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Ludovico Ariostos „Orlando furioso“ – Ein Stück Weltliteratur

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

Der Orlando furioso erschien erstmals 1516, in überarbeiteten Versionen 1521 und 1531. Das Versepos erlebte etwa alle zwei Jahre eine Neuauflage mit 1000-2000 Exemplaren. Es war der Bestseller des 16. Jahrhunderts und bis weit ins 19. Jahrhundert so bekannt wie Grimms Märchen. Zu den Komponisten, die den Stoff als Oper bearbeiteten, gehören Jean-Baptiste Lully, Antonio Vivaldi, Georg Friedrich Händel, Jean-Philippe Rameau und Joseph Haydn. Übersetzungen ins Deutsche gab es 1631, 1758, 1778, 1782, 1804, 1818, 1880, 1898 und 1922 unter dem Titel Der rasende Roland.

Der Autor Ludovico Ariosto (1474-1533), Sohn eines verarmten Adligen, stand in Diensten des Hauses Este, zuerst von Kardinal Ippolito, Bischof von Ferrara, dann von Alfonso I., Herzog von Modena und Ferrara.

Ludovico Ariosto, Joachim von Sandrart, nach Tizian, Kupferstich, 1623–1668, Rijksmuseum Amsterdam

Ludovico Ariosto, Joachim von Sandrart, nach Tizian, Kupferstich, 1623–1668, Rijksmuseum Amsterdam

Das Werk ist nicht auf Latein geschrieben, wie etwa die ebenfalls 1516 erschienene Utopia von Thomas Morus, sondern auf Toskanisch, das Ariostos Zeitgenosse Pietro Bembo zur italienischen Literatursprache erhoben hatte. Der Orlando furioso zählt zusammen mit Dantes Göttlicher Komödie, Bocaccios Decamerone und Petrarcas Canzoniere zu den wichtigsten Werken der italienischen Literatur.

Das Epos besteht aus 46 Gesängen mit jeweils zwischen 80 und 200 Strophen, insgesamt 4842 Strophen in Form der italienischen Stanze mit dem Reimschema ab-ab-ab-cc. In drei Kreuzreimpaaren schwingt sich der Gedanke auf, während der Parallelreim am Ende den Gedankenfluss bremst und wie ein doppelter Schlussstrich wirkt.

Gleich in der 3. Strophe des 1. Gesangs lobt Ariosto seinen Dienstherrn und Auftraggeber und führt dessen Stammbaum auf mythische Figuren aus der Antike zurück: Herrscherlob und Zuschreiben einer, wenn auch noch so phantastischen Genealogie. Das wurde vom Dichter erwartet.

Großmüt’ger Sproß von Herkules‘ Geschlechte,
Erhabne Zier und Glorie dieser Zeit,
Empfanget, Hippolyt, von Eurem Knechte,
Was er Euch einzig weihen kann und weiht.
Euch zahlt vielleicht dies Wort- und Reimgeflechte
Zum Teil zurück, was Eure Huld mir leiht:
Und dass ich wenig geb‘, ist nicht zu rügen,
Denn was ich hab‘, Euch geb ich’s mit Vergnügen.[1]

Der Glaubenskrieg

Im Orlando furioso kämpfen die Sarazenen, ein Sammelbegriff für Mohammedaner, Araber, Mauren, Berber, Libyer und andere Korangläubige, gegen die vereinigten Heere des christlichen Europa. Die Kriegsereignisse ziehen sich als Handlungsgerüst durch das Epos.

Der Verlauf des Geschehens in telegraphischer Kürze: Sarazenen belagern das christliche Paris. Unterstützt von englischen Hilfstruppen sprengen Christen den Belagerungsring. Mit Hilfe nordafrikanischer Hilfstruppen drängen Sarazenen Christen nach Paris zurück. Christen machen Ausfälle und erzielen Territorialgewinne. Kampfgeschehen verlagert sich sukzessive nach Süden: nach Arles in Südfrankreich, nach Spanien und nach Nordafrika. Entscheidungsschlacht auf der Insel Lampedusa durch dreifachen Zweikampf christlicher und sarazenischer Ritter. Dank Orlandos Geistesgegenwart wird der Krieg zugunsten der Christen entschieden. Empfang der Sieger Paris.

1492, also nur 25 Jahre vor der Erstveröffentlichung des Orlando furioso, hatten die Truppen des vereinigten christlichen Spaniens die Muslime aus ihrer letzten Hochburg Granada vertrieben. Damit war die sogenannte Reconquista beendet, die Rückeroberung der iberischen Halbinsel durch die Christen, die rund 800 Jahre vorher begonnen hatte. Genau zu dieser Zeit spielt der Orlando. Der hochaktuelle politischen Ost-West-Konflikt des 16. Jahrhunderts mit dem Osmanischen Reich und dem christlichen Europa, die sich im Mittelmeerraum als feindliche Machtblöcke gegenüberstanden, wird in die Vergangenheit des 8. Jahrhunderts verlegt, in die Zeit Karls des Großen.

Kaiser Karl führte tatsächlich Kriegszüge gegen die Sarazenen oder Mauren. Historisch bezeugt ist auch, dass einer seiner Paladine, Roland oder Hruotland, als Befehlshaber einer Nachhut in den Pyrenäen vernichtend geschlagen wurde – allerdings nicht, wie die Legende will, von den Mauren, sondern von christlichen Basken. Rolands Tod war Stoff für das im 12. Jahrhundert aufgezeichnete Rolandslied, das Ariosto bekannt war und ihm zusammen mit weiteren Sagen um Karl den Großen als Stoff für seinen Orlando diente.

Die Welt der Ritter

Erich Auerbach schreibt über das höfische Rittertum: „Waffenfahrten und Liebe […] sind mit der Person des vollkommenen Ritters dauernd verbunden. Sie gehören zu seiner Definition, so dass er keinen Augenblick ohne Waffenabenteuer und keinen Augenblick ohne Liebesverstrickung sein kann. Würde er es, so verlöre er sich selber und wäre kein Ritter mehr.“

Ein Musterbeispiel edlen Rittertums ist der Zweikampf zwischen Orlando und dem Tartarenkönig Agrican im 18. und 19. Gesang. Die beiden kämpfen schon einen ganzen Tag lang, ohne dass eine Entscheidung gefallen wäre. Müde vom Kampf legen sie sich spät nachts friedlich nebeneinander ins Gras und betrachten die Sterne. Orlando spricht über den christlichen Gott und Agrican bedauert, nie von ihm gehört zu haben. Am Morgen geht der Zweikampf weiter. Als Orlando Agrican tödlich verwundet, bittet dieser ihn um die Taufe.

In Wirklichkeit war das Rittertum 1516, als Ariostos Orlando erschien, bereits am Ende. Einen letzten Aufschwung genommen hatte die Ritterwelt mit Maximilian I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von 1508-19. In Frankreich versuchte der sogenannte Ritterkönig Franz I. in den 1520er Jahren noch einmal vergeblich, das Ritterleben zu reaktivieren.

Schon 200 Jahre vorher hatte sich angedeutet, dass die Ritter militärisch bald ausgedient hätten. Flandrische Bauern schlugen das französische Ritterheer in der Sporenschlacht von 1302 mit Knüppeln zusammen und sammelten hinterher körbeweise die Goldsporen ein. Gut organisierte Fußtruppen, Artillerie und leichte Reiterei übernahmen die Vorherrschaft auf dem Schlachtfeld. Panzerreiter waren zu unbeweglich und wurden mit Piken von den Pferden gestoßen.

Mit dem militärischen kam auch der wirtschaftliche Niedergang der Ritterschaft. Könige und Fürsten stärkten die Zentralgewalt in ihren Territorien und setzten auf Söldnerheere. Teile der Ritterschaft verarmten. Um sich selbst noch Bedeutung und eine Überlebensgrundlage zu verschaffen, gingen einige zum Raubrittertum über. Goethes Schauspiel Götz von Berlichingen, dessen historisches Vorbild 1480 geboren wurde, erzählt davon. Auch Miguel de Cervantes‘ Don Quijote von 1605/1615 handelt von einem verarmten Ritter, der lächerlicherweise noch einmal die alten Tugenden aufleben lassen will.

Die Schöne aus Cathay

Liebesverstrickungen, ohne die ein Ritter kein Ritter mehr wäre, werden im Orlando furioso mit einem Schuss Exotik serviert. Auch hier bezieht sich Ariosto auf einen Vorgängerstoff, den unvollendet gebliebenen Orlando innamorato (Verliebter Roland) von Matteo Maria Boiardo aus dem Jahr 1494. Zu Pfingsten – dem alten Fest der Schwertleite beziehungsweise des Ritterschlags – kommt Prinzessin Angelika aus Cathay nach Paris, wo Karl der Große in der österlichen Kampfpause ein Turnier veranstaltet.

Cathay ist der Name für China in Marco Polos Reisebericht, der 1298/99 aufgeschrieben wurde und noch zu Ariostos Zeiten sehr beliebt war. Es war eine Epoche, in der sich das Weltwissen rasant erweiterte: 1492 landete Christoph Kolumbus in Amerika, 1498 fand Vasco da Gama den Seeweg nach Indien. 1505 unternahm der spanische Vizekönig eine Indienexpedition. 1511 reiste Ferdinand Magellan auf die Gewürzinseln, 1519 brach er zur ersten Weltumsegelung auf, von der er selbst nicht zurückkehrte.

Indien, Südostasien und China waren in aller Munde, eine Prinzessin von dort eine Sensation. Zumal, wenn sie die schönste Frau der Welt ist und ihr Bruder Argalia eine Zauberlanze besitzt, die ihn unbesiegbar macht. Die Schöne aus Cathay kommt also nach Paris und fordert die Blüte der christlichen und maurischen Ritterschaft zum Zweikampf mit ihrem Bruder auf. Wer ihn besiegt, bekommt Angelika, die natürlich Jungfrau ist.

Dann passiert das Unvermeidliche. Die Zauberlanze wird vertauscht, der Bruder im Zweikampf getötet. Angelika will nicht die Beute des unlauteren Siegers sein und flieht. Nun nimmt die Geschichte Fahrt auf. Die gesamte Ritterschaft ist hinter ihr her. Es kommt zu einer wilden Verfolgungsjagd rund um den Globus, bei der nur noch die Vettern Orlando und Rinaldo mithalten können und Angelika dicht auf den Fersen bleiben.

Die Aufzählung der Handlungsstationen gleicht einer Kreuzfahrt zu den wichtigen Stätten der damals bekannten Welt: Paris – Arles – Schottland – Japan – Spanien – Bretagne – Holland – Irland – Mahgreb – Nubien – Ägypten – Äthiopien – Damaskus – Tarragona – Gibraltar – Nahost – Fernost – dazu zahlreiche Phantasiestädte und schließlich der Mond. Auch wenn Amerika fehlt, schafft der Orlando furioso eine neue Kosmographie. Es gibt kein festes Zentrum mehr, kein Jerusalem als Nabel der Welt oder Rom als Kapitale, wie im Mittelalter. Die Handlung kann jetzt überall spielen.

Doch auch die längste Verfolgungsjagd nimmt ein Ende. Einer muss die Schöne aus Cathay bekommen. Doch der Glückliche ist nicht Orlando, Rinaldo oder ein anderer hochadliger Prinz. Angelika verliebt sich ausgerechnet in Medoro, einen einfachen Soldaten, der zu allem Überfluss auch noch Heide ist. Im 19. Gesang wird er in einem Wald bei Paris verletzt. Angelika, natürlich auch eine Meisterin der chinesischen Heilkunst, pflegt ihn im Haus eines Schäfers gesund. Im 20. Gesang heiraten sie, womit der Stoff für die Ritterromanze erschöpft ist.

Der rasende Roland

Als Orlando erfährt, dass Angelika in festen Händen ist, geht das Epos auf sein Ende zu, ein langes Ende von weiteren 26 Gesängen, denn der verliebte Held verliert seinen Verstand und wird zum wilden, um sich schlagenden Tier. Er reißt sich die Kleider vom Leibe, wirft seine Waffen weg, verjagt sein Pferd und tobt drei Monate lang besinnungslos durch das Land. Gleich in der 2. Strophe des 1. Gesangs kündigt Ariosto das an:

Ich will zugleich von Roland Dinge sagen,
Die nimmer Reim und Prosa noch gelehrt:
Wie er zum Narren ward durch Liebesplagen,
Da man ihn sonst für so gescheit erklärt;
Wenn sie, die mich fast eben so geschlagen
Und täglich mehr mein bisschen Witz yersehrt,
Mir wird zuletzt genug davon vergönnen,
Um, was ich angelobt, vollzieh‘n zu können.

Ariosto selbst kann sein Werk nur vollenden, wenn „sie, die mich fast eben so geschlagen“, also seine Angebetete, die ihn in einen vergleichbaren Liebeswahn versetzt hat, das erlaubt. Der Furor des Orlando gleicht dem ‘Furor poeticus’ des inspirierten Dichters. Die Dame gab es tatsächlich: Alessandra Benucci, Ehefrau des Florentiner Humanisten Tito Strozzi, der 1515 verstarb und zu der Ariosto schon seit längerem ein Verhältnis unterhielt, bevor sie 1528 heirateten.

Die Heilung von Orlandos Liebeswahn geschieht  in der Mondepisode im 33. und 34. Gesang. Astolfo, der englische Vetter Orlandos, landet dank des Hippogryphen – eines Flügelpferdes, wie es auch Harry Potter 500 Jahre später benutzen wird – in Nubien, im Reich des sagenhaften Priesterkönigs Johannes, also im heutigen Äthiopien. Auf Johannes liegt ein göttlicher Fluch, seit er versucht hat, das irdische Paradies zu erobern, das auf dem Gipfel der Mondberge an den Quellen des Nils liegen soll. Zur Strafe ist er erblindet und kann trotz seiner sagenhaften Reichtümer nie etwas essen. Sobald die Tafel gedeckt ist, erscheinen Harpyien, fressgierige Vögel mit Frauenköpfen, die alles mit Unflat besudeln und einen unerträglichen Gestank hinterlassen.

Erst wenn ein Ritter, so die Prophezeiung, auf einem geflügelten Pferd kommt, wird der Fluch aufgehoben. Man kann sich vorstellen, dass Astolfos Ankunft von Johannes mit einem Festmahl gefeiert werden soll. Doch noch ist der Fluch nicht gebrochen: Die Harpyien erscheinen erneut und Astolfo muss sie erst mit Flügelpferd und Zauberhorn in die Hölle jagen. Die liegt ebenfalls an den Quellen des Nils.

Auf der Suche nach weiteren Abenteuern fliegt Astolfo auf die Mondberge, wo der Mond zum Greifen nahe erscheint. Dort im irdischen Paradies blühen Blumen als wären es Perlen, Rubine und Saphire. Kristallklare Bäche fließen durch smaragdgrüne Wiesen, die Bäume tragen immerwährend Früchte und tausend Wohlgerüche nähren die Seele. In einem sieben Meilen großen Lichtpalast, vor dem die sieben Weltwunder verblassen, wird Astolfo diesmal von Johannes dem Evangelisten empfangen. Der eröffnet ihm, dass er in allerhöchster Mission unterwegs sei. Orlando habe sich in die heidnische Prinzessin Angelika verliebt und als Strafe Gottes für drei Monate seinen Verstand verloren. Da die Zeit bald abgelaufen ist, soll Astolfo Orlandos Verstand, der in einer versiegelten Flasche auf dem Mond lagert, zurückholen.

Für die Reise zum Nachbarplaneten – 1516 ist der Mond noch kein Trabant der Erde – ist das Flügelpferd nicht geeignet. Um das ewige Feuer, das die irdische Sphäre umgibt, unbeschadet zu durchqueren, braucht es den vierspännigen Wagen, mit dem einst der Prophet Elias zum Himmel fuhr. Nach Mondaufgang macht sich Astolfo auf den Weg, mit Johannes als Wagenlenker und Reiseführer.

Der Mond ist ein Spiegelbild der Erde, mit Bergen und Tälern, Flüssen und Seen, Städten, Schlössern und wildreichen Wäldern, in denen die Nymphen jagen. Johannes führt Astolfo in ein enges Tal, wo alles aufbewahrt wird, was auf der Erde durch das Vergehen der Zeit, durch Zufall, Schicksal oder aus Versehen verloren ging: Weltreiche, Schätze, Versprechungen, Liebe und Ruhm. Unter Blasebälgen mit verwehter Fürstengunst finden sich auch Berge stinkender Blumen, die von der Konstantinischen Schenkung übrig geblieben sind. Die entsprechende Urkunde von Kaiser Konstantin an Papst Sylvester, die den Kirchenstaat begründete, war 1440 von dem Humanisten Lorenzo Valla als Fälschung entlarvt worden.

Nur eines entdeckt Astolfo nicht auf dem Mond – die Torheit, denn die geht auf Erden nie verloren. Umso mehr Verstand ist auf dem Mond gelandet, eine feine Flüssigkeit, die sich leicht verflüchtigt und in dicht verschlossenen Phiolen aufbewahrt wird. Unter unzähligen Fläschchen, auch solchen mit den Namen berühmter Sophisten, Astrologen und Dichter, stößt er auf eins mit seinem eigenen Verstand. Er öffnet es, hebt es an die Nase und findet zur Weisheit – bis er sie wieder verlieren wird, wie Ariosto vorausschauend hinzufügt. Astolfo kehrt mit Orlandos Verstand im Gepäck zur Erde zurück. Auch wie er als Dichter seinen Verstand wiedergewinnen kann, weiß Ariosto.

Allein mir däucht, ihn wieder einzufangen,
Bedürft‘ ich eben nicht bis in den Mond,
Bis nach dem Paradiese zu gelangen;
Ich zweifle, dass so hoch der meine wohnt.
In euerm Aug‘, auf euern heitern Wangen,
Dem weißen Busen, wo die Wonne thront,
Irrt er umher; dort wünsch‘ ich, mit den Lippen,
Wenn’s euch beliebt, ihn wieder einzunippen.

Das Leseabenteuer

Man hat das Werk mit einem Barockgarten verglichen, in dem man sich leicht verlaufen kann. Das gilt für die Leser, aber auch für die handelnden Personen. Was wir ‘Fahrende Ritter’ nennen, heißt im italienischen Original ‘Cavalieri errante’, und das bedeutet auch ‘Herumirrende Ritter’. Kein Wunder, bei den etwa 130 Handlungssträngen, die das Epos vereinigt. Dazu die ständigen Szenenwechsel: Manchmal überlässt der Dichter seine Helden mitten im Geschehen sich selbst und greift irgendwann den Faden wieder auf.

Als Ariosto 1528 beim Dogen von Venedig um Druckerlaubnis für die 3. Ausgabe seines Orlando bat, schrieb er als Begründung, das Epos biete „Trost und Unterhaltung für jedermann“ – gemeint war die höfische Gesellschaft, die mit Geschichten unterhalten werden wollte. Da in der Regel vorgelesen wurde, durften die Episoden nicht zu lang sein und mussten ein konstantes Personeninventar haben, das in immer neue Situationen hineingeführt werden konnte.

Insofern hat der Orlando furioso durchaus Ähnlichkeit mit einer Fernseh-Soap: Verliebte Ritter jagen Ritterfräulein nach, obwohl es ihnen am Ende doch vor allem um Ruhm und Ehre geht. Bezeichnend ist eine Szene gleich zu Beginn, als Orlando und Ferragu hinter der fliehenden Angelika her sind. Da gerade nur ein Pferd zur Hand ist, reiten sie zu zweit auf diesem einen. Was macht es schon, dass Ferragu Orlandos Nebenbuhler ist? Hauptsache, man verhält sich ritterlich.

Auch die Ritterfräulein greifen in die Kämpfe ein. Bradamante und Marfisa etwa werden oft für Männer gehalten, was damit zu tun haben könnte, dass beide Rüstungen des hohen Mittelalters tragen, die von den Rittern aus der Zeit Karls dem Großen nicht zu identifizieren sind. Ein Spiel mit dem Unzeitgemäßen ist auch die Geschichte mit dem Gewehr, das es im 8. Jahrhundert nicht gab. Orlando bekommt es zufällig in die Hand und wirft es nach kurzer Überlegung ins Meer, weil es unehrenhaft wäre, eine Waffe zu benutzen, die ihm Vorteile im Kampf verschafft.

Bei aller Zielstrebigkeit lassen sich die Ritter im Epos immer wieder ablenken. Die erbittertsten Kämpfe werden unterbrochen, weil es gerade eine nackt an Felsen gekettete Jungfrau mit alabasterweißem Körper vor einem Meerungeheuer zu retten gilt. Natürlich hatte der zeitgenössische Leser den entsprechenden griechischen Mythos am Schnürchen: Perseus und Andromeda, hier dargestellt von Ruggiero und Angelika.

Das Schicksal hat vorherbestimmt und der Zauberer Merlin hat es prophezeit, dass Ruggiero die kriegerische Bradamante, Rinaldos Schwester, heiraten wird. Die beiden müssen zusammenkommen, damit aus ihrer Heirat der Stammvater des Hauses Este hervorgehen kann, dessen Nachkommen von dem Dichter Ludovico Ariosto erwarten werden, dass er ihnen in seinem Orlando eben diese Abstammung zuschreibt. Als Orientale – natürlich wird er vor der Hochzeit getauft – ist Ruggiero besonders gut als Ahnherr des Hauses Este geeignet, da sich seine Abstammung mühelos auf die Trojaner zurückführen lässt. Und von da ist es genealogisch ein Katzensprung zu Herkules.

Damit die beiden zusammenkommen, wird Ruggiero vom Hippogryphen auf eine Insel entführt, auf der die böse Fee Alcina lebt. Deren Lieblingsbeschäftigung besteht darin, Männer zu benebeln und, sobald sie genug von ihnen hat, in Pflanzen oder Steine zu verwandeln. So erging es auch Astolfo, jetzt ein Myrtenbaum, an den Ruggiero nach Landung auf der Insel den Hippogryphen bindet. Astolfo erzählt Ruggiero, was ihm blühen wird, doch es nützt nichts. Alcina verzaubert ihn. Zum Glück kommt Bradamante des Weges und steckt ihm den magischen Ring des Zauberers Atlas an, so dass Ruggiero aufwacht und statt der betörenden Alcina ein hässliches altes Weib sieht.

Hier könnte die Mondepisode anschließen oder die mit dem Zauberer Atlas, der Ruggiero, Bradamante, das Pferd Rabikan und Angelika in sein Schloss lockt, ein Ort der Sinnestäuschungen, wo sie alle verblendet aneinander vorbeiirren, ohne sich zu erkennen.

Solche Zusammenhänge herzustellen, ist allein dem Leser überlassen, weil der Autor seine Geschichten in kleinen Portionen über das ganze Epos verstreut. Vielleicht ist das der Grund, warum man nie den Eindruck hat, mit Phantasien à la Münchhausen konfrontiert zu sein und geneigt ist, Ludovico Ariosto seine Geschichten abzunehmen.

Anmerkung:

[1] Übersetzungen aus: Johann Diederich Gries, Lodovico Ariosto’s Rasender Roland. Jena 1804–1809.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg