Amok und Nachahmung

Erinnerung an eine mediengeschichtliche Studie aus aktuellem Anlass

Von Oliver KohnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Kohns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. Amok und „die Medien“

Die Ereignisse vom 22. Juli 2016 in München sind in den Medien unter den verschiedensten Kategorien wahrgenommen und diskutiert worden. Dass der 18-jährige David S. in einem Einkaufszentrum im Norden der Stadt neun Menschen und anschließend sich selbst tötete, erschien zunächst unmittelbar evident als islamistischer Terror. In nahezu allen Berichten wurde betont, dass David S. ein „Deutsch-Iraner“ sei, entsprechend wurden die Taten zunächst als „Attentat“ bezeichnet. Erst am nachfolgenden Tag stellte sich heraus, dass der Täter offenbar zum Christentum konvertiert war, womit der Kontext „Attentat“ problematisch wurde. Die Polizei spricht bereits am Mittag des 23. Juli nicht mehr von „Terror“, der in München verübt worden sei, sondern von einem „klassischen Amoklauf“. „David S. war ein Einzeltäter. Aber was war seine Tat? Ein Amoklauf, wie es sie an Schulen gab, oder ein Attentat“, hieß es daraufhin konzeptuell verunsichert in einem Online-Artikel der Süddeutschen Zeitung.

Die Figur des Amokläufers ist in den letzten Jahren ein wenig in Vergessenheit geraten – sie wurde verdrängt von anderen Figuren des kollektiven Schreckens wie dem Terroristen und Attentäter. Dass die Ereignisse in München bald als „klassischer Amoklauf eingeordnet wurden, hatte unmittelbar diskursive Reflexe zur Folge: Bundesinnenminister Thomas de Maizière kritisisierte umgehend das „unerträgliche Ausmaß von gewaltverherrlichenden Spielen im Internet“, die seiner Ansicht nach eine Mitschuld an den Taten von München trügen. Das „Schreckgespenst ‚Killerspiel’“ geht wieder um, kommentiert Matthias Kreienbrink kritisch in der Zeit. Auch wenn der Täter von München, wie sich gezeigt hat, tatsächlich ein regelmäßiger Spieler von „Counterstrike“ gewesen sein mag, bleibt gleichermaßen wahr, dass es unzählige fleißige Spieler dieses „Killerspiels“ gibt, die nicht irgendwann den Drang verspüren, auch offline zur Waffe zu greifen. Die Suche nach einer einfachen Erklärung der Vorfälle führte schnell in die gleichen Sackgassen wie die Diskurse über Amoklauf in den 1990er Jahren.

Dass die Vorbereitung des Amoklaufs von München eine komplexe mediale Konstellation voraussetzte, verdeutlicht ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung („Jugendliche spielen Amokläufe nach“, 31. Juli 2016). Hier wird „eine Szene im Netz“ beschrieben, „die besessen ist von Amokläufen“. Spiele wie „Counterstrike“ würden hier nicht zum Spielen – d.h. zu ergebnisoffenen Interaktionen mit der Software – genutzt, sondern dazu, tatsächliche Amokläufe in der Form eines Videoclips möglichst detailgetreu nachzustellen und so immer wieder nachzuvollziehen und einzustudieren. „Amokläufer bereiten sich jahrelang auf ihre Taten vor“, heißt es in dem Artikel: „Sie beschäftigen sich immer wieder mit bekannten Amokläufen, planen und spielen ihre eigenen, bis sie schließlich zur Waffe greifen“. Damit wird der allzu einfache und reflexhafte Verweis auf Spiele wie „Counterstrike“ (und ähnliche „Killerspiele“) durch die weitaus komplexere Frage nach der jeweiligen Nutzungsstrategien dieser Medien ergänzt. Die Annahme, dass bestimmte Medien gewissermaßen in der Lage sind, ihre Nutzer „umzuprogrammieren“ und aus harmlosen Jugendlichen mordlüsterne Amokläufer zu machen, wird damit als eine allzu naive Medientheorie erkennbar. Dennoch ist auch die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erkennbar auf der Suche nach einer einfachen Erklärung der Ereignisse in München, indem sie aus der Existenz einer bestimmten Anzahl von Jugendlicher – man erfährt in dem Artikel nichts über eine Anzahl – unmittelbar auf die Existenz einer „Internetszene“ geschlossen wird, deren Mitglieder „das Töten mit Killerspielen (…) trainieren“. Aber auch eine – zugegeben – geschmacklos anmutende Faszination für Amokläufe muss nicht notwendigerweise in deren Planung und Ausführung enden. Auf diese Weise wird ein Mythos über Medienprogrammierung durch einen anderen – wenn auch etwas komplexeren – ersetzt.

Die Figur des Amokläufers aktiviert – das zeigen die Vorgänge in München und ihre mediale Darstellung sehr anschaulich – unmittelbar die offensichtliche Dringlichkeit, die Rolle „der Medien“ bei der Genese des Amoktäters zu reflektieren. Der Amoklauf ist Teil einer Mediengeschichte im doppelten Wortsinn: Eine Geschichte, die die Medien immer wieder neu erzählen, und zugleich eine Geschichte über „die“ Medien. Möglicherweise also fällt der Amoklauf nicht in den Zuständigkeitsbereich der Psychiatrie, sondern in den einer Medienkulturwissenschaft. Diese Annahme könnte dazu inspirieren, noch einmal die vor ein paar Jahren erschienene Studie des Potsdamer Medienwissenschaftlers Heiko Christians über den Amoklauf zu lesen. Diese Studie nimmt die Beobachtung, dass der Amoklauf nicht nur ein beliebter Gegenstand massenmedialer Berichterstattung ist, sondern von dieser wesentlich konstruiert wird, zum Ausgangspunkt – und öffnet das Feld einer medienkulturgeschichtlichen Phänomenologie: „Sehr wohl aber müssen, die Genres der Amok-Überlieferung – also Meldung, Bericht, Tagebuch, Essay, Novelle, Briefroman, Blog oder Fachbuch – historisch verortet werden, sehr wohl müssen diese Formen nach Ausbreitungsgeschwindigkeit, Umfang, Ambition, Auflage oder Zugänglichkeit analysiert werden“.

Vorausgesetzt, dass der Amoklauf nicht ohne die Form seiner medialen Beobachtung und Inszenierung zu untersuchen ist, wird die Analyse dieses Phänomens notwendigerweise zu einer Phänomenologie des Medialen überhaupt. „Mit welchen Kategorien aber beobachten Medien Amokläufe und machen Ereignisse daraus? Wie beobachten Medien und als was präsentieren sie es der sogenannten Medienöffentlichkeit?“ Christians’ Studie sammelt deshalb nicht lediglich Wissen über den Amoklauf an: Sie ist, am Leitfaden des Phänomens und der Phänomenalisierung – d.h. der notwendigerweise medialen Inszenierung – des Amoks zugleich eine Untersuchung der Möglichkeiten einer Medienkulturwissenschaft überhaupt. „Die Geschichte des Amok“, schreibt Christians, „ist untrennbar verbunden mit der Geschichte der Nachrichten und Berichte, mit der Geschichte der Globalisierung der Kommunikation, d.h. mit den Fragen, was man zu einem gegebenen Zeitpunkt an einem gegebenen Ort für eine Nachricht hielt, wie oft und in welcher Form man mit ihnen versorgt wurde, welche Ansprüche an Nachrichten gestellt wurden“.

Die Untersuchung gliedert sich in 15 Einzelkapitel, die sich ohne große Mühe in vier Bereiche unterteilen lassen:

I. Die Analyse der Rolle des Amoks in – vor allem: massenmedialen – Diskursen der Gegenwart sowie der ihrerseits schon medialen Inszenierung des Amoklaufs durch den Täter.

II. Die Geschichte der Nachrichten und Berichte vom Amok. Ausgehend von der malaiischen Herkunft des Wortes „Amok“, zeichnet Christians hier nach, wie und mit welchen Interpretationsmustern die „westlichen“ Kulturen den Amok dargestellt haben.

III. Jenseits der „westlichen“ Perspektive soll auch versucht werden, den Amoklauf aus malaiischen Quellen selbst zu interpretieren. Hierzu interpretiert Christians insbesondere den Roman Hikayat Hang Tuah (dessen Quellen bis zum 16. Jahrhundert zurückreichen) und unternimmt eine kleine kulturgeschichtliche Abhandlung über die Bedeutung des Kris, des malaiischen Dolches.

IV. In einem vierten Schritt entwickelt Christians – mit Blick auf literarische Inszenierungen des Amoks (Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas oder Stefan Zweigs Der Amokläufer), auf kulturtheoretische Modelle (Georges Devereux, Pierre Legendre und andere) sowie auf filmische Darstellungen (vor allem Martin Scorseses Taxi Driver) – eine kleine Medien- und Literaturgeschichte des Phänomens.

2. Das Medienereignis „Amok“

 „Amok“ erscheint in der Kultur der Gegenwart wesentlich als ein Medienereignis. Diese Bezeichnung trifft in gleich mehrfacher Hinsicht zu: Erstens, insofern die Berichterstattung über den Amoklauf einer präzise beschreibbaren Dramaturgie folgt: „Erst zeigt man die Schule aus großer Entfernung (aus der Luft) als Ort des Unfassbaren (gleichsam auf dem Mars gelegen), dann kommt man doch näher heran: Man sieht Absperrungsbänder der Polizei, geduckte Scharfschützen, mit Planen verhüllte Leichen auf dem Schulgrundstück, vorbeihastende Sanitäter“ (S. 26) – usw. Zweitens aber ist der Amoklauf ein Medienereignis, weil die Täter sich zumeist aus dem medial gegebenen Fundus an Rollenvorbildern bedienen, um sich eine eigene Identität zu geben: „Fast alle Amokläufer haben eine multimedial arrangierte Ersatzidentität oder Ersatzrolle, zumeist eine heroisch-gewaltsame Ersatzidentität, die den supplementären Charakter durch spezifische Intensitäten der Mediennutzung schließlich so folgenreich verliert“.

Der Hinweis auf die auffällige strukturelle Ähnlichkeit dieser Arrangements und Inszenierungen des Amoklaufs erklärt, warum der Amoklauf weniger – weniger jedenfalls als beispielsweise die in vielen Filmen und Romanen gleichermaßen populäre Figur des Serienkillers – zum Objekt einer psychologisch-medizinischen Betrachtung wird. Der Amokläufer ist niemals singulär; seine Tat nicht allein individuell zuschreibbar: Der Aspekt der Nachahmung – als medialer Inszenierung beispielsweise – muss von vornherein beachtet werden. (Es wäre eine interessante Frage, ob dies nicht eigentlich auch für den Serienkiller gelten müsste – und warum diese Figur in den Diskursen der Gegenwart dennoch grundsätzlich anders konturiert wird.)

Damit verdoppelt sich allerdings die Gestalt der „Medien“ auf eine komplexe Art und Weise: Nicht nur die Berichterstattung über den Amok ist massenmedial inszeniert – auch der Amokläufer selbst und seine Tat folgt einer medialen Vorbildern entnommenen und für ihre Darstellung zubereiteten Regie. Die Abläufe sind bekannt: Ein Täter schreibt etwa blutrünstige Dramen, ein anderer konsumiert reihenweise einschlägige Videofilme, ein weiterer versinkt in der Phantasiewelt eines Computerspiels – bis er, eines Tages, die reale Waffe ergreift und seine Schule oder einen anderen öffentlichen Ort zum Schauplatz seiner Nachahmung des Gesehenen, Gespielten, Phantasierten macht. Die Berichterstattung über den Amoklauf begegnet, indem sie diesen Ablauf beschreibt und wahrnimmt, sich selbst in verzerrter Gestalt: Die Diskurse über den Amoklauf in den Medien sind in der Gegenwart immer wieder Diskurse über (die) Medien.

Christians’ Studie entdeckt, mit anderen Worten, den Amokläufer als eine Figur der Selbstreflexion von Medialität. In der Gestalt des Amokläufers wird es innerhalb von Mediendiskursen möglich – wenn nicht unvermeidlich – über die Frage der Einwirkung von Medialität, von suchtartigem Konsum, von medialen Inszenierungen der Wirklichkeit auf die Wirklichkeit zu reflektieren. Dabei gibt es, so Christians, eine signifikante Verschiebung: „Nur jeweils neuen Medien – nach dem Film, dem Video, dem Videospiel, dem Computer jetzt dem Computerspiel – wird unterstellt, dass die Grenze zwischen Fiktion und Realität vom Nutzer gewissermaßen notwendig irgendwann überschritten oder von Anfang an für ihn nicht hinreichend erkennbar ist“ . Die Frage der Mediensucht ist dabei, aus historischer Perspektive betrachtet, vor allem eine Folge der Medienkonkurrenz: Medien beobachten sich nicht einfach selbst, sondern sie konstruieren zuallererst ein Objekt namens „die Medien“, welches sie selbst nicht sind – und schreiben alle etwaigen Folgen übermäßigen oder falschen Medienkonsums diesen (neuen) Medien zu.

3. Geschichte(n) des Amoks

Man könnte sich damit bereits zufrieden geben. Der Amoklauf als eine seltsame Figur des Medienzeitalters: Produkt einer medialen Selbstinzenierung und gleichzeitig einer Darstellung durch Medien, die damit auf (andere?) Medien reflektieren. Der fundamentale Widerspruch, der in diesen beiden Perspektiven formuliert wird, löst sich in Christians’ Untersuchung nicht auf. Dies ist allerdings auch nicht das Interesse der Studie, der Widerspruch wird hier wahrscheinlich als notwendiges Element der doxa geduldet. Die Frage, die Christians anschließt, ist fruchtbarer: „Die zentrale Frage könnte daher sein, ob es einen Amok vor dem Amok gibt?“ – mit anderen Worten, ob sich das Phänomen Amok auch jenseits der von den gegenwärtigen massenmedialen Diskursen bereiteten Wegen untersuchen lässt. Die Formel „Amok vor dem Amok“ lässt sich räumlich interpretieren, als die Frage nach dem (realen) Vorbild jenseits klischeehafter Abbilder – aber ebenso auch zeitlich, als die Frage nach der historischen Genese „unserer“ (d.h. der von den modernen Massenmedien bestimmten) Perspektive auf den Amok.

„Amok hat eine Geschichte“, heißt es im Vorwort lapidar. Ganz im Sinne Michel Foucaults sucht Christians’ Studie über den Amoklauf den historisch konturierten Zugriff auf die Thematik, um die scheinbaren Selbstverständlichkeiten der aktuellen Diskurse als kontingent zu beschreiben. „Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heißt […] das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließen, was existiert und für uns Wert hat“, schreibt Foucault in seinem Essay Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In diesem Sinn rekonstruiert Christians zunächst die Geschichte der Berichte, der Kenntnisse, des Wissens über den Amok – um dadurch die fundamentale Diskurs- und Mediengebundenheit jedes Wissens über das Phänomen belegen zu können.

Dabei ist von Bedeutung, dass das Phänomen „Amok“ seinen historischen Ursprung – wie das Wort ja schon belegt – in Südostasien, genauer auf der Insel Java hat. Der Amokläufer war – bis zum 20. Jahrhundert, als das Phänomen plötzlich auch in Europa und immer wieder in Amerika auftrat – über Jahrhunderte hinweg das Emblem einer unverständlichen, fremden und teilweise wohl als minderwertig bis barbarisch empfundenen Kultur. Die Geschichte des Wissens über den Amok ist damit zugleich eine angewandte Studie in der Konstruktion von Alterität.

In dieser Geschichte erfährt der Leser nicht nur etwas über mittelalterliche Reisen nach Ostasien – er wird auch instruiert über die Topik und Schreibpraxis des mittelalterlichen Reiseberichts überhaupt. Christians unterrichtet nicht nur über die beginnende Kolonialisierung Südostasiens im 17. Jahrhundert und die damit einhergehende Begegnung europäischer Soldaten mit der Kampftaktik Amok; er analysiert auch die Schreib- und Publikationsmethoden des Reiseberichts im 17. Jahrhundert. Immer geht es dabei um die Frage, wer was unter welchem Umständen beobachtet haben kann – und zugleich um die Frage, mit welcher Verzerrung oder mit welchem Interesse das Gesehene dann diskursiv (d.h. medial) weitergegeben und archiviert wurde.

Das aus heutiger Sicht zunächst überraschendste Ergebnis der historischen Untersuchung: Der Amoklauf galt in Südostasien keineswegs als pathologisches Verhalten von Individuen, sondern war – zunächst – eine soldatische Kampftaktik. Erst zu einem historisch späteren Zeitpunkt, nach der Kolonisierung des heutigen Indonesien, greifen wütende Einzeltäter zu ihrem Kris und beginnen einen Amoklauf, der der heutigen Form des Phänomens zumindest insofern ähnelt, als nach der Motivation eines an sich nur schwer verständlichen Verhaltens gesucht werden muss. Dabei zeigt sich eine tatsächlich verblüffende Vielfalt an historisch wechselnden Angeboten zur Erklärung der Mordsucht. „Das Amoktableau bekommt langsam Konturen“, schreibt Christians: „Geisteskrankheit im gesamten 20. und ausgehenden 19. Jahrhundert, kriegerische Praxis vor 1800, Aufruhr gegen die Obrigkeit und Opiumsucht um 1700, elitäre kriegerische Taktik um 1600, Ehrenhandel um 1500“.

Aber die hier aufgelisteten Erklärungsversuche stellen nur die explizit in den verschiedensten Texten angebotenen Gründe für Amokläufe dar. Christians’ Studie befragt die historischen Quellen nach den in ihnen entfalteten Modellen für den Amok, aber zugleich nach den ihnen nicht ausdrücklich vertretenen, oftmals aber implizit erzählten Geschichten und (Vor-)Verurteilungen. Dazu zählt erstens die mehr als einmal implizit angedeutete, einmal ausdrücklich angesprochene Möglichkeit, die immer wieder auf Java vorkommenden Amokläufe als verzweifelte Akte unter einem bedrückenden Kolonialregime zu interpretieren. Dazu zählt zweitens die vor allem seit dem 19. Jahrhundert dominierende Verbindung des Amoklaufs mit Rassentheorie: Es zeigt sich, dass „gerade die weiter verbreiteten populärwissenschaftlichen Bücher in Sachen Amok einen Kurzschluss mit den vagen rassetheoretischen Spekulationen des 18. Jahrhunderts herstellen, dessen Folgen nicht unterschätzt werden dürfen“. Der Diskurs über den Amoklauf dient somit – zumindest ab einer bestimmten Phase kolonialistischer Rhetorik – zur Aufstellung bzw. Bestätigung rassistischer Theoreme. Das ist jenseits der explizit dargestellten Begründungen für Amokläufe eine zentrale Funktion der Diskurse über den Amok.

4. Amok und Nachahmung

Beim „Amok vor dem Amok“, bei dem nicht massenmedial inszenierten realen Phänomen, ist Christians’ Untersuchung damit noch nicht angekommen. Die Bedeutung des Amoks innerhalb der malaiischen Kultur – jenseits der „westlichen“ Interpretationen des Phänomens – versucht Christians nun durch die Lektüre eines literarischen Textes zu erschließen: des Romans Hikayat Hang Tuah, dessen älteste bekannte Manuskripte aus dem Zeitraum zwischen 1650 und 1750 stammen, dessen Quellen aber wohl bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen.

Dieser Zugriff mag zunächst überraschen – denn gerade einem literarischen Text wird man kaum eine unverfälschte Wiedergabe außertextueller Wirklichkeit unterstellen, weniger noch als den bereits zitierten Reiseberichten. Christians nimmt diesen Einwand vorweg, indem er auf eine spezifische Konstellation von Literatur und Gesellschaft im Südostasien der Frühen Neuzeit verweist: Indem die javanischen Herrscher ihr Heer im 17 Jahrhundert in der Tradition der altjavanischen Dichtung Bharatayuddha „in der Form einer Garnele“ aufstellen ließen, beweisen sie eine – für „abendländische“ Maßstäbe unerhörte – Beziehung zwischen „Literatur und Gesellschaft, genauer: Literatur, Zeremoniell und Krieg“.

Die Struktur des Amok in seiner javanischen Heimat ist nun, wie Christians insistiert, komplexer als in den europäischen und amerikanischen Vorfällen der Gegenwart: Es gibt Amokläufe einzelner und in Gruppen. Daneben wird unterschieden zwischen dem „gemeinen Einzeltäter aus dem einfachen Volk“ und dem „kontrollierten mehrköpfigen Angriff, der den Amok mittelbar ausübt, um einen oder mehrere hohe politische Würdenträger […] zu ermorden“: Amok hatte auf Java also eine offene Grenze hin zu Phänomenen hin wie Meuchelmord oder auch zu gewöhnlichen Kampf- und Kriegstaktiken herausgehobener Soldatengruppen; zugleich gab es aber auch schon den ‚illegitimen‘, nicht von einer soldatischen Hierarchie befohlenen und kontrollierten Amok.

Die Grenze zwischen diesen beiden Polen ist offenbar von Anfang an durchlässig und labil. Die Figur der beständigen Möglichkeit ihrer Überschreitung liefert Christians einen Schlüssel zum Phänomen Amok überhaupt. Diese Figur ist die der Nachahmung: Indem die „ausdifferenzierte kriegerische Ethik […] in der Führungselite der vielen Stadtstaaten, Fürstentümer oder Klein-Königreiche der südostasiatischen Welt […] Vorbildcharakter für die gesamte männliche Bevölkerung, ja in Teilen sogar für die weibliche“ besitzt, kann der kontrollierte, ritualisierte Amok der Kriegstechnik und -taktik jederzeit qua Nachahmung zum unkontrollierten und scheinbar irrationalen Amoklauf eines Einzelnen führen. „Die Scheidelinie zwischen dem Ritual als scheinbar statischem, höfisch-steifem Zeremoniell und dem scheinbar spontan-anarchischen Anti- oder Gegenritual des Amoklaufs ist nur hauchdünn und ständig der Gefahr der Übertretung ausgesetzt“.

5. Eine Kulturgeschichte des Amoklaufs

Mit dem Konzept der Nachahmung – medial gewendet: der Programmierung – findet Christians eine Verbindung zwischen dem „originalen“ Amoklauf auf Java und den aktuellen Formen des Amoks in den westlichen Amoktaten der Gegenwart. „In beiden Fällen“ geht es um „eine Übernahme heroischer Identitäten“ aus dem Bereich der Fiktion und die gewaltsame Umsetzung dieser Fiktion in der Realität.

Nach der Analyse der Grenze zwischen rituellem und unkontrollierten Amok in seiner „originalen“ Umgebung beschreibt Christians in den folgenden Kapiteln eine Literatur- und Kulturgeschichte des Amoks. Diese kann hier nicht in allen Verästelungen nachvollzogen werden, hingewiesen sei auf zwei meines Erachtens besonders fruchtbare Abschnitte:

Mit Stefan Zweigs Novelle Der Amokläufer (1922) wird ein literarischer Text als Verbindung zwischen dem malaiischen Amok und der modernen Amok-Semantik im 20. Jahrhundert ausgemacht. Hier wird Amok „als Metapher nervös-krankhafter Überempfindlichkeit nach Zivilisationsentzug und einseitigem Verkehr mit atavistischen Kulturen“ entwickelt. Von hier aus wird die Attraktivität des Amoks insbesondere für die Populärkultur des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar.

Christians liest Martin Scorseses Film Taxi Driver (1976) plausibel im Raster seiner Überlegungen zum Verhältnis von Amok, Medien, Ethik und Nachahmung. Die Geschichte des psychopathischen Taxifahrers Travis Bickle wird in dieser Perspektive lesbar als die Erzählung vom „Ritter Bickle“: Der Wahn von Scorseses Protagonist als das Schreiben eines Lebensromans, in dem er – als Agent einer künftigen amerikanischen Regierung – dazu berufen ist, Recht und Ordnung in den Straßen New Yorks wiederherzustellen. Im Kern einer populären Darstellung eines Amoklaufs erkennt Christians damit das Muster wieder, das er anhand seiner Lektüre frühneuzeitlicher malaiischer Literatur entwickelt hat: Der (unkontrollierte, wahnhafte) Amoklauf als Folge der mimetischen Übernahme einer elitären, ritterlichen Ethik aus dem Bereich der Literatur.

6. Abschließend

Heiko Christians gelingt nicht nur eine informative Studie über die Geschichte des Amoklaufs und der Vielzahl seiner Interpretationen. Zugleich zeigt seine Untersuchungen das Potential einer Medienkulturwissenschaft auf. Hervorzuheben ist dabei die Beharrlichkeit, mit der jeder Bericht über das Phänomen Amok und jede Interpretation desselben auf medienbedingte, gattungsbedingte oder sonstige Limitationen und Vorbedingungen befragt wird. Christians’ Untersuchung des Amoks bildet damit eine Vielzahl von Perspektiven ab und entwirft geradezu en passant so etwas wie eine Fallgeschichte zu einer Medienkulturgeschichte des Kolonialismus. Außerdem ist die klare und verständliche Sprache der Studie zu loben.

Möchte man die Arbeit kritisieren, so können zwei Argumente vorgebracht werden:

Erstens ist es bedauerlich, dass die recht komplexe Struktur der Argumentation nicht erläutert oder erklärt wird. Es wird keineswegs eine lineare „Geschichte des Amoklaufs“ erzählt, sondern die Argumentation setzt immer wieder neu an, wodurch die Struktur der Arbeit vergleichsweise komplex wird. Warum beispielsweise die Ausführungen über kulturtheoretische Ansätze zum Amoklauf (Georges Devereux und Pierre Legendre) nicht in den Abschnitt über die Geschichte des Wissens über den Amok integriert wurden, wäre eine interessante Frage – und ebenso, warum die Frage nach der Rolle „der Medien“, die in den ersten Kapiteln dominiert, in diesen (späteren) Kapiteln keine vergleichbar zentrale Rolle mehr spielt. Die durchaus spannenden Ansätze Pierre Legendres etwa werden weitgehend in dessen eigenem theoretischen Vokabular expliziert – dabei wäre es vielleicht gerade fruchtbar gewesen, sie in Relation zu medientheoretisch inspirierten Überlegungen zu setzen.

Zweitens – und mit diesem Komplex zusammenhängend – stellt sich die Frage, ob und wie sich die von Christians entwickelte Erklärung des Phänomens Amok als „unreine Fiktion“ – als Nachahmungshandlung einer ritterlich-kriegerischen Ethik aus der Literatur – von den Mimesis- und Ansteckungsmodellen des Amok abgrenzen lässt, die in den ersten Kapiteln mit einigem Recht als zu grob gestrickt kritisiert werden. Der postulierte Gegensatz zwischen dem (zu einfachen?) Blick auf „die Motivik, das Genre oder das Spielsetting“ auf der einen Seite und der (reflektierten?) Sicht auf „die fatale Verbindung von Formen und Intensitäten des Medienkonsums mit der vereinfachenden Deutungsmacht der vormodernen Geschichten im modernen Kontext“ scheint bei näherer Betrachtung instabil zu bleiben. Eine präzisere Darlegung des eigenen theoretischen Zugriffs hätte hier vielleicht eine klarere Differenzierung ergeben können. Die Erklärung, die Christians für die Ausbreitung des Phänomens Amok in den letzten Jahren gibt, kann jedenfalls nicht vollkommen überzeugen. Nichtsdestotrotz lohnt sich die Lektüre der Studie auch heute noch, um die historische Genese unserer Obsession zu verstehen, den Amoklauf als mediale Programmierung zu verstehen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Version von Oliver Kohns: Der Amoklauf und die Möglichkeiten einer Medienkulturwissenschaft. In: IASL Online, 15. 12. 2008 (www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=2960).

Titelbild

Heiko Christians: Amok. Geschichte einer Ausbreitung.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
301 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783895286711

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