Was Obamas Tweet zu Alis Tod mit dem Hannoveraner Leibniz-Denkmal zu tun haben kann

Michael Gamper über das Phantasma des großen Mannes

Von Carolin RocksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolin Rocks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

,The greatest died‘ – so der Tenor der medialen Nachrufe auf die Anfang Juni verstorbene Boxer-Legende Muhammad Ali. ,The greatest‘ firmiert, darüber belehren schon die zahllosen Google-Treffer, einerseits als bis hin zur unumwundenen Selbststilisierung bemühter Kampfname Alis, andererseits als das Epitheton, das dessen mediale und künstlerische Rezeption organisiert. Es mag zunächst alles andere als nahe liegen, mit der vor nur wenigen Wochen in der internationalen Berichterstattung unter dem Schlagwort der ,personalen Größe‘ breit ausgeschriebenen Todesanzeige eines Ausnahmesportlers in eine Besprechung der Studie des Germanisten Michael Gamper zur politischen Genealogie des ,großen Mannes‘ einzusteigen. Der Boxer mit dem berüchtigten Beinamen stellt aber gerade in Ansehung der „Organisation des Nachruhms“ – eines Prozesses, den Gamper für Napoleon ausbuchstabiert – ein treffendes, hoch aktuelles Beispiel für jene auf das ,politische Phantasma‘ individueller Größe konzentrierte „Imaginärpolitik“ dar, um die es dem Autor dann auch im Kern geht. Denn dass ,der Größte‘ nicht nur für sportliche Exzellenz steht, sondern vor allem auch postum als ,Größe‘ in der amerikanischen Imaginärpolitik umher geistert, demonstriert Barack Obamas Tweet anlässlich von Alis Tod. Obamas letzter Gruß lautet: „He shook up the world, and the world’s better for it. Rest in peace, Champ.“ Bebildert sind diese Ali selbst zitierenden Zeilen mit einem Foto, das es in sich hat: Es zeigt den unter einem gerahmten Poster der wohl triumphalsten und bekanntesten Kampfszene Alis sitzenden Obama. Ali steht in energetischer Siegerpose mit aufgerissenem Mund über dem am Boden liegenden Sonny Liston. Obama blickt nicht auf das Bild, auch nicht in die Kamera, sondern auf sein Smartphone. Eher beiläufig, aber mit diffizilen medialen Multiplikationseffekten inszeniert das fotografische Arrangement den letzten Auftritt des ,Champs‘ als Tributsgeste des amerikanischen Präsidenten. Ebenso beiläufig aber inszeniert es somit Obama selbst als ,großen Politiker‘ der medialen Gegenwart und Ali wiederum als seinen spiritus rector. Letzteres tritt – erwartbar deutlicher – in Obamas Statement zur Beerdigung Alis hervor: Der Präsident hebt auf einen vorbildhaften Patriotismus Alis ab, der auch ihn selbst, „a young mixed kid with a funny name“, zu ,Großem‘ inspiriert habe: „to have the audacity to believe he could be anything, even President of the United States.“ Die Stellungnahme endet in vollendeter Pathetik und Hyperbolik mit den Sätzen „Muhammad Ali was America. He will always be America. […] God bless The Greatest of All Time. […] And God bless the nation we love.“ Während Obamas Tweet in subtilerer Manier mediale Register zieht, wird hier gewissermaßen mit dem Holzhammer am nationalen Imaginären gearbeitet.

Personale Größe als Phantasma zu bezeichnen, bedeutet nun im Kontext von Gampers Studie Spezifischeres, als einen unhintergehbaren diskursiven Konstruktionscharakter des ,Phänomens‘ herauszustellen. Denn Gamper beruft sich auf die Konzepte des Imaginären und des Medialen, die bereits in der skizzierten Bildinszenierung um Ali und Obama als zentral gelten konnten: „Der große Mann wird in diesem Buch also nicht als historische Realität betrachtet, sondern als Effekt von Diskursen, Phantom der Imagination und Manifestation von Medien.“ Die damit angezeigte programmatische Direktion der Studie grenzt sich von Betrachtungsweisen ab, welche die Figur des ,großen Mannes‘ als Protagonisten eines grand récit bzw. einer „Ereignisgeschichte“ zu rekonstruieren – und wohl auch zu hypostasieren – antreten.

Was genau Gamper meint, wenn er seinen Gegenstand allen voran dem Bereich des Imaginären zugeordnet sieht, erschließt sich aus seiner theoretischen Skizze der Termini „Imaginationsgeschichte und Imaginärpolitik“. Unter „Imaginationsgeschichte“ fasst der Autor einen sprachlichen oder bildlichen „Ereignisraum, in dem sich ein wesentlicher Aspekt historischen Geschehens abspielt“. Vielleicht etwas zu allgemein steht damit die Sphäre der „Fiktion“ im Gegensatz zu einer Faktizität von Größe zur Disposition, wie auch der topische Verweis auf die aristotelische Differenzierung zwischen Historiograph und Poet demonstriert. Ob man die Poesie aufgrund ihrer „prägnante[n] Ausdruckskraft“ sowie aufgrund ihres Vermögens, kollektive Imagination zu bündeln und prozessieren zu lassen, dabei gesondert hervorheben muss, sei dahin gestellt. Aus diesem ,Lob der Dichtung‘ erklärt sich allerdings, dass Gamper sowohl in Form akribischer Einzelstudien, etwa zu Schiller, Grillparzer, Kleist und Hebbel, als auch anhand von kleineren Exkursen fortgesetzt eine besondere imaginationsgeschichtliche Relevanz des Literarischen geltend macht. Der zweite Begriff der „Imaginärpolitik“ bezeichnet demgegenüber einen öffentlichen „Handlungsbereich, […] in dem es mithin um die Produktion von Bildern und Vorstellungen geht, welche die Subjekte jenseits der Sphäre rationaler Entscheidungen und juridischer Bestimmungen in Beschlag nehmen und lenken“. Die von biopolitischen Strategien und symbolpolitischer Repräsentativität abgegrenzte Imaginärpolitik dockt, folgt man Gamper, bei der menschlichen „Einbildungskraft“ an. Sie generiere je spezifische politische Einheitsvorstellungen und „erzeugt damit phantasmatisch organisierte kollektive Körper, die realpolitischen Zwecken zugeführt werden können“.

Es leuchtet ein, die Konstitution sowie die gemeinschaftsstiftende Funktion des ,großen Mannes‘ als strategisch instrumentalisierbare Prozesse des politischen Imaginären zu beschreiben, wenngleich hier zu fragen ist, ob neben der Vorstellung von einer gezielten „Besetzung und Beherrschung der Einbildungskraft“ nicht auch die mehr als denkbare Eigendynamik kollektiver Imaginationsvorgänge stärker herausgestellt werden müsste. Letzteres deutet sich in Gampers theoretischen Einlassungen nur dort an, wo er eine rezeptionsästhetische Orientierung der Imaginärpolitik betont und dabei auch eine „Eigenaktivität der Adressaten“ vermerkt, die aber „politisch funktionalisierbar“ sei. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der Autor sein theoretisches Rüstzeug nicht ins kritische Verhältnis mit anderen kulturwissenschaftlichen Studien zum politischen Imaginären setzt. So existieren etwa Arbeiten zum Imaginären der Nation, die mit psychoanalytischen Konzepten zur subjektiven (Lacan) und kollektiven (Žižek) Identifizierung argumentieren (vgl. den Sammelband Das Imaginäre der Nation, hg. von Grabbe/Köhler/Wagner-Egelhaaf sowie die Monographie von Grabbe: Deutschland. Image und Imaginäres) und die gerade auch die angesprochene Eigendynamik gezielter ins Auge zu fassen vermögen.

Gerade weil Gamper mit seinem Konzept der Imaginärpolitik die realpolitische Funktionalisierbarkeit und das manipulative Potential von Größe-Phantasmen so deutlich herausstreicht, ist es erstaunlich, dass Urs Hafner in seiner Rezension moniert, die „Mechanismen des politischen Autoritarismus“ nach der Lektüre des Buches nicht besser verstehen zu können. Ein konkreter Kritikpunkt Hafners lautet etwa, dass Gamper für eine spezifische Entwicklung keine Erklärung parat habe: Wie vollzieht sich der Sprung von einem im frühen 19. Jahrhundert kursierenden Größe-Konzept, das dessen Protagonisten bei aller persönlichen und damit auch potentiell egozentrischen Exzellenz als um das Wohl des Kollektivs besorgten Herrscher porträtiert, zu einem destruktiv ausgerichteten, tendenziell narzisstischen ,Führer- bzw. Diktatorentum‘ des 20. und 21. Jahrhunderts? Dazu ist zu sagen, dass Friedrich Schleiermacher in Gampers chronologischer Analyse als theoretischer Gewährsmann, Friedrich II. als historische (Projektions-)Figur für das Phantasma gemeinwohlorientierter Größe fungiert, das zudem die Angewiesenheit auf mediale Validierung demonstriere. Spätestens im Kapitel zu Napoleon werden nun durchaus anders gelagerte Register einer Selbst- und Fremdinszenierung historischer Größe diskutiert: So gilt Napoleon dem Autor als „Inbegriff des ,großen Mannes‘ des 19. Jahrhunderts“. An dessen phantasmatischer Gestalt(ung) macht Gamper den Prozess einer Transformation vom wohltätigen Tugendheroismus des – konzeptuell ins 17. und 18. Jahrhundert führenden – herrscherlichen grand homme zum manipulativ-medienaffinen, hassgeliebten Staatsmann transparent, der Züge des Dämonischen trägt. Zusätzlich ist gegen Hafners Kritik auf die vielleicht aus seiner Perspektive zu kurz geratenen Darlegungen zur „Führersehnsucht in der Weimarer Republik“ und zum „Führer als Diktator“ zu verweisen.

Grundsätzlich ist, was den historischen Zuschnitt der Studie betrifft, anzumerken, dass der Sache nach nichts gegen Gampers allenfalls in dieser Publikation – es existieren einige ähnliche Veröffentlichungen des Autors zum Thema – nicht genügend explizierte Schwerpunktsetzung auf das 19. Jahrhundert spricht. Das sei nur deswegen gesagt, weil man sich angesichts des schmal ausfallenden Kapitels zur Antike, zur Renaissance und zur frühen Neuzeit fragen kann, ob es im Rahmen einer als Genealogie des Konzepts personaler Größe antretenden Studie ausreichend ist, die Vormoderne als „Vorgeschichte“ auf unter 30 Seiten abzuhandeln. Der Einleitung aber ist, auch ersichtlich in der Inauguration des Themas anhand von Positionierungen Büchners und Treitschkes, zu entnehmen, dass das genuine Anliegen der Monographie in der Fokussierung einer „Diskursfigur [besteht], die im langen 19. Jahrhundert machtpolitische und epistemologische Virulenz entfaltete und für die Geschichte des sozialen Imaginären dieser Epoche von schwer zu überschätzender Bedeutung gewesen ist“.

Die einzelnen Studien zum 19. Jahrhundert berücksichtigen ein facettenreiches Spektrum verschiedener philosophisch-theoretischer Textformate (Hegel, Burckhardt) und literarischer Gattungen (Drama, Roman, Biographie). Von Schillers Wallenstein ausgehend beschäftigen Gamper in seinen Lektüren insbesondere dramatische Figurationen „weiblicher Größe“ (Schillers Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans, Kleists Penthesilea, Grillparzers Libussa und Hebbels Judith), aber auch der Kult um die ,Königin der Herzen‘ Luise von Preußen. Dies stellt erstens einen erholsamen Kontrapunkt zum im Haupttitel der Monographie exponierten ,großen Mann‘ dar. Zweitens wird damit dem literaturgeschichtlich mehr als plausiblen Umstand Rechnung getragen, dass das Drama „eine bevorzugte Gattung für die Darstellung und Reflexion der Figur des ,großen Mannes‘“ und der großen Frau darstellt.

Die Relativierung der Kategorie der Größe im Ausklang des 19. Jahrhunderts demonstriert Gamper am Phänomen der Masse als genuinen, im politischen Programm des Sozialismus nachvollziehbaren sowie von der zeitgenössischen Sozialpsychologie theoretisierten Problemhorizont der politischen Moderne (v. a. Gustave Le Bon in einer popularisierten Fortschreibung von Scipio Sighele und Gabriel Tarde). Als „radikale Entgegensetzung“ zur und als Polemik gegen die Vorstellung einer überbordenden politischen Relevanz der Masse analysiert der Autor Friedrich Nietzsches philosophisches Lob der Größe, etwa in seinen Phantasien vom ,Übermenschen‘. Damit ist natürlich auch eine zum Beginn und in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts führende Fragestellung angedeutet, und zwar das Bedeutungsprofil von personaler Größe im Zeitalter der (westlichen) Demokratien. In seinem knappen Kapitel zum Weber’schen Charisma-Konzept scheint dieses Problem auf, ohne dass jedoch ein prononcierter Ausblick etwa auf entsprechende gegenwärtige politische Dynamiken offeriert würde. Letzteres kann man schwerlich als Manko der Studie verbuchen. Es ist lediglich im Sinne einer wohlverstandenen Anschlussfähigkeit von Gampers Überlegungen über Figuren wie Barack Obama oder auch – in der dezidiert autoritär-diktatorischen Ausformung – über Machthaber wie Putin und Erdogan nachzudenken. Unverzichtbar scheint darüber hinaus der Hinweis auf Figuren, die einen ebenso zentralen Gegenpol in der aktuellen Imaginärpolitik bilden: die digitalen, heroischen ,Supernerds‘ – so der Titel (Untertitel: Gespräche mit Helden) des von Angela Richter herausgegebenen Interview-Bandes – als deren prominenteste Vertreter Edward Snowden und Julian Assange gelten können.

Dass man Obamas Tweet indessen auf eine bis ins Europa des 18. Jahrhunderts reichende Vorgeschichte zurück führen darf, das kann man von Michael Gampers nur vermeintlich randständigen Darlegungen zur städtischen Denkmalkultur lernen. Was im 21. Jahrhundert als Verfahren einer via Twitter in Umlauf gebrachten Imaginärpolitik gelten kann, wird, wenn man so will, im Kleinen der regionalpolitischen Manöver um die Errichtung des Leibniz-Denkmals in Hannover greifbar. Auch hier geht es wie schon im Falle Alis nicht um einen Politiker, wohl aber um die postume Stilisierung des Philosophen als eines patriotischen Aufklärers. Dass Leibniz im ausgehenden 18. Jahrhundert in der gelehrten Öffentlichkeit als Geistesgröße eine neue Aufmerksamkeit erfahren hat, trifft sich mit einer zeitgleich aufkommenden Debatte um Denkmale und Statuen. Im Rekurs auf die zeitgenössischen Traktate zur Gartenkunst sowie anhand von Überlegungen zur künstlerischen Ausgestaltung und Wirkung, zur adäquaten Platzierung, aber auch zur Finanzierung – nur Hannoveraner Spenden wurden angenommen – des Monuments rekonstruiert Gamper die einzelnen Planungsschritte einer schließlich in Stein gemeißelten Imaginärpolitik um den ,Universalgelehrten‘. Dass dabei am Ende weniger die Leibniz’sche ,Größe‘ als vielmehr die durch sein steinernes Vorbild angeregte vaterländische Gefühlsgemeinschaft im Zentrum steht, davon zeugt der Blick auf die zeitgenössische Rezeption des 1790 fertig gestellten Denkmals. So heißt es im Kommentar eines Zeitgenossen: „Das Denkmal, welches hier Leibnitzen errichtet wird, ist ein Denkmal der edlen Gesinnungen des Publikums, das es errichtet; und der Regierung, unter der man es wagen durfte, es anzugehen.“ Die Statue wird hier zur Projektionsfläche eines sich in aufklärerischem Geist unifizierenden Kollektivs. Man mag Leibniz und Hannover für weniger wichtig und interessant halten als Ali, Obama und Amerika, um die es Gamper aber auch nicht geht. Dass Obamas Tweet zum Tod des champs und ein deutsches Philosophen-Denkmal aus dem 18. Jahrhundert beredte Exempla einer Imaginärpolitik des großen Mannes darstellen, darf außer Frage stehen.

Weitere bibliografische Angaben:

Größe. Zur Medien- und Konzeptgeschichte personaler Macht im langen 19. Jahrhundert. Hg. von Michael Gamper und Ingrid Kleeberg. Zürich 2015.

Michael Gamper:Der ,große Mann‘ im Krieg“. In: Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Hg. von Karl Wagner, Stephan Baumgartner u. Michael Gamper. Zürich 2014. S. 17–27.

Michael Gamper: „Ausstrahlung und Einbildung. Der ,große Mann‘ im 19. Jahrhundert“. In: Das 19. Jahrhundert und seine Helden. Literarische Figurationen des (Post-)Heroischen. Hg. von Jesko Reiling u. Carsten Rohde Bielefeld 2011. S. 173–198.

Katharina Grabbe: Deutschland. Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990. Berlin/Boston 2014.

Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film. Hg. von Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler u. Martina Wagner-Egelhaaf. Bielefeld 2012.

Supernerds. Gespräche mit Helden. Hg. von Angela Richter. Mit Zeichnungen von Daniel Richter. Berlin 2015.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Gamper: Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
432 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835317963

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch