Die alte europäische Tugend der Neugier

Eine Sammlung von Aufsätzen und Essays vermittelt aktuelle Denkanstöße „über Ethik, Menschenrechte, Bildung und Politik“ des tschechischen Philosophen Jan Sokol

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1936 in Prag geborene Jan Sokol verkörpert jenen Typus des mitteleuropäischen Gelehrten, der Bildung mit einer unmittelbaren Nähe zur praktischen Wirklichkeit zu verbinden weiß. Der Bezug zum wahren Leben stellt für einen Intellektuellen vom Schlage Jan Sokols keinen Gegensatz oder gar eine Art Niederlage dar. Während des „real existierenden Sozialismus“ gehörte Sokol zu jenen Persönlichkeiten, die sich aufgrund ihrer eigenständigen Positionen zum staatlich verordneten Marxismus-Leninismus gezwungen sahen, ihren Lebensunterhalt als Arbeiter oder Handwerker zu verdienen. Das angepasste Mitmarschieren war seine Sache nicht.

Für Zeitgenossen wie Jan Sokol kam die „Samtene Revolution“ im November 1989 einem Wunder gleich. Plötzlich hatten sich Möglichkeiten eröffnet, an die bislang niemand zu denken gewagt hatte. Sokol engagierte sich im Bürgerforum, er nahm politische Ämter an und meldete sich publizistisch zu Wort. Erstmals in seinem Leben konnte er seine intellektuellen Fähigkeiten im Sinne einer gesellschaftlichen Verantwortung zur Verfügung stellen, ohne dafür sanktioniert zu werden. Seit 2000 lehrt Sokol als Professor für Philosophie an der Prager Karls-Universität.

Die vorliegende Textsammlung Philosophie als Verpflichtung beinhaltet Texte, die bereits verstreut publiziert wurden und wendet sich, aufgeteilt in vier Blöcke, Themen aus den Bereichen der „Gesellschaft“, der „Bildung“, der „Politik“ sowie dem Komplex von „Recht und Moral“ zu.

Die verschiedenen Aspekte von Sokols Wortmeldungen lassen sich in einem übergeordneten Sinne bündeln, die zugleich sein intellektuelles Profil verdeutlichen. Während sich der Prolog dem Thema „Die Freiheit und ihre Feinde“ widmet, denkt der Epilog „Václav Havel – Was bleibt?“ über die weitere Zukunft nach.

Der bekennende Christ Sokol hatte seinerzeit als einer der ersten das Manifest der CHARTA 77 unterschrieben, in der auf die Verletzung der Menschenrechte durch die kommunistische Regierung hingewiesen worden war. Sokol hatte die Verfolgungen durch das Regime, die unverhohlenen Einschüchterungen und Berufsverbote persönlich erlebt. Daher sind seine Beiträge wie etwa „Jan Patočka und die CHARTA 77“ oder auch „Tschechien 20 Jahre nach der Wende“ von einer besonderen atmosphärischen Dichte gekennzeichnet. Dass Sokol es zugleich vermag, als Wissenschaftler gesellschaftliche Vorgänge zu abstrahieren, stellen etwa seine Skizzen „Die Welt der Papiere“ oder „Was ist Geld?“ unter Beweis.

Sokol steht auf unerschütterliche Weise in der europäischen Tradition von Humanität und Bildung, von Zivilstaatlichkeit und Bürgersinn. Die europäische Tradition der kulturellen Vielfalt bildet immer auch den Hintergrund für ökonomische als auch politische Erträge. Auf die Frage, was Europa letztlich im Innersten zusammenhält, antwortet er in einem Gespräch mit Milan Hanuš:

Meinem Urteil zufolge ist das die alte europäische Tugend der Neugier, von Herodot bis zur heutigen Wissenschaft. Es ist das Interesse der Einen an den Anderen, oder anders gesagt: Wir brauchen eine Ergänzung zu der üblichen nationalen und patriotischen Erziehung, die uns die tschechische Literatur und die tschechische Geschichte beibringt, den Deutschen Goethe und den Franzosen Molière. Man sollte bei uns verstärkt auch Goethe und Molière lernen und in Deutschland und Frankreich meinetwegen Comenius oder Čapek.

Von unmittelbarer Relevanz zeugen Jan Sokols Überlegungen zu Fragen der Menschenrechte. Ohne sich Illusionen über das Wesen des Menschen zu machen, ist es für ihn trotz allem unabdingbar, dass der einzelne Bürger Stellung bezieht und konkrete Verantwortung übernimmt. Mit Beiträgen wie „Das Recht und das Gute“ oder „Eine Ethik für alle Menschen?“ steuert Sokol neben philosophischen Überlegungen konkrete Antworten auf heutige Herausforderungen bei.

Nicht zuletzt die Erosion von Normen und Werten während der kommunistischen Diktatur haben sich bis heute verheerend auf die tschechische Zivilgesellschaft ausgewirkt. Statt bürgerrechtlichem Engagement scheinen Korruption und kollektive Verantwortungslosigkeit als normales und übliches Verhalten zu gelten. Auch insofern ist Sokols Autorität im heutigen Tschechien aktueller denn je.

Mit diesem Buch gelingt es, eine so unbestechliche wie wichtige Stimme tschechischen Denkens an das deutsche Publikum heranzuführen. Die sorgfältige Aufbereitung dieser wertvollen Publikationen durch ein zielführendes Geleitwort von Hans-Peter Schütt sowie kundige Hintergrundinformationen der Herausgeber ist hierbei ausdrücklich hervorzuheben.

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Jan Sokol: Philosophie als Verpflichtung. Über Ethik, Menschenrechte, Bildung und Politik.
Herausgegeben von Ulrich Arnswald und Ondrej Skripnik.
Manutius Verlag, Heidelberg 2014.
206 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783944512020

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