Die inszenierte Bedrohung

Zu Roland Schimmelpfennigs erstem Roman „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war im Jahr 1843, dass im brandenburgischen Seelow, zwanzig Kilometer hinter der polnischen Grenze, zuletzt ein Wolf gesehen wurde. An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es wieder soweit. Eine alte Geschichte setzt sich fort, in Vierlinden bei Seelow werden die Spuren eines Wolfs entdeckt. Der Wolf scheint Unheil zu bringen. Kurze Zeit später gerät auf der völlig verschneiten Autobahn zwischen Polen und Berlin ein Tanklastwagen ins Schleudern, zwei weitere Lastwagen fahren auf, der Tanklastwagen fängt Feuer, keiner der Fahrer überlebt. Sechzig Autos schieben sich ineinander, der Verkehr auf der Autobahn staut sich über mehr als vierzig Kilometer. „Es schneite immer weiter. Alles stand still.“ – Mit diesen beiden Szenen beginnt der erste Roman von Roland Schimmelpfennig, der als einer der meistgespielten deutschen Dramatiker der Gegenwart gilt und der mit seinen Inszenierungen wieder eine stärkere Bindung an den dramatischen Text sucht, die das sogenannte ‚postdramatische Theater‘ weitgehend aufgehoben hatte. Der Roman schaffte es auf Anhieb auf die Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse.

In Form einer Collage wird eine Vielzahl alltäglicher Dramen erzählt; da reißen Jugendliche von einem unerträglich gewordenen Zuhause aus, gehen unbemerkt Beziehungen und Lebensentwürfe zu Bruch, da wird ums Überleben gekämpft und auch schon mal vergessen, wofür sich das Kämpfen lohnt. Manche der Figuren begegnen uns nur ein einziges Mal, unvermittelt kommen sie nah und sind schon wieder fort. Doch die meisten von ihnen begleiten wir bis zu dem Tag, an dem sich die Spur des Wolfes im Ostberliner S-Bahn-Graben wieder verliert. Es ist ein ‚Film in Worten‘, in dem Szene auf Szene, Gespräch auf Gespräch, Lebensgeschichte auf Lebensgeschichte folgt. Perspektivische Überblendungen entstehen, der Text setzt bewusst auf Wiederholung, trotz aller Bewegung der Figuren entsteht so der Eindruck von Ausweglosigkeit. „Und wird die Welt und all die Pein / Sich nie mehr wenden / das kann sein“, so heißt es in einem Lied von Kai Degenhardt. Doch selbst bei einem politischen Liedermacher wie ihm ziehen die Januartage vorbei, und kommen andere, im Mai. Nicht so bei Schimmelpfennig. In realistischer Manier erzählt er von milieuspezifischen Gewalt- und Machtverhältnissen, von psychischem und physischem Leiden, vom Ausgeschlossensein und vom Verlust kohärenter Selbstbilder durch das Abhandenkommen von sozialen Rollen und Funktionen, die für das eigene Selbstverständnis jedoch unabdingbar sind. In geradezu technischer Distanz werden die Figuren ins Bild gerückt, mal in Nahaufnahme, mal in der Totalen. Doch es ist ein Schreiben auf der Schwelle zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘; es ist eben die – an diesem Roman verschiedentlich kritisierte – unterkühlte Sprache, die sich beschreibend, dokumentierend gibt, in der die äußeren Bedingungen, die das Leben eines Menschen ausmachen, als psychische Determinanten erkennbar werden. Schimmelpfennig kreiert sprachliche Schockbilder, die Sprachlosigkeit, Hilflosigkeit und das eigene Befremden der Figuren erahnen lassen, es aber nicht psychologisierend für sich einnehmen. „Sie hatte einen Bluterguss unter dem rechten Auge und eine aufgesprungene Lippe. Das Mädchen saß unter dem Vordach der einzigen Bushaltestelle des Dorfes. […] Es war früh am Morgen, sechs Uhr dreißig. Es war noch dunkel. Sie wartete auf den Schulbus. Sie war sechzehn. Ihre Mutter hatte sie am Abend vorher zweimal mit der Faust ins Gesicht geschlagen.“

Immer wieder ist im Buch die Rede von Bildern, von Schnappschüssen, auf denen im Grunde nichts zu erkennen ist. Ein Foto aber zeigt den Wolf, bedroht von Kälte und Hunger, achtzig Kilometer vor Berlin. Tomasz gelingt das Foto, das niemandem gelingt. Vielleicht weil auch Tomasz ein Versprengter ist; wie der Wolf hält er sich abseits von den Menschen, bleibt in der permanent gewordenen Arbeitsmigration zwischen Deutschland und Polen ein Fremder, hier wie dort. Das Ereignis wird zum Medienereignis; das Foto zirkuliert, es entfacht Ängste, Obsessionen, wahre und falsche Erinnerungen, und macht – wie könnte es anders sein – den Wolf zu einer Projektionsfläche all dessen, was im Inneren droht, denn warum sonst sollten all jene Fotos missglücken und eigentlich nichts sichtbar machen, am wenigsten den Wolf? Dieses eine Foto entfacht eine Art ununterbrochenes Rauschen, ein sich ergießendes und gleichbleibendes Gerede, in dem sich Unbehagen, Sorge und Faszination miteinander vermischen (auf der Bühne wäre es vielleicht einfach eine Soundcollage). Die ‚Real-Projektion‘ des Wolfes stiftet einen Diskurs, der die Figuren ebenso voneinander trennt wie miteinander verbindet. Er wird zu einem Zeichen, dem keinerlei verbindliche Bedeutung mehr entspricht, das aber die unterschiedlichsten Bewusstseins- und Seelenzustände evoziert. Doch nicht in diesem Geraune und Geflimmer einer nicht fassbaren Bedrohung und Faszination spielt sich das Drama ab, sondern im Sprechen und Handeln der Figuren. Im Zeitalter absurd-inflationärer Bildproduktion fragt Schimmelpfennig nach den verbliebenen Möglichkeiten des Selbstausdrucks, des basal-menschlichen wie des künstlerischen.

Schimmelpfennigs Berlin bleibt ein terrain vague, so konkret er die Stadtplantopographie auch in die Handlung einzubeziehen weiß. Die Wegstrecken kreuzen sich, die Figuren verfehlen einander dennoch und ziehen aneinander vorbei auf ihren ganz eigenen Umlaufbahnen. Bisweilen erinnert der im Roman kreierte Raum an jene abstrakten Spiel-Räume, wie sie etwa von Samuel Beckett in seinen Dramen, vor allem aber in seinen Fernsehproduktionen entworfen wurden (Quadrat I und II). Der erzählte Raum des Romans ist irgendwo im Spannungsfeld zwischen der Abstraktion eines Raumes oder eines Spielfeldes, das die den Akteuren gesetzten engen Grenzen symbolisiert, und einem realgeschichtlichen Raum zu verorten, dessen historische und sozioökonomische Veränderungsprozesse und die damit einhergehende Gentrifizierung gerade in Stadtteilen wie dem Prenzlauer Berg in ihrer sozialen Härte sichtbar werden. Man gewinnt den Eindruck, Becketts Endspiel trage sich gerade hier zu, in einem der Kernsanierung überantworteten alten Haus in der Lychener Straße, in der das einzig noch dort verbliebene alte Ehepaar ohne Strom und Wasser in der Erdgeschoßwohnung mehr vegetiert als lebt.

Der Wolf, so wird im Roman deutlich, ist längst zum anachronistischen Sinnbild der Bedrohung geworden, im Grunde taugt er dafür nicht mehr. Sein Schicksal bleibt offen: Entweder geht er in der Stadt zugrunde oder findet den Weg aus der Stadt hinaus und zurück in die Wälder. Bedrohungsdiskurs und Bildpolitik sind vielmehr Ausdruck des Versuchs, von jener Bedrohung abzulenken, die im Grunde von den ökonomischen und gesellschaftlichen Kräften selbst ausgeht, die sich gegen den Menschen kehren. Jedenfalls gegen denjenigen, der nicht mehr Schritt halten kann, der wirtschaftlich und sozial abgehängt ist. Eine vergleichbare Bedrohungspolitik lässt sich heute allerorten beobachten. Oder wie Charly, ein etwas kauziger, aber hellsichtiger Spätkaufbetreiber, im Roman sinngemäß sagt: Es gibt diejenigen, die die Bilder produzieren und vertreiben, und es gibt diejenigen, die ihnen preisgegeben sind. An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist ein dringend lesenswertes Buch.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
254 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024701

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch