord in der Rue Morgue“ verdeutlicht: Das Damespiel, so heißt es da, sei als intellektuelle Aufgabe höher einzuschätzen als das Schachspiel, weil seine Regeln auch dem klügsten Kopf weniger Optionen bieten. Auf die Literatur übertragen ist dies nichts anderes als eine Kryptopoetik der soeben erfundenen Detektivgeschichte.

5. Der Krimi ist Literatur, aber keine Kunst.

Der Krimi verklammert mithin auf eine zwar paradoxe, die Lesererwartungen aber nachhaltig befriedigende Weise eine vormoderne Ästhetik mit inhaltlicher Modernität. Englisch oder französisch lässt sich das eleganter ausdrücken, weil es da verschiedene Begriffe für die sozialhistorische und die ästhetische Moderne gibt: Krimis repräsentieren modernity without modernism oder modernité sans modernisme.

Etwas umständlicher auf Deutsch: Der Detektivroman, nach wie vor der normativen Poetik verpflichtet, wenn auch zeitgleich mit anderen Strömungen der modernen Literatur entstanden, kann (oder will?) deren Kunst-Kriterium nicht erfüllen. Die Ästhetik der literarischen Moderne ist eine der Einmaligkeit, der Entgrenzung, der Regelverletzung und der Überbietung – und steht damit in schroffem Gegensatz zum Krimi, der auf Schematisierung, Wiederholung und minimale Variation gegründet ist. Die moderne Kunst folgt Schlüssel- und Programmbegriffen wie Originalität und Unverwechselbarkeit, sie zielt auf das Einmalige, das Unbekannte, das emphatisch ‚Neue‘, das Schreckliche, sie erprobt Verfahren wie Verfremdung, Montage und die Deformation von Handlung, Syntax und Sprachmaterial. Mit all dem ist der (traditionelle) Kriminalroman, der um einen unerschütterbar realistischen, ereignishaften und rationalistischen Kern organisiert ist, nicht kompatibel. Eben deshalb verfällt er leicht einer Geringschätzung, die ihre eigenen Maßstäbe zumeist nicht reflektiert. Ich schlage deshalb die Sprachregelung vor: Der Detektivroman ist zwar Literatur, aber keine Kunst, jedenfalls nicht im emphatischen Sinne der Moderne. Das könnte uns von schiefen Diskussionen um Wert und Unwert des Krimis erlösen und vielleicht sogar beide zufriedenstellen: seine Verächter wie seine Liebhaber. – A propos Verächter:

6. Die Literaturwissenschaft hat ein Problem mit dem Krimi.

Wenn auch nicht mehr so schlimm wie 1968, als ich in meiner Dissertation eher beiläufig den Kriminalroman als narratives Modell erwähnte. Was nur deshalb nicht karriereschädigend war, weil ich unter der Protektion eines untypisch-couragierten Doktorvaters stand, der Chesterton und Edmund Crispin liebte.

Nach wie vor zeigt sich jedoch eine Diskrepanz zwischen der starken Position der Kriminalliteratur am literarischen Markt – und ihrer Geringschätzung durch normsetzende Instanzen wie Literaturwissenschaft oder Literaturkritik, sowie dem von ihnen geprägten Lesergeschmack. Daraus ergibt sich auch eine eklatante Vernachlässigung dieses Forschungsfeldes – erstaunlich, da „Kriminalliteratur“ doch „die Literatur ist, die – weltweit gesehen – am meisten gelesen wird“, wie der Kritiker Thomas Wörtche sagt. Die „Missachtung“ durch die Geschmacksbildner und Bildungswächter ist offensichtlich ein Geburtsschaden der Kriminalliteratur. Chesterton, der anarchische Konservative, hatte das bereits 1901 moniert und diagnostiziert: In der Abwehr gegen die „verderbliche“, weil von Gewalt und Verbrechen erzählenden Massenliteratur sei natürlich die Angst vor der revolutionären Gewalt der proletarischen Massen verborgen.

Uns mag eine aktuelle Erklärung eher einleuchten: Der „Krimi“ ist heute wie vor hundert Jahren vitale, lebendige Literatur, und er braucht deshalb, im Gegensatz zu vielen anderen Werken und Autoren der älteren wie der neuesten Literatur, weder die Literaturwissenschaft noch die publizistische Literaturkritik. Das wiederum ist für uns, die ja stets um die eigene Legitimation kämpfen müssen, eine schwere narzisstische Kränkung, auf die wir mit klassischen Abwehrreaktionen wie Abwertung und Verleugnung reagieren. Insofern hat die Literaturwissenschaft weiterhin ihr Problem mit dem Krimi – und was noch schlimmer ist:

7. Dem Krimi ist das egal.

Warum? Das weiß wieder Brecht:

8. „Der Kriminalroman ist ein blühender Literaturzweig.“

Das klingt zwar selbst ein wenig blumig, gilt aber mehr denn je, auch wenn exakte Zahlen über die quantitative Verbreitung kaum zu haben sind (ein massives Defizit der Leseforschung!). Internationale Schätzungen treffen sich darin, dass etwa 25 Prozent aller „belletristischen“ Neuerscheinungen der Kriminalliteratur mit ihren immer zahlreicheren Varianten (und über alle Qualitätsstufen hinweg) zuzurechnen sind. Ein Blick auf gängige Bestsellerlisten oder in die nächste Bahnhofsbuchhandlung bestätigt diese Faustregel auf unkomplizierte Weise. Etwa ebensoviel Prozent aller selbsterklärten „LeserInnen“ in Deutschland bezeichnen sich (in einer allerdings schon 20 Jahre alten Erhebung) auch als Krimi-LeserInnen. Diese Quote steigt übrigens mit dem Bildungsgrad!

Tatsächlich polarisiert der Kriminalroman als Lesestoff nach wie vor: Man/frau ist entweder Krimifan oder nicht. Tertium non datur. Einmal erworbene Vor-Urteile gegen diese Lektüre sind resistent, Überzeugungsversuche fast immer zwecklos. Das heißt auch: Heute wie zu Brechts Zeiten wird „der Kriminalroman nur von einer, wenn auch zahlenmäßig kräftigen, aber eben doch nicht überwältigenden Gemeinde von Kennern auf den Schild gehoben“.

Ob sich also in der Krimilektüre geradezu beispielhaft die „Freiheit des Lesers“ realisiert, von der Jean-Paul Sartre sprach (Schiller nannte sie gar eine „republikanische Freiheit“)? Das Problem sind jedenfalls nicht mehr die Pädagogen, es ist der Massenmarkt selbst, der auch und gerade jene Kenner (beiderlei Geschlechts) mit einer nahezu unüberschauberen Flut von gleichförmig minderwertigen Produkten überschüttet. Und es stellt sich besonders dringlich für diejenigen, die „das Literarische“ am Krimi suchen und schätzen. Insofern dürfen wir schon dankbar sein, dass fast alle überregionalen Zeitungen dem Krimi inzwischen doch eine kritische Spielecke eingeräumt haben.

Ein wesentlicher Faktor der aktuell zu beobachtenden Krimi-Konjunktur geht sicher auf die zunehmende und forcierte Verflechtung mit bestimmten Sektoren der Alltagskultur, besonders mit Tourismus und Gastronomie zurück: mit Donna Leon in Venedig spazieren, ein Weekend auf den Spuren Maigrets, das Krimi-Dinner zum Geburtstag, die Weinprobe im Reich des Mittelmoselkrimis, für hardboiled-Fans die Autorenlesung in der Justizvollzugsanstalt. Nicht zu vergessen die ganz neue Krimispielreihe „schlemmen, spielen & ermitteln“ mit der ersten Lieferung „Mord in der Villa Mafiosa“: ein Rollenspiel für acht Personen, zu dem das italienische Kochbuch mitgeliefert wird. Nehme jede/r sich heraus, was sie/er grade braucht, möchte man da wieder mit Brecht sagen. Ich selber mag das alles überhaupt nicht und würde es abschätzig „Eventisierung“ des Kriminalromans nennen, wenn das nicht so ein hässliches Wortungetüm wäre. – Vielleicht hilft ja ein Blick in die weite Welt?

9. Der Krimi ist das Genre der Globalisierung.

„Wie die Welt selber wird auch der Kriminalroman von den Engländern beherrscht“, schrieb Brecht 1938, nicht sehr vorausschauend: Hier wie dort übernahmen sehr bald die von ihm so wenig geliebten Amerikaner das Kommando. Inzwischen ist die Internationalisierung, ja Globalisierung der Kriminalliteratur in Produktion, Verbreitung und Rezeption unübersehbar und unaufhaltsam. Krimis gibt es überall auf der Welt, und wo keine geschrieben oder gedruckt werden (dürfen), wie in Nordkorea – so berichtet der Guardian – schreiben findige Studenten welche ab, mit der Hand vermutlich, und vermieten sie – stundenweise! – zum Lesegenuss.

Natürlich sorgen ansonsten weltweite Vermarktungsstrategien dafür, dass speziell die angloamerikanischen Bestseller in allen Erdteilen schnell und massiv die lokale Kaufkraft zugunsten des globalen Umsatzes abschöpfen. Aber die vielfältige Entwicklung von kulturell, national und regional eigenständigen Krimi-Varianten hat andere Ursachen. Zu beobachten ist die produktive Verschränkung eines inzwischen global verfügbaren Erzählmusters (Brecht sagt: Schema) mit dem lokal interessierenden und insofern variablen Erzählstoff (nach Brecht: Variation). Gerade in der globalisierten Welt, das wissen wir inzwischen, wächst das Bedürfnis nach lokaler Orientierung, nach Sicherheit in überschaubaren topographischen, sozialen oder auch kulturellen Räumen – wie auch nach eigenen Stimmen und Ausdrucksformen.

Der Krimi entspricht diesem Bedürfnis, weil er seit seinen Anfängen mit der Dialektik von Störung und Wiederherstellung der sozialen Ordnung, von subjektiver Bedrohung und dem Wunsch nach Sicherheit spielt. Aber auch, weil sein Erzählschema inzwischen so dehnbar ist, dass er als eine Art Hyper-Genre eine Vielfalt anderer Genres integrieren kann, zum Beispiel das Eifersuchtsdrama, die Familientragödie, den Adoleszenzroman, das Gangsterepos, die Psychostudie, die Reise- und Sozialreportage. Und schließlich, weil die Kriminalerzählung von Anfang an, im Kontrast zum klassisch-modernen „Zeit“-Roman, in enger Beziehung zur Dimension des Raums stand. Der Tatort, the scene of the crime, ist eben nicht nur Handlungsraum, sondern immer schon vorgeprägter sozialer, ethnischer oder (sub)kultureller, auch familialer Raum und insofern das perfekte Gefäß für Handlungen, Probleme, Konflikte aller Art.

Dabei geht es nicht einfach um Lokalkolorit, also etwa das ‚Wiedererkennen’ von Schauplätzen im Regionalkrimi oder die Verwendung von Dialekt. Wichtig, auch für die literarische Qualität, ist vielmehr, ob und wie der Fall und seine Lösung mit dem verwoben sind, was der Ethnologe Clifford Geertz local knowledge nennt. Also mit dem Wissen um kultur- oder milieuspezifische, regionale, lokale, institutionelle Kontexte aller Art: Topographien und Räumlichkeiten, Traditionen, Mentalitäten, Praktiken, Gewohnheiten, die einen Fall prägen können: das Setting, den Konflikt, das Motiv, den modus operandi, aber auch die Ermittlung. Damit erlaubt gerade der neuere und neueste Kriminalroman in seiner Vielfalt eine ethnographische Lektüre und könnte auch die Kulturwissenschaft interessieren.

Der Krimi leistet also in besonderem Maß, was Peter von Matt der Literatur schlechthin zugeschrieben hat: „In [ihm/ihr] verbinden sich die ältesten Konflikte mit dem Jetzt, dem politischen Tag.“ Ob man ihn deshalb schon, wie der Kunsthistoriker und Medienphilosoph Boris Groys, zum „Universalgenre des 21. Jahrhunderts“ ausrufen sollte, ist Geschmackssache. Vielleicht sollte man Bill Ramsey, vor kurzem 85 geworden, mal fragen. Bis dahin bleiben wir vorsichtig und sagen zum Schluss:

10. Der Krimi kann (fast) alles.