Endlich lebt sie ganz!

Christoph Meckel hat seiner Kunstfigur Clarisse mit Gedichten und Bildern ihre endgültige Gestalt gezaubert

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. Über die allmähliche Verfertigung der Kunstfigur Clarisse

Clarisse geistert schon seit langem in Christoph Meckels Werk herum. Sie ist eine der vielen Kunstfiguren, die er geschaffen hat. Bobosch gehört dazu und Jemel, Windig und Jubal, Findel und Tandalon und viele, viele andere. In seiner Münchner Rede zur Poesie, die unter dem Titel Die Kerle haben etwas an sich. Kunstfiguren, Liebliche Berge 2008 im Münchener Lyrik Kabinett erschienen ist, hat Meckel über diese Kunstfiguren gesagt: „Seit einem halben Jahrhundert schreibe und zeichne ich Figuren, sie besitzen nicht viel außer ihren Namen. […] Diese Figuren sind ohne Herkunft, Stammbaum, Stammtisch, Verwandtschaft, Vorfahren und Nachfahren. Sie sind frei von Geburt und Tod“.

So auch Clarisse – ihr Name begegnet zuerst 1970 im Titel einer Radierung Meckels: „Landschaft für Clarisse“. Hier sieht man in einer gefährlich vulkanischen Landschaft auf der linken Bildhälfte ein winzig kleines Mädchen, das unschuldig seinen Drachen steigen lässt. Die Radierung gehört, wie man dem großen zweibändigen Werkverzeichnis der Druckgrafik Meckels entnehmen kann (Die Weltkomödie, Freiburg: modo Verlag 2011), zu dem Zyklus Bilder für Clarisse, der 23 Radierungen aus den Jahren 1970 bis 2004 umfasst. In einer Vorbemerkung zum Abdruck dieses Zyklus im Werkverzeichnis schreibt Meckel: „Die zuletzt geschaffene Gestalt ist Clarisse. Ihr gehört alle Zeit bis zum zwanzigsten Jahr, danach ist sie fort. Ihr Zuhause ist eine Kindheit ohne Ende. Die Komödie geht weiter in Bildern, die der Zeichner für sie zu zaubern versucht – o Clarisse. Er hat in ihnen seine Insignien verborgen“. Auf dem erwähnten Bild sind diese Insignien der Schlüssel und die Glocke; sie sind auf vielen Radierungen Meckels zu sehen.

Einzelne Hinweise auf diesen Zyklus und auf weitere Bilder für Clarisse konnte man bereits Katalogen zu Ausstellungen von Meckels graphischem Werk entnehmen. So enthielt beispielsweise der unter dem Titel Beginn eines Sommers erschienene Katalog zu einer Ausstellung des Bilderbuchmuseums der Stadt Troisdorf 2001 ein Bild aus dem Diptychon Clarice I aus dem Jahr 1993, das das Mädchen auf einer Schaukel sitzend zeigt, sowie ein farbiges Manuskriptbild, gezeichnet „für Clarisse“. Für sie hat Meckel außerdem zwei „Friese“ aus jeweils 5 Radierungen, mehrere Diptychen und Einzelbilder, „Bilderbücher“ und Kaltnadelradierungen gezeichnet, wie man dem Werkverzeichnis entnehmen kann. Clarisse ist also in seinem graphischen Werk vielfach präsent.

Es lag daher nahe, dass Christoph Meckel seine Bilder und seine Gedichte für Clarisse publizieren wollte, und zwar zunächst in zwei getrennten Büchern. Das lässt sich dem Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (2004) entnehmen. Dort nämlich, wo den Mitgliedern dieser Akademie Gelegenheit gegeben wurde, ihre im Jahre 2003 erschienenen Bücher anzuführen, nennt Meckel als im Jahre 2003 erschienene eigene Publikationen Gedichte für Clarisse und Bilder für Clarisse. 35 Radierungen mit einem Nachwort des Zeichners, beide angeblich im Berliner Oberbaum Verlag veröffentlicht. Offenbar nahm er zu dieser Zeit an, dass beide Bücher spätestens bis zum Zeitpunkt der Publikation des Jahrbuchs erschienen sein würden. Diese Gleichzeitigkeit schien ihm wichtig zu sein. Doch es kam anders.

2. Habent sua fata libelli

Mit dem Verleger des Oberbaum Verlages, Siegfried Heinrichs (1941-2012), der selbst als Lyriker hervorgetreten ist und sich als Verleger besonders der verfemten Literatur in den kommunistischen Staaten des Ostblocks angenommen hat, hatte Meckel seit den späten 1970er Jahren mehrfach zusammengearbeitet. Die Berliner Doodles waren 1987 in seinem Verlag erschienen. Ihm hatte Meckel seine beiden Clarisse-Bücher anvertraut.

Als Meckel die ersten Exemplare der Gedichte für Clarisse zu Gesicht bekam, verbot er sofort die Auslieferung des Buches und forderte den Verleger auf, die gesamte Auflage zu vernichten. Das Buch, in Budapest gedruckt, enthalte eine solche Fülle von „Fehlern und Druckkatastrophen“, dass er sein öffentliches Erscheinen als Autor nicht dulden könne. Doch Siegfried Heinrichs hat sich offensichtlich nicht vollständig an Meckels Anweisungen gehalten. Denn im Antiquariatshandel taucht das Buch als Rarissimum immer wieder einmal zu horrenden Preisen auf. Es enthält in der Tat einige schwerwiegende Druckfehler; sie betreffen hauptsächlich die Zeilenumbrüche der Gedichte: die Langverse werden mehrfach in zwei, manchmal sogar in drei Zeilen mit unterschiedlichen Einrückungen umbrochen. Für einen Autor, der seine Verse so sorgfältig gestaltet wie Christoph Meckel, ist das unerträglich und unzumutbar. Darüber hinaus dürfte auch das 14 (!) Seiten umfassende Verzeichnis der lieferbaren und in Vorbereitung befindlichen Titel des Oberbaum Verlages, das sich an den Text der Gedichte anschließt, ein Grund für Meckels Verärgerung und für seine Entscheidung gewesen sein, das Buch nicht an die Öffentlichkeit kommen zu lassen. In diesem Verzeichnis wurden auch die Bilder für Clarisse mit größter Präzision angezeigt: „Christoph Meckel, Bilder für Clarisse. 40 Abbildungen und 10 Seiten Text / Faksimile Ausgabe mit beigelegter Original-Graphik limitierte Auflage (40 Stck.) + 2 Autorenexemplare 80 Seiten  € 280.00. ISBN 3-933314-86-0“. Wohl aufgrund der Auseinandersetzungen mit Siegfried Heinrichs wegen der Gedichte für Clarisse erschienen dann die angekündigten Bilder für Clarisse nicht mehr.

Meckel hat, da die Gedichte für Clarisse für ihn öffentlich nicht existierten, nach einigen Jahren erneut einem Versuch zugestimmt, sie zu publizieren. Im Herbst 2008 erschien eine Anzeige des Waldgut Verlags in Frauenfeld/Schweiz:

Clarisse ist ein ganz besonderes Kind, nämlich die fiktive Adressatin der Gedichte, mit der sie der Dichter beschenkt. Das sind Neugierigmacher, Fragenverse, Spielgedichte, Rätselchen, mittelschwer verpackte Geheimnisse, Balladen, bis hin zu sprach-, form- und melodiesicheren Gedichten, wie sie nur Christoph Meckel dichten kann. Meckel war immer auch der Meister von Gratgängen auf den Grenzen von Wirklichkeit und Traum, von Gegebenheit und Wunsch, von Erdhaftung und Fantasie. Wo andere arbeiten, zeigt er das Spiel mit Worten, Gedanken, Gefühlen, Ideen. Wo andere korrigieren wollen, zeigt er neue Farben, den überzeugenden Ton. Wo andere lenken wollen, leuchtet er in das Innere der Neugierde, öffnet er mit einer Frage die Höhle des Geheimnisses so weit, dass [man] Clarisse erahnen, selber weitersuchen und finden kann.

Beat Brechbühl, der Verleger des Waldgut Verlags, wollte das Buch im Rahmen seiner Reihe der Bodoni Drucke herausgeben, in der schon kurz zuvor Meckels Gedichtband Musikschiff erschienen war. Auch zwei Einblattdrucke (Stein und Drei Gedichte) hatte Brechbühl in seiner Reihe Bodoni Poesie Blatt gedruckt. Der Druck der Gedichte für Clarisse war schon so weit fortgeschritten, dass die zitierte Anzeige mit einem farbigen Cover des Buches geschmückt werden konnte, eine Graphik Meckels mit Schlüsseln darstellend. – Doch Christoph Meckel ging es nicht schnell genug, behauptet der Verleger: „Christoph und ich litten schon beim ersten Buch [Musikschiff], das wir zusammen machten, an der Tatsache, dass es Christoph immer viel zu lange dauerte, bis die Bücher bei uns erschienen. Zweimal hat er wütend die Manusse zurück verlangt, das zweite ‚und absolut letzte’ war das Ms. der Gedichte für Clarisse“ (Brief von Beat Brechbühl an W.S. vom 13. 6. 2012). So scheiterte auch der zweite Versuch, der Kunstfigur Clarisse ein öffentliches Leben zu ermöglichen.

3. Endlich beisammen: Gedichte und Bilder „Für Clarisse“

Erst im dritten Anlauf ist es nun endlich gelungen, das Clarisse-Projekt in ein veritables Buch zu verwandeln. Das ist dem Verleger Michael Wagener zu danken, der zugleich Bildender Künstler und Ausstellungsmacher ist und mit seinen Installationen, Projekten und Büchern auf die Verbindung verschiedener Künste und kunstübergreifende Initiativen aus ist. Für einen Künstler wie Meckel, der zeichnet und dichtet, ist er prädestiniert. Mit seiner Hilfe hat Meckel aus den gescheiterten Gedichten für Clarisse und den nicht zustande gekommenen Bildern für Clarisse das Kunstbuch Für Clarisse gemacht, das  zum ersten Mal die dichterischen und die graphischen Arbeiten Meckels „für Clarisse“ zusammenführt. Eine so enge Zusammengehörigkeit der Hervorbringungen seiner beiden verschiedenen „Berufstätigkeiten“ ist in Meckels Werk sonst nicht üblich. In diesem Fall enthält der Band zusätzlich zu den Gedichten den gesamten Zyklus Bilder für Clarisse wie er im Werkverzeichnis abgebildet ist, also 23 Graphiken, allerdings in veränderter Reihenfolge. Es handelt sich um durchaus qualitätvolle im Tiefdruck nach den Originalradierungen auf nicht durchscheinendem Papier gedruckte Wiedergaben auf den Vor- und Rückseiten aufklappbarer Blätter in der Mitte des Bandes, wobei einige der Radierungen sogar in größerem Format erscheinen als im Werkverzeichnis. Überhaupt ist das Buch auf sympathische Weise bibliophil ausgestattet: Das beginnt schon beim Schutzumschlag. Wenn man ihn abnimmt und auffaltet, entdeckt man auf der Außen- und Innenseite nicht nur die Ausschnitte von Graphiken für Clarisse, sondern auch eine Variation der Liebeserklärung Christoph Meckels an Clarisse als Kunstfigur. Und das Buch schließt mit nahezu vollständigen Verzeichnissen seiner biographischen Daten, seiner Buchveröffentlichungen und Einzelausstellungen.

Die 64 Gedichte des Buches Für Clarisse waren bisher fast ausnahmslos ungedruckt – sieht man davon ab, dass 46 von ihnen schon in dem von Meckel zurückgezogenen Band Gedichte für Clarisse standen. In Meckels Gesammelten Gedichten, die – ebenfalls 2015 – unter dem Titel Tarnkappe erschienen (womit er sich auf seine erste selbständige Lyrikpublikation aus dem Jahr 1956 zurückbezog), sind sie nicht zu finden. Das gilt auch für das Eingangsgedicht:

Bonjour Clarisse

Ein Sonntagsgruß
für den Montag,
der am Dienstag in Erfüllung geht,
am Donnerstag ausschläft,
den Mittwoch verschlafen hat
und am Freitag nachholt,
der dem Samstag zuvorkommt
und sich auflöst am Sonntag
in Luft und Liebe.

Dieses heiter-übermütige Gedicht hat Meckel zuerst mit farbiger Kreide in ein Manuskriptbild eingezeichnet, das im Katalog Beginn eines Sommers zu einer Ausstellung des Bilderbuchmuseums der Stadt Troisdorf (2001) abgebildet war. Viele der neuen Gedichte verbinden Vorder- mit Hintergründigkeit, wortspielerische Lustigkeit mit abgründiger Nachdenklichkeit. Sie variieren zum Beispiel die Geschichten vom Suppenkasper und von der Prinzessin auf der Erbse und führen sie zu einem alternativen Ende, sie sprechen von der „Blume Klecks-mich mal“, vom „Adel / Derer von Habenichts“ und, keineswegs nur ‚kindgerecht’, von allerlei Getier. Das Jahr des Vogels beispielsweise geht so:

Das Jahr des Vogels begann
mit dem Tod der Amsel im Schnee.
Ein andrer trug Schnee auf der Feder,
das war der Rabe.
Im Laub der Falle lag ein Ei aus Holz.
Im Bauch des Lockvogels eine Spieluhr sang.

Im Laub der Falle liegt ein Ei aus Holz.
Im Bauch des Lockvogels eine Spieluhr pfeift.
Ein andrer trägt Licht auf der Feder,
das ist der Rabe.
Das Jahr des Vogels hört auf
mit dem Schrei der Amsel im Schnee.

Clarisse ist immer zugegen in diesen Gedichten, auch dort, wo sie nicht ausdrücklich bei ihrem Namen genannt oder gar angeredet wird, was freilich mehrfach geschieht. Von ihren Spielplätzen, „verschollen im Schnee“, ist die Rede und von dem „Land Mandalon“, das ihr fremd ist:

Ein paar Sätze für Clarisse,
Anfang, Ende eines Gedichts,
Machandel, Machandel.
Weil sie nicht hinkommt, Mandalon, Mandalou,
nie dort war, Clarisse, Mandalon, Mandalou.

Ihr wird etwas mitgeteilt, von dem sie nichts weiß und das sie trotzdem selbst zu vertreten hat: Sie ist eben eine Kunstfigur, eine erfundene, durch und durch poetische Existenz. „Vielleicht wird man wissen wollen, wie und aus was eine Kunstfigur gemacht ist. Ich werde den Teufel tun, für die Frage eine Antwort schustern zu wollen“, schreibt Meckel. Zwischen ihm und seiner Figur besteht eine Bewusstseinsdifferenz: Das Gedicht Brief im August versammelt eindringlich die Lavendeldüfte und -farben, die hochsommerliche Stille und Ofenhitze, den „Staub und Purpur / von Blüten der Malve“, um dann, in der Schlußstrophe, dieses Sommerbild kritisch und doch zugleich voller Zuneigung zu kommentieren:

So wird eine schönes
Gedicht gemacht,
in der Art von Sonntagsmalern
bunt, démodé,
und erfreut Clarisse.

Man schlägt sich, „Sonntagsmaler“ hin oder her, auf die Seite der Clarisse, erfreut sich an der kindlichen Fantasie und spielerischen Erfindungslust, die sie nicht eigentlich ‚besitzt’, die ihr vielmehr ‚zugeschrieben’ werden vom Autor, dem sie ihre kindliche Existenz verdankt. Und ist dann am Ende nicht doch die Frage zu beantworten, „wie und aus was“ Clarisse „gemacht ist“? Sie ist ein Geschöpf der sprudelnden Imaginationskraft ihres Urhebers und damit selbst eine Allegorie der Künste, die er betreibt. Als solche wird sie dem Leser vertraut bei der Lektüre der ihr gewidmeten Gedichte und der ihr geltenden Bilder. Man kann dem Autor und seinem Verleger nur bescheinigen und dem Leser versichern: Ein makelloses, originelles, beglückendes Buch!

Hinweis der Redaktion: Wulf Segebrecht kennt Christoph Meckel seit langem und begleitet sein Werk kontinuierlich, auch durch eine fortlaufende Bibliographie: Christoph Meckels Bücher. Ein bibliographisches Verzeichnis. Dritte, revidierte und ergänzte Auflage. Bamberg: Verlag der Fußnoten 2010 (= Fußnoten zur Literatur, Bd. 33).

Titelbild

Christoph Meckel: Für Clarisse. Gedichte und Radierungen.
Gutleut Verlag, Frankfurt am Main 2015.
136 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783936826746

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