Der Junge und der Magier

Filip Florians Roman „Alle Eulen“ erzählt über Freundschaft, Erinnerung und Geschichte

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Legende nach hat Franz von Assisi den Vögeln gepredigt. Diese hätten ihm gelauscht und ihn verstanden. Der rumänische Schriftsteller Filip Florian (*1968) mag für seinen neuen Roman von dieser schönen Episode inspiriert worden sein – immerhin spielt die Zwiesprache mit den Himmelsbewohnern auch in Alle Eulen eine wichtige Rolle. Florian erzählt darin vordergründig von einer außergewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei sehr verschiedenen Menschen. Zugleich reflektiert der Autor anhand von Luci und Emil aber auch die Möglichkeit von ‚Geschichte‘ an und für sich: Die Bereitschaft, sich zu erinnern und andere daran teilhaben zu lassen, wird zur Bedingung für den Dialog zwischen den Generationen und innerhalb einer Gesellschaft.

Im Jahr der Zeitenwende, am Dreikönigstag des Jahres 2000, tritt Emil in Lucis Leben. Luci ist elf Jahre alt, lebens- und abenteuerlustig, ein kleiner Lausbub, der eine recht unbeschwerte Kindheit in einer Kleinstadt in den Karpaten verlebt, obwohl (oder vielleicht weil) seine Eltern nur wenig Zeit für ihn haben. Emil dagegen dürfte um die 60 sein und blickt auf ein Leben zurück, das ihm unzählige Schicksalsschläge beschert hat und ganz vom Totalitarismus des 20. Jahrhunderts in Rumänien geprägt war. Er hat vor kurzem seine Wohnung in Bukarest verkauft und ist für seinen letzten Lebensabschnitt ins Bergstädtchen gezogen. Luci wird zu Beginn des Romans nach einem Streich von einem Nachbarn gemaßregelt und bedrängt, und Emil kommt ihm zur Hilfe. Dies ist der Beginn einer ganz eigenartigen Freundschaft. Emil kommt Luci ein wenig wie ein Magier oder Wahrsager vor, denn er weiß einiges vom Leben, über Literatur und Musik. Er ist Hobbyornithologe und kann offenbar mit den Eulen reden. An Luci fasziniert Emil die Neugier, die ungebremste Lebenslust und die kindliche Unschuld. Ein ungleiches Paar, gewiss, das aber vielleicht gerade deshalb bereit ist, sich aufeinander einzulassen.

Filip Florian führt in seinem Roman Alle Eulen die Lebensläufe der beiden zusammen. Er tut dies auf sehr geschickte Art und Weise, in einem Wechsel der Stimmen und der Epochen. Bei Lucis Lebensgeschichte konzentriert sich der Autor vornehmlich auf die paar Jahre seit der ersten Begegnung mit Emil. Wir erleben Luci während der Schulzeit, bei gemeinsamen Erkundungen mit seinen Freunden im Wald oder im Schloss, aber auch beim allmählichen Erwachen der Sexualität. Der schwierige wirtschaftliche und soziale Horizont dieser Jahre wird allenfalls angedeutet – Lucis Mutter muss putzen gehen, während der Vater als Glaser nur ab und zu Aufträge ergattern kann, sich ansonsten aber dem Alkohol hingibt. Ganz anders dagegen bei Emil: Sein Leben wird uns in Ausschnitten vermittelt, in denen meistens prägende Momente oder entscheidende Wendepunkte seiner Biografie aufleuchten. Als kleiner Junge aus einer ziemlich wohlhabenden Familie erlebt Emil 1944 die Bombardierung Bukarests durch die Alliierten mit. Später wird sein Vater, ein Gymnasiallehrer, verhaftet, ebenso sein Großvater, der früher ein Juweliergeschäft im Zentrum Bukarests besessen hatte. Die beiden werden in Lager verschleppt und kehren erst Jahre später nach Hause zurück. Emil studiert und wird Ingenieur, der im ganzen Land auf Großbaustellen am „Aufbau des Kommunismus“ mitarbeitet. Er heiratet Lia, bekommt eine Tochter, Irina. Lia stirbt später bei einem mysteriösen Unfall und Irina wandert als Erwachsene nach Frankreich aus. Seinen Enkel Daniel kennt Emil nur von Besuchen in Frankreich, wo er sich zuletzt wegen einer Herzoperation aufgehalten hat. Es ist offensichtlich, dass ihm Luci auch ein wenig diesen fernen und unbekannten Enkel ersetzt.

Das alles (und noch manches mehr) wird auf gerade einmal 200 Seiten geschildert. Nach der Lektüre bleibt allerdings der Eindruck, man habe mindestens deren 500 gelesen, denn Filip Florian erzählt äußerst dicht und präzise. Die Erzählweise passt sich dabei an das Alter und die Wahrnehmungshorizonte der beiden Hauptfiguren an: Für den jungen Luci hat die Zeit noch keine besondere Bedeutung, er spürt kaum, wie sie verstreicht. Wenn es um Luci geht, verlangsamt Florian jeweils den Erzählfluss. Die Ereignisse scheinen in Lucis Wahrnehmung alle etwa dasselbe Gewicht zu haben. Lucis Kindheit wirkt zeitlos, als gäbe es im Hintergrund keine Historie, die abläuft. Im Kontrast dazu steht Emils Perspektive: Sein Leben ist bereits gelebt, es existiert vor allem im Rückblick, als kompakte Erzählung. Emil wählt allerdings – bewusst oder unbewusst – aus, worüber er berichten will und was er lieber verschweigt. Luci (und mit ihm der Leser) wird sich später in der Tat fragen, ob Emil ihm wirklich die entscheidenden Dinge erzählt hat oder ob er nicht auch viel Wichtiges ausgespart hat. (Emil selbst vergleicht die Erinnerung mit einem Sieb, das nicht alles durchlässt). Wenn Emil berichtet, wirkt der Erzählstoff gestrafft, zugespitzt. Gleichzeitig erfährt dieses Leben bereits eine Wertung. Doch nicht allein aus den genannten Gründen überzeugt Florians Umgang mit der Sprache. Der Grundton des Romans ist trotz der vielen harten und düsteren Paukenschläge still, lyrisch, zärtlich und bisweilen voller Wehmut. Georg Aescht hat es auf bewundernswerte Weise vermocht, diese Musikalität in der deutschen Übersetzung zu erhalten.

Man kann sich fragen, wovon Alle Eulen im Innersten handelt. Es ist natürlich die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft, des Weiteren ein Roman über die Vergangenheit und die Gegenwart Rumäniens. Bereits in Kleine Finger (dt. 2008) hatte Filip Florian eine Art Tiefenbohrung in die Geschichte unternommen und dabei aufgezeigt, dass diese nicht eindeutig interpretiert werden kann und bis in die Gegenwart hinein Fragen aufwirft und Ratlosigkeit zurücklässt. In Alle Eulen äußert sich Emil an einer Stelle zu seiner Geschichtsphilosophie: Er betrachtet die Geschichte keineswegs als zwangsläufig, als vorbestimmt, sondern als eine Art „Lotterie“, als eine „Tombola“, welche den Menschen irgendein Zufallslos zuteilt. Emil ist geneigt, rückblickend sein schwieriges Leben so zu verstehen und damit in letzter Konsequenz wohl auch anzunehmen. Es gibt im Roman allerdings auch eine gegenteilige, konkurrierende Sichtweise. Emil selbst meint einmal: „Wie alle Eulen wussten auch diese Waldohreulen alles, was es zu wissen galt“. In der antiken Mythologie, aber auch in vielen europäischen Volkstraditionen gilt die Eule als ein Vogel, der von Kommendem kündet. Meist von schlechten, mitunter aber auch von guten Ereignissen. Die Eule weiß um die Zukunft und ist folglich ein Bindeglied zwischen den Zeitebenen. Sie hat den Überblick und steht für eine Geschichte, die nicht sinnentleert ist, sondern sinnerfüllt, „sinn-voll“. Wenn Emil mit den Eulen spricht, gemahnt er Luci an einen Hohepriester. Vielleicht manifestiert sich bei Emil eben gleichwohl eine tiefe innere Hoffnung, das Leben möge doch nicht bloß Lotterie gewesen sein. Im Priester, der mit den Vögeln spricht, der also quasi eine Messe abhält, drückt sich zumindest die Möglichkeit aus, das Leben könnte in einem höheren Ritual aufgehoben sein. Der Autor Filip Florian selbst lässt in seinem Roman allerdings die Frage offen, ob eine der beiden Auffassungen von Geschichte die richtige ist.

Wie auch immer man als Leser diesen Gegensatz daher für sich auflösen mag: Florian zeigt in Alle Eulen jedenfalls, dass es möglich ist, Geschichte weiterzugeben – dann nämlich, wenn man sein Leben erinnert und das Erinnerte erzählt. Das ist an und für sich weder neu noch spektakulär. Bemerkenswert ist allerdings, dass dies nicht nur innerhalb der kleinen Gemeinschaft, etwa in der Familie oder im Dorf zutrifft. In Filip Florians Roman hat das Schicksal mit Luci und Emil zwei Menschen zusammengebracht, die miteinander nicht verwandt sind und aus völlig unterschiedlichen Milieus stammen. Die Vermittlung von Geschichte, die gewaltige Arbeit der Erinnerung, ist daher auch ein Projekt der gesamten Gesellschaft. Selbst wenn man Alle Eulen keineswegs als einen ‚sozialen‘ Roman bezeichnen kann, so wird hier doch offenkundig, dass Erinnerung und Geschichte durchaus auch gesellschaftliche und politische Implikationen haben. Luci schreibt Jahre später die Geschichte seiner Begegnung mit Emil auf. Er ergänzt sie um Ausschnitte aus einem Heft, das ihm Emil geschenkt hat und das dessen eigene Lebenserinnerungen enthält. Geschichte wird in diesem Prozess des Erinnerns, Auswählens und Niederschreibens zum Text, zum Buch. Luci wollte schon immer „wie die Eulen im Dunkeln sehen“. Und an einer Stelle vergleicht Filip Florian die Bücher mit Vögeln. Lucis Wunsch wäre also erfüllt worden. Was dabei entstanden ist, ist eben Literatur: Sie ermöglicht es uns, im Dunkel der Geschichte zu sehen.

Titelbild

Filip Florian: Alle Eulen.
Übersetzt aus dem Rumänischen von Georg Aescht.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
213 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783957572219

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