Formen und Konzepte philosophischer und literarischer Vergegenwärtigung des jüdischen Exils

Über einen von Doerte Bischoff herausgegebenen Sammelband

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seinen 1935 im Querido Verlag publizierten, ins Programmatische ausgreifenden Überlegungen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft „des Judenvolks“ hat Alfred Döblin zwei Erzählungen angefügt. Die eine, die längere der beiden, trägt den beziehungsreichen Titel: „Der verlorene Sohn“. Dieser ist natürlich angelehnt an das Gleichnis im Lukasevangelium, aber die Geschichte verläuft hier anders. Schon der erste Satz deutet darauf hin: „Und als der Sohn sehr lange in der Fremde gelebt hatte, verlor er die Erinnerung daran, wo er zu Hause war.“ Und weiter heißt es: „Er machte es sich bequem, sprach wie die Fremden, kleidete und gebärdete sich wie sie, ja dachte wie sie. Und nun erst seine Kinder. Das ging lange so in Frieden.“ Der allerdings währte nicht ewig. Der wohlhabende Geschäftsmann, ein assimilierter Jude, verliert, ehe er sich versieht, den Boden unter den Füßen, wird isoliert, herabgewürdigt und um sein Recht gebracht.

Die Schilderung dieses Schicksals zeichnet, ohne dass Ort und Zeit benannt und lokalisiert werden, ein Bild von Deutschland in den Jahren, in denen sich die nationalsozialistische Diktatur konsolidierte. Der namenlos bleibende Mann, „der Herr“, entschließt sich, auf Diskriminierung und Repression reagierend, mit seiner Familie auszuwandern. Ziel ist sein Geburtsort, ein Städtchen vermutlich in Polen, wo noch ein Teil seiner Verwandtschaft lebt. Obwohl er freundlich aufgenommen wird, hält er es dort nicht aus, nimmt Reißaus, fordert noch einmal das Glück heraus und geht allein nach Deutschland, wo er, an die alte Existenz anknüpfend, vergeblich versucht, eine neue aufzubauen. Die Umstände zwingen ihm die Einsicht auf, dass er mehr denn je unerwünscht ist. Nach etlichen Irrungen und Wirrungen wird er von der Polizei erschossen; seine Frau, die ihren zuvor verschütteten oder nicht ausgeübten Glauben wieder gewonnen und zurückgefunden hat in die jüdische Gemeinschaft, holt den Leichnam, um ihn im Land seiner Väter zu bestatten. „Er hatte sein Judentum verloren“, erklärt der Rabbiner nach der Beerdigung. Die Witwe aber erkennt: „Er konnte nicht hierbleiben. Und drüben ließen sie ihn nicht.“ Am Ende entwerfen die beiden Söhne die – zionistische – Perspektive für die kommenden Jahre: „Wenn wir groß sind, dann haben wir unser Land für uns allein.“ Den skeptischen Einwand der Mutter parieren sie ohne zu zögern: „Wir werden es erobern!“

Diese Erzählung könne man „als exemplarischen Kommentar“ für das schreibend vergegenwärtigte „Leben und Exil“ des emigrierten Schriftstellers Alfred Döblin verstehen, so die These von Susanne Komfort-Hein in ihrem Beitrag für den von Doerte Bischoff herausgegebenen Sammelband, dessen Autoren aus je unterschiedlicher disziplinärer Warte um das Verhältnis von Exil, Literatur und Judentum kreisen. Döblin, der noch vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Judentum ausgetreten war und seinen ersten Sohn hatte taufen lassen, gehörte zum Typus des assimilierten Juden, der anfangs den Bestrebungen des Zionismus mit Distanz und Spott begegnete. Nach den pogromartigen Krawallen, die Anfang November 1923 das Berliner Scheunenviertel erschüttert hatten, wurde er von zionistischer Seite gefragt, ob er nicht Palästina in Augenschein nehmen und darüber berichten wolle. Das lehnte er ab und fuhr stattdessen nach Polen.

Er, der „Juden eigentlich“ nicht kannte, wird dort staunend gewahr, „welch imposantes Volk das jüdische“ sei. Er habe geglaubt, berichtete Döblin Jahrzehnte später, dass das, was er in Deutschland sah, „die betriebsamen Leute“, die Juden seien, die „Händler“, die „flinken Intellektuellen“ und die „zahllosen unsicheren unglücklichen feinen Menschen.“ Nun merke er, dass es sich um „abgerissene Exemplare“ handele, „weit weg vom Kern des Volkes“, das in Polen lebe und sich erhalte. Das war gewissermaßen ein Vorspiel auf die durch die NS-Machtergreifung ausgelösten Reflexionsprozesse, die Döblin zeitweilig in die Nähe zionistischer Ideen führten, zu deren Sprechern sich am Ende der hier skizzierten Novelle die Söhne aufwerfen. Er selbst aber wendet sich dann doch wieder ab und konvertiert zum christlichen Glauben. Für den Protagonisten der erzählten Geschichte gibt es Heimkehr nur als Heimkehr im Sarg. Als Döblin nach dem Krieg wieder europäischen Boden betritt, sinniert er: „Als ich wiederkam, da – kam ich nicht wieder.“ Oder in den Worten von Susanne Komfort-Hein: „Ein verlorener Sohn, der nicht, an keinen Ort zurückkehren kann, ist die schmerzhafte autobiographische Erkenntnis für den assimilierten deutschen Juden angesichts seines durch den NS-Terror erzwungenen Exils und dessen nicht endenden Nachlebens.“

Komfort-Heins Analyse mag pars pro toto für den zweiten Abschnitt, das Herzstück des vorliegenden Sammelbandes stehen. Darin sind Studien versammelt, die von verschiedenen Konstellationen der jüdischen Emigration handeln, von Wahrnehmungen, Selbstreflexion und literarischen Verarbeitungsstrategien. Den Auftakt macht hier Daniel Weidner, der sich am Beispiel von Hermann Brochs Romanen und theoretischen Schriften gegen eine in der Forschung zu beobachtende „Tendenz“ zur „Hypostasierung des Exils“ als„Erfahrung der Moderne“ schlechthin wendet, „in der die transzendentale Obdachlosigkeit gewissermaßen zu sich selbst käme.“ Broch, der sich 1909 hatte taufen lassen, hat in diesem Zusammenhang gemeint, er habe sein Leben stets als Diaspora empfunden, aber auch „ohne Heimatgefühl“ sei er „durchaus glücklich“ und bei sich gewesen.

Micha Brumlik richtet den Blick auf den in Darmstadt geborenen George-Anhänger Karl Wolfskehl, der vor den Nazis über die Schweiz und Italien nach Neuseeland floh, ein „ebenso bewußter Deutscher“ wie Zionist, der die ihm gemäße Form als Dreiklang von „Judentum“, „Deutschtum“ und „Hessentum“ begriff: Das seien keine „biologischen Antagonismen“, notierte er in Italien, sondern „Ströme einander befruchtenden Lebens.“ Den Wegen der in Weißrußland geborenen, 1935 nach New York ausgewanderten Kadya Molodowsky, hierzulande eine weithin Unbekannte, folgt mit einem berührenden, Neuland erschließenden Essay die Literaturwissenschaftlerin Christina Pareigis. Deren Protagonistin hielt unbeirrt daran fest, in jiddischer Sprache zu dichten, die im Exil als „Trägerin der Tradition“, als „Vermittlerin“ verschiedener, ja antagonistischer Welten und nicht zuletzt als „Stifterin von Identität“ figuriert. Miriam N. Reinhard schreibt über „Aporien der Zeugenschaft“ in Arnold Schönbergs Oper ‚Moses und Aron“, Tom Lewy über deutschsprachiges Theater in Palästina, dabei die Schwierigkeiten hervorhebend, sich in den 1930er-Jahren gegen die „gesellschaftliche und kulturelle Hegemonie der Einwanderer aus Osteuropa“, gegen deren anders geartetes Stilempfinden und darin wurzelnde Spielgewohnheiten zu behaupten. Marianne Schuller schließlich untersucht Texte der 1933 aus Deutschland geflüchteten Else Lasker-Schüler, die sogenannten „Palästina-Bücher“, das 1937 in der Schweiz publizierte „Hebräerland“ und das unvollendete Drama „IchundIch“. Darin dokumentiere sich, konstatiert die Autorin, so etwas wie eine „exilische Bewegung“, die „in keiner Rückkehr, die zugleich Ankunft wäre, zum Stillstand“ kommt.

Gerahmt wird der Mittelteil des Buches zum einen von philosophisch-theologischen Reflexionen über „Exil, Diaspora, Galut“ (Sidra DeKoven Ezrahi, Andeas B. Kilcher, Thomas Meyer, Paul North und Guy Stern), zum andern von Studien, die sich „postexilischen Konstellationen“ unter den Stichworten „Transnationalität und Translingualität“ (Gianluca Solla, Birgit R. Erdle, Natan Sznaider und Caspar Battegay) zuwenden. Andreas Kilcher nimmt im erstgenannten Teil den alten Topos vom „Volk des Buches“ auf, um anhand verschiedener Epochen und verschiedener Gewährsleute (Heinrich Heine, Lion Feuchtwanger, Achad Ha’am und Josef Berdyczewski) darzulegen, dass die Leistung des „kulturalistischen Zionismus“ darin bestanden habe, „das Buch, die ‚geistige Heimat‘, nicht mehr als falsche Opposition, sondern vielmehr als notwendige Korrelation zum Begriff der ‚nationalen Heimstätte‘ zu verstehen.“ Über eine „kulturelle Renaissance des Judentums“ habe er die „Kategorie des Buches von einer exterritorialen zu einer territorialen Kategorie“ transformiert. Auf diese Weise habe sich das „politisierte, gemeinschaftsfähige Buch und aus der flüchtigen Schrift deutsch-jüdischen Schreibens die Revitalisierung einer neuen hebräischen Literatur“ entfalten können: eine Perspektive, von der schon 1912 der junge Literaturkritiker Moritz Goldstein in seinem damals einiges an Aufsehen erregenden Essay über den „deutsch-jüdischen Parnaß“ geträumt hatte.

Gianluca Solla, um nur seinen Essay noch zu erwähnen, lenkt im Schlussteil die Aufmerksamkeit auf den Historiker Ernst Kantorowicz, wie Wolfskehl ein Georgianer, dessen Biografie über Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen am Ende der Weimarer Republik beträchtlichen Unmut der in traditionalistischen Bahnen gefangenen Zunft auf sich gezogen hatte. „Das Exil als Einschreibung“ lautet der Titel. Damit verbunden war die Verlagerung des wissenschaftlichen Interesses: weg vom Mythos, der dem Gründungsmoment, in dem eine Nation geboren wird, nachspürt, hin zu einer pragmatischen, den Ursprüngen auf den Grund gehenden Analyse von Machtformen und Machtformeln, „der Bilder und der konkreten Ausprägungen souveräner Verhältnisse.“ Mit anderen, etwas einfacheren Worten hatte das Kantorowicz’ ebenfalls exilierter deutsch-jüdischer Kollege an der Princeton University, Erich von Kahler, in der editorischen Notiz der 1964 erschienenen Neuauflage des Kaiserbuches formuliert: „Seine menschlichen und politischen Überzeugungen [hatten] sich infolge der deutschen Ereignisse und seiner amerikanischen Erfahrungen in der Zwischenzeit gründlich verändert“ Und weiter: Der „Ton, in dem das Buch geschrieben war“, habe „seiner gewandelten Anschauung nicht mehr“ entsprochen.

Titelbild

Doerte Bischoff (Hg.): Exil – Literatur – Judentum.
edition text & kritik, München 2016.
351 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783869163277

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