Durchbruch zur Naivität

Zur Kriegsbejahung deutscher Intellektueller

Von Burghard DednerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Burghard Dedner

Im Corriere della Sera, der italienischen Frankfurter Allgemeinen, war am 1. Mai in einem Artikel zum Jugoslawienkrieg folgende Mitteilung zu finden - ich übersetze sie gleich ins Deutsche: "Wenn ich die Sprechweise (linguaggio) der Kommuniqués der Nato höre", sagte die deutsche Schriftstellerin Christa Wolf, "wächst in mir der Verdacht, daß die Nachrichten manipuliert werden" ("crescono i miei sospetti di manipulazione delle notizie"). Ich frage mich, warum ein Journalist im Corriere della Sera diese Nachricht bringt. Soll ich annehmen, daß er diesen Verdacht zuvor nicht hatte, daß ihm also Christa Wolf die Augen geöffnet hat? Doch wohl nicht! Oder will er die deutsche Schriftstellerin als Naivling vorführen und dem Gespött preisgeben? Wohl auch nicht. Oder glaubt er, daß seine italienischen Leser Christa Wolf als seismographische Intellektuelle von internationalem Rang hochschätzen, daß Christa Wolf also stellvertretend für uns alle einen Verdacht aussprechen darf, den wir sonst kaum zu denken gewagt hätten?

Ich fürchte, daß die letzte Deutung zutrifft. In der "F. A. Z." vom 17. April schrieb Mark Siemons: "Bei den deutschen Stellungnahmen zum Kosovo-Krieg fällt die mutwillige Naivität auf, mit der viele und zumal solche, die man früher für 'links' gehalten hätte, sich die regierungsamtliche Rhetorik zu eigen machen, die Nato sei gewissermaßen interesseloses Medium der Moral, eine Art Menschenrechtsorganisation mit anderen Mitteln". Gemessen an dieser mutwilligen Naivität wäre Christa Wolf mit ihrem 'wachsenden Verdacht' heute die Speerspitze dessen, was man einmal kritische Intelligenz nannte.

Erinnern wir uns: spätestens seit Reinhard Koselleks "Kritik und Krise" und Jürgen Habermas' "Strukturwandel der Öffentlichkeit" hatten wir angenommen, daß die Aufgabe der Intelligenz u.a. darin bestehe, den Inhabern der politischen, später auch der wirtschaftlichen Macht mit Kritik entgegenzutreten, mit Kritik an ihren Handlungen, ihren erklärten und versteckten Zielen, ihrer Informationspolitik, ihrem Sprachgebrauch. Gegenstand der Kritik war immer auch die Kriegsführung der Machtinhaber; herausragende Beispiele für die umfassende Kriegskritik der Intellektuellen im 20. Jahrhundert waren der Vietnamkrieg und zuvor schon - nach einem allerdings langen Klärungsprozeß - der 1. Weltkrieg mit einer langen publizistischen Nachgeschichte in den 20er Jahren. Symbolischen Niederschag hat diese Tradition in der Tatsache gefunden, daß der deutsche Buchhandel einen Friedenspreis verleiht und nicht, was ja auch möglich wäre, einen Kriegspreis. Daß nach diesen Jahrhunderterfahrungen Christa Wolf mit ihrem wachsenden Mißtrauen die kritische Intelligenz verkörpert, während andere Intellektuelle "sich die regierungsamtliche Rhetorik zu eigen machen", ist in der Tat erstaunlich und erklärungsbedürftig. Bevor ich Erklärungen versuche, will ich zunächst an einem kurzen Beispiel zeigen, wie diese "mutwillige Naivität" sich sprachlich und argumentativ äußert. Das Beispiel ist ein offener Brief, in dem Hans Christoph Buch, André Glucksmann, Richard Herzinger, Steffen Noack, Rüdiger Safranski, Richard Wagner und Jürg Altwegg Anfang April in einem offenen Brief an die westlichen Regierungen appellierten, "fest zu bleiben", die "Luftangriffe der Nato auf serbische Miltäreinrichtungen" weiterzuführen und den "Einsatz von Bodentruppen nicht prinzipiell auszuschließen", um derart "einen Völkermord an den Kosovoalbanern zu verhindern." (zitiert nach "konkret" vom 5. Mai) Das Ergebnis meiner kleinen Analyse ist nicht überraschend und sei schon zuvor zusammengefaßt: die Intellektuellen müssen das Geschehen in Jugoslawien so interpretieren, daß es wirkt wie eine Postfiguration des Nationalsozialismus. Das ist - zumal die Berichterstattung dem seit Jahren vorgearbeitet hat - relativ leicht zu erreichen durch unpräzises Antäuschen von Fakten und durch wiederholtes Anspielen auf Begriffe der Nazi-Geschichte.

Der Brief beginnt mit dem Satz: "Der Präsident Milosevic ist der Hauptverantwortliche für den Ausrottungs- und Vertreibungskrieg in Bosnien". Ich erinnere mich, daß derartige Personalisierungen vor kurzem unter kritischen Intellektuellen noch verpönt waren und als hochgespültes Stammtischgerede galten. Seit dem Irak-Krieg sind sie in der Öffentlichkeit im Schwange, auch in der Nazi-Historiographie scheinen sie sich wieder durchzusetzen, und der deutschen Seele sind sie willkommen, weil die aus ihr abzuleitende Vorstellung vom Hauptverantwortlichen Hitler natürlich bequemer war und ist als die Vorstellung, die Deutschen hätten ein Kollektiv von "willing prosecutioners" gebildet. Sprachkritisch notiere ich im gleichen Zusammenhang weiter, daß "Ausrottungs- und Vertreibungskrieg" auf den bekannteren Begriff "Vernichtungskrieg" der Nazis anspielt. Um den eigentlichen Inhalt des Arguments "Milosevic - der Hauptverantwortliche" zu beurteilen, fehlen mir die Kenntnisse.

Was geschah nach Ansicht der Briefschreiber im Kosovo, das die Luftangriffe erforderlich machte. Ich gebe nur ein Beispiel: "Vertreter der Eliten werden selektiert", teilen sie uns mit. "Selektiert": diese auch vom Bundesverteidigungsminister gern gebrauchte Anspielung ist zu offensichtlich, als daß man sie deuten müßte. Kommen wir also zum Inhalt des Satzes, der schwer zu beurteilen ist, da die Verfasser für diese Behauptung weder Namen noch Quellen nennen. Vielleicht dachten sie an fünf albanische Intellektuelle aus der Umgebung Rugovas, die z.B. in "B.Z. Berlin" und der "SZ" Anfang April als exekutiert gemeldet wurden ("konkret", so auch "taz"). Falls das zutrifft, haben sie sich geirrt. Die Totgesagten gelangten am 6. April mit einem Flüchtlingskonvoi über die Grenze.

Was ist nach Ansicht der Briefeschreiber die Vorgeschichte des Krieges: 1995 habe man "die großserbische Raserei vorläufig gebremst" und: "Das Belgrader Regime ging nun an die endgültige Lösung der Kosovofrage. Seit März letzten Jahres wird die kosovoalbanische Bevölkerung vertrieben". "Belgrader Regime" ist gleich "Nazi-Regime", "endgültige Lösung der Kosovofrage" natürlich gleich "Endlösung der Judenfrage", und im germanistischen Seminar könnte man höchstens diskutieren, warum die Verfasser so zimperlich sind und statt "endgültige Lösung" nicht gleich "Endlösung" sagen. Rhetorikspezialisten würden uns belehren, daß dies ein namhafter rhetorischer Kunstgriff ist.

Wieder fällt es mir schwer, den Satz "Das Belgrader Regime ging nun an die endgültige Lösung der Kosovofrage" inhaltlich zu beurteilen, da ich über dasjenige, was seit einem Jahr im Kosovo im Gange ist, nicht wirklich informiert bin und den zugänglichen Informationen mißtraue. Aber ich glaube nicht, daß die Briefschreiber sehr viel besser informiert sind als ich, und werfe ihnen deshalb mangelndes Mißtrauen, mangelnde Kritik der öffentlichen Informationen vor. Nach einer Meldung des U.N.-Hochkommissariats für Flüchtlingsfragen vom 3. Mai sind derzeit 610.000 Kosovoalbaner auf der Flucht, wozu eine erhebliche Anzahl von nicht registrierten Binnenvertriebenen kommen dürfte. Nachrichten entnehme ich, daß man ab August 1998 die Zahl der Flüchtlinge - sogenannte Binnenflüchtlinge mitgerechnet - auf bis 270.000 schätzte, daß viele von diesen aber im Winter in ihre Dörfer zurückkehrten. Den Fernsehbildern war zu entnehmen, daß die Vertreibungen und Fluchtbewegungen über die kosovarischen Grenzen mit dem Beginn des Nato-Krieges entweder neu einsetzten oder erheblich zunahmen. Die jugoslawische Propaganda sucht anscheinend den Eindruck zu erwecken, es handle sich um Fluchtbewegungen, die der Krieg ausgelöst habe; das ist den Berichten der Flüchtlinge zufolge weitgehend falsch. Der Kriegsgegner argumentiert, die Vertreibungen seien längst vor dem 25. März im Gange gewesen, der Krieg sei nicht ihre Ursache, sondern ihre Folge. Ich bin skeptisch und nenne Gegenargumente. Noch am 5. Februar lehnte ein Hessisches Verwaltungsgericht kosovoalbanische Asylanträge ab, weil "die Kläger als albanische Volkszugehörige aus dem Kosovo weder im Zeitpunkt ihrer Ausreise noch im Falle ihrer jetzigen Rückkehr einer asylerheblichen Gruppenverfolgung ausgesetzt waren bzw. ausgesetzt wären (...) denn die gewonnenen Erkenntnisse lassen für die Zeit von 1990 bis heute den Schluß auf das Bestehen eines entsprechenden staatlichen Verfolgungsprogramms (...) nicht zu." Ähnliche Urteile ergingen in Bayern noch Mitte März. Dem Urteil zugrunde lag eine Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes vom 18. November 1998, in der es u.a. hieß: "Die Wahrscheinlichkeit, daß Kosovo-Albaner im Falle ihrer Rückkehr in ihre Heimat massiven staatlichen Repressionen ausgesetzt sind, ist insgesamt als gering einzuschätzen" ("konkret"). Diese Lageeinschätzung wurde erst am 31. März zurückgezogen, u.a. anscheinend mit dem Argument, die Einschätzung habe nur dem Ziel gedient, Argumente für die Ablehnung von Asylanträgen zu liefern. Wem soll man mehr glauben, dem AA-Staatssekretär vor Kriegsbeginn oder demselben AA-Staatssekretär nach Kriegsbeginn? Manches - vor allem ein in der Urheberschaft nicht gänzlich geklärtes, aber doch vermeintlich von serbischer Seite verursachtes Massaker vom 15. Januar - spricht gegen den Bericht vom 18. November, manches aber auch dafür. So urteilte der Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, Willy Wimmer, ein CDU-Angehöriger, am 26. März, man habe die Bewacher des Holbrooke-Abkommens "in eine ziemlich hoffnungslose Mission" geschickt, und zwar deswegen, weil diejenigen in den westlichen Regierungen, die hinter der UCK stehen und die Fäden ziehen", "unseren Erfolg vermutlich gar nicht wollten (...)." (zitiert nach "konkret") In einem "Kosovo"-update des US-State Department vom 5. März hieß es: "Die Anzahl der Serben, die aus ihren Häusern geflohen sind, ist in diesem Zeitraum `seit Weihnachten 1998´ dramatisch angestiegen. Schätzungen gehen von bis zu 30.000 aus. Sie haben 90 ethnisch gemischte Dörfer verlassen, und die meisten haben sich wieder in Zentralserbien niedergelassen. Offizielle Belgrader Statistiken geben an, daß 50.000 der 200.000 Kosovo-Serben die Provinz verlassen haben, seit die Kämpfe vor einem Jahr begonnen haben" ("konkret"). Die Zahl "von bis zu 30.000" - wohlgemerkt 30.000 serbische Flüchtlinge - scheint auf Schätzungen des State department zurückgehen, dürfte also verläßlich sein. Im Lagebericht der Bundeswehr vom 22. März hieß es: "Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen." Am 23. März, drei Tage nach dem Abzug der OSZE-Beobachter und zwei Tage vor dem Bombardement, urteilte die Bundeswehr: "Berichte über umfassende serbische Säuberungsaktionen mit angeblichen Plünderungen und mutwilligen Zerstörungen der Infratsruktur sind zu relativieren" ("Spiegel" vom 12.4.):

Wußten die Briefeschreiber mehr als die Gerichte, das State department und die Bundeswehr, als sie Anfang April die Nato-Mächte so selbstbewußt zum Festbleiben aufforderten und dabei mitteilten, Serbien betreibe seit längerem eine Politik der Endlösung im Kosovo? Oder kannten sie die skeptisch stimmenden Argumente gerade nicht? Vielleicht haben sie auch die mißverständliche Warnung der Christa Wolf falsch ausgelegt. Zwar hat Wolf natürlich recht, wenn sie Nato-Mitteilungen kritisch beurteilt, vergleichsweise aber - nämlich gemessen an den Mitteilungen des deutschen Bundesverteidigungsministers - wirken die Mitteilungen des Jamie Shea und General Freytag auf mich geradezu glaubwürdig, wogegen sich der Bundesverteidigungsminister durch einen beunruhigend laxen Umgang mit Zahlen und Fakten auszeichnet: Für Srebenica wußte er von 30.000 Ermordeten zu berichten, die UN und das DRK geben 7.076 Ermordete oder Vermißte an, das sind 7.076 zuviel, aber 22.024 weniger als bei Scharping. Seit dem 28. März seien im Kosovo "zigtausende" ermordet worden, sagte Scharping; Jamie Shea spricht von "thousands", das ist ein Zehntel. Am 28. März sagte Scharping: "Am letzten Wochenende waren 270.000 Menschen schon auf der Flucht". Das war die Gesamtzahl der im Kosovo seit August 1998 Geflohenen, von denen die meisten inzwischen zurückgekehrt waren (nach "konkret"). Scharping sagte weiter: "Wenn ich höre, daß im Norden von Pristina ein Konzentrationslager eingerichtet wird, wenn ich höre, daß man die Eltern und die Lehrer vor den Kindern zusammentreibt und die Lehrer vor den Augen der Kinder erschießt, wenn ich höre daß man in Pristina die serbische Bevölkerung auffordert, ein großes "S" auf ihre Türen zu malen (...)." Solange Scharping für sein Hörensagen keine Belege liefert - und das ist meines Wissens bis heute nicht geschehen - würde ich vorschlagen, seine Behauptungen für Kriegspropaganda zu halten. Als Regel kann gelten: solange Jamie Shea nicht bestätigt, was Rudolf Scharping ohne Angabe von Quellen und Belegen sagt, ist er unglaubwürdig.

"Bei den deutschen Stellungnahmen zum Kosovo-Krieg fällt die mutwillige Naivität auf, mit der viele und zumal solche, die man früher für 'links' gehalten hätte, sich die regierungsamtliche Rhetorik zu eigen machen, die Nato sei gewissermaßen interesseloses Medium der Moral, eine Art Menschenrechtsorganisation mit anderen Mitteln". Dieses von Mark Siemons benannte Phänomen war in schwächerer Form schon im Irak-Krieg zu bemerken, etwa bei Wolf Biermann oder bei Hans Magnus Enzensberger. Wie konnte es zu dieser Naivität kommen? Es war in den späten sechziger und dann in den siebziger Jahren allgemein üblich, mißliebige Gegner als Faschisten zu bezeichnen. Viele Vietnamkriegsgegner bekämpften in den USA oder auch in einem beliebigen Ortspolizisten den Faschismus von heute, während umgekehrt die US-Regierung gerade in Ho Chi Minh einen neuen Hitler bekämpft haben dürfte. Im Irak-Krieg bekämpften die USA in Saddam Hussein einen potentiellen Hitler. Der heutige Bundeskanzler und der heutige Bundesaußenminister protestierten damals gegen diesen Krieg. Sie hatten sich damals ebenso wie andere Intellektuelle noch nicht entschieden, ob Hitler wie früher angenommen in Washington oder wie jetzt verkündet in Bagdad säße. Heute bekämpfen sie gemeinsam den neuen Hitler in Belgrad, und eine offenbar beträchtliche Anzahl ehemals kriegs- und Nato-skeptischer Intellektueller scheint sich diesem Deutungsmuster angeschlossen zu haben. Das Deutungsmuster ist in der Tat das einzige, mit dem ein Intellektueller, ohne der Intellektuellentradition untreu zu werden, für einen Krieg eintreten kann. Um das Muster zu erfüllen, muß er freilich einen Teil seiner berufstypischen Skepsis ablegen und eine Sicherheit vortäuschen, die er nach Lage der Dinge nicht haben kann. Was den Bundesaußenminister dabei umtreibt, hat er der Öffentlichkeit glaubwürdig anvertraut: er zeigt es mit diesem Krieg seinem Vater, der den wirklichen Hitler gerade nicht bekämpft hatte.

Zum andern muß der Intellektuelle seine Begriffen so wählen, daß sich im Zuhörer kontinuierlich Hitler-, Auschwitz- und Endlösungs-Assoziationen einstellen. Nun haben derartige Assoziationsbildungen zwei Seiten: sie verleihen den Verbrechen der Serben zusätzliches Entsetzen, und sie bewirken für die deutsche Geschichte eine verharmlosende Umdeutung, deren Folgen noch nicht abzusehen ist. 'Deportation' bezeichnete nach Genfer Flüchtlingsordnung den Transport in Arbeits- und Vernichtungslager, heute den Transport von Vertriebenen zur Grenze; zwischen Vertreibung und Völkermord haben wir aus guten Gründen unterschieden: jenes war das Verbrechen der Deutschen an Juden, Zigeunern und anderen Gruppen, jenes als Reaktion darauf das Unrecht der Siegermächte an Ostpreußen, Schlesiern und Sudetendeutschen. Im Angesicht dieser Vergangenheit und im Angesicht der Berufsschlesier und Berufssudetendeutschen haben deutsche Intellektuelle deshalb allen Grund abzuwägen, welches dieser beiden Verbrechen die Serben im Kosovo begehen. Wenn wir den Serben im Kosovo Völkermord attestieren, riskieren wir eine Geschichtslegende, derzufolge die Tschechen an den Sudetendeutschen Völkermord begangen haben. Unsere Briefschreiber hatten Bilder von Vertreibungen gesehen, appellierten jedoch auf Verhinderung eines Völkermords.

Ich gebe noch ein kleineres Beispiel für diesen Umdeutungsprozeß. In seiner "Antwort an György Konrad" unter dem Titel "Der Stein auf unserer Seele" ("F. A. Z." vom 3. Mai) gibt der Bundesverteidigungsminister im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen, also am Ort der Intellektuellen, eine Eloge auf das friderizianische Preußen. Dies war "für seine Zeit ein weltoffener Staat. (..) Hier galt Loyalität ohne Willfährigkeit, wurde Toleranz aus Vernunft geübt." Dann spricht er über die "Verantwortung derjenigen, die für das unveräußerliche Recht der Menschen auf Freiheit, Würde und Integrität eintreten" und fährt fort: "Wir selbst haben um diese Werte jahrhundertelang gerungen und haben schreckliche Kriege geführt. Das macht unsere Haltung fester." Bei dem Satz, daß wir "um (...) Werte jahrhundertelang gerungen" haben, kann ich mir nichts Bestimmtes denken; der andere, daß wir "schreckliche Kriege geführt" haben, trifft zu; an einen besonders schrecklichen kann ich mich gerade noch erinnern. Aber was hatte das jahrhundertelange Ringen um Werte mit den schrecklichen Kriegen zu tun. Haben wir - also z.B. wir Deutsche - den Preußisch-Französischen Krieg, den 1. und dann den 2. Weltkrieg etwa geführt, weil wir um Werte rangen? Natürlich meint der Bundesverteidigungsminister das nicht; er meint wohl: in unserer Eigenschaft als Westeuropäer und Amerikaner haben wir Deutsche Hitler niedergerungen - und erfüllt sich damit einen Traum, dessen Erfüllung die Siegermächte Helmut Kohl noch verweigert hatten. Nun steht diese Art von "wir Westeuropäer führten Krieg" einem deutschen Minister nach zwei Weltkriegen nicht gut an, und sinnlos bleibt diese Aussage auch bei diesem erschlichenen Kollektiv. "Wir Westeuropäer und US-Amerikaner" haben jahrhundertelang Territorial-, National- und Kolonialkriege geführt, in denen es um andere Werte ging als um die unveräußerlichen Rechte der Menschen. Wenn über diesen schrecklichen Kriegen "unsere Haltung fester" geworden ist, dann umso schlimmer für uns.

Burghard Dedner