Der gekappte Draht

Klaus-Dieter Müllers iPhone und der liebe Gott

Von Wolfgang HerbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Herbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es geht nicht ohne Spiritualität“, heißt es gleich am Anfang und mehrfach eingestreut im Vorwort Heiner Mühlmanns. Von Spiritualität ist in Klaus-Dieter Müllers Das iPhone und der liebe Gott jedoch nur peripher die Rede. Auch „der liebe Gott“ kommt kaum vor, außer in der gewagten These, der Glaube an ihn sei durch die „Zivilreligion“ des Strebens nach Sicherheit abgelöst worden. Es ist ein typischer, etwas irreführender Titel: Das iPhone steht als Metapher für neue Kommunikationstechnologien und der liebe Gott als Sinnbild für Auswege aus der Zeitvernichtungsmaschinerie. Die Dichotomie spiegelt sich auch im Buch, das sich gewissermaßen in zwei Teile gliedert: diagnostischer Befund und heilmethodische Angebote.

Vorerst zur Malaise: Die großen Erzählungen haben ausgedient, Denken in Begriffen wie Klassen, Kollektiven oder Systemen ist diskreditiert und die sozialstaatliche Wohlfahrt im Rückbau. Suche nach Sicherheit und Entsolidarisierung sind die Negativseiten der neuen Offenheit der Gesellschaft und der grenzenlosen Wahlmöglichkeiten. Die Chance der Wahl sei aber als positiv zu werten und wirft uns auf unser Selbst, auf unser Individuum-Sein zurück. Alle Lebensbereiche unterliegen einer massiven Beschleunigung, das gilt auch für den Zwang, jederzeit erreichbar sein zu müssen. Ständiges „Kommunizieren“ wird zu einer gigantischen Verschwendung von Zeit. Vor lauter Handy kommt uns Zeit abhanden und ohne Handy zu sein, löst Phobien aus; das iPhone ist der Fetisch, an den man sich klammert wie das Kind an die Hand der Mutter. Dabei trägt die Familie nicht mehr, Vorbilder sind verblasst und der Glaube an Gott ist ein Minderheitenprogramm. Bei letzterem hätten nicht nur Statistiken vom Bundesamt, sondern empirische Analysen religionssoziologischer Natur wesentlich mehr an Tiefenschärfe geboten. Es ist symptomatisch für dieses Buch: Es bietet thesenhafte Andeutungen, die mit ein, zwei Quellen unterlegt werden, denen aber nicht auf den Grund gegangen wird.

Fazit, so betont der Verfasser mehrfach, sei jedenfalls, dass unsere Gesellschaft überspannt ist und den Menschen überfordert. Da wollen wir dann irgendwie herauskommen – und bei den Auswegen findet sich vorab ein langer Exkurs zum Coaching. Bis hin zu Preisfragen und Kriterien den richtigen Coach zu erwischen, wird hier unverhohlen für die Branche geworben, der der Autor angehört. Der Coach, der zwischen Therapeut und Manager stehend, „gesunde“ Menschen („Leistungsträger der Gesellschaft“!) ganzheitlich durchs Leben geleitet. Jeder als Unternehmer seiner selbst, der sich selbst erfinden und gestalten kann: Sein Selbst in die Hand nehmen. Selbstmächtigkeit, Selbstführung, das sind die Zauberwörter. Zynisch besehen könnte man es so beschreiben: Die Umstände verlangen nach Selbstverantwortung und wer es nicht hinkriegt, kann sich ja einen Coach mieten. Dahinter verbirgt sich neoliberale Ideologie.

Es handelt sich bei diesem Buch gewiss nicht um einen Ratgeber, wie der Autor auch insistent betont. Dazu sind die Hinweise auf Lösungswege viel zu abstrakt und kataloghaft. Der Jargon kommt aber doch in die Nähe von Seminaren, in denen Manager gepeppt werden sollen, in Bezug auf Obiges zum Beispiel:

Selbstführung ist also ein Prozess, der unbewusst, intuitiv oder reflektiert ablaufen kann. Selbstführung bedeutet, sich aktiv mit der eigenen Person auseinanderzusetzen. Selbstreflexion und ‚Selbstaufmerksamkeit‘ können Strategien sein, Wünsche und Bedürfnisse, Denk- und Handlungsprozesse, Kompetenzen und Fähigkeiten genauer einzuschätzen und gezielt weiter zu entwickeln.

Da muss man erst einmal durch.

Auch Sätze dieses Strickmusters finden sich: „Darüber steht aber noch eine andere, nämlich ständig zunehmende eher philosophisch relevante Art der Entfremdung, die grundlegende Differenz alles konkret Seienden zueinander.“ Da wird geheideggert ohne Heidegger (Sein und Zeit!), und entweder stolpert man oder man liest einfach weiter. Das Buch ist eines nicht, nämlich philosophisch. Kein einziger klassischer Denker, der sich mit der Zeit beschäftigt hat (zum Beispiel Aristoteles, Augustinus von Hippo, Immanuel Kant, Henri-Louis Bergson) kommt zu Wort, vielmehr wird auf zeitgenössische Pop-Philosophen, Soziologen, Kulturkritiker, „Spiegel“-Sonderausgaben oder „Zeit“-Wissen zurückgegriffen. Trendige Autoren wie Alain de Botton oder Thomas Macho, deren Werke im Text genannt werden, finden sich ärgerlicherweise nicht im Literaturverzeichnis.

Die neuen Heilswegmetaphern wie „Entschleunigung“, „Gelassenheit“ und „Innehalten“ werden anskizziert. Ihnen sei Spiritualität inhärent. Sie könne in Richtung einer Allverbundenheit mit dem Universum gehen oder in der Beziehung zum Selbst entdeckt werden. Gebet und Meditation werden einem als konkrete Praktiken der Spiritualität nahegelegt. Auch hier wieder: Nur das Was, nicht aber das Wie wird angedeutet, konkrete Anleitungen fehlen, was hingegen dem Buchkonzept des Autors entsprechen mag.

Online-Sucht und Burnout nehmen überhand. „Über-Inklusion“ nennt der Autor „das Leiden von sozial und vor allem funktional eingebundenen Menschen an zu vielen Kontaktwünschen.“ Dafür gibt er Empfehlungen für ein erfolgreiches Netzwerken. Zeitsouveränität und Zeitwohlstand bezeichnen Tugenden oder neue Ideale, denen es nachzustreben gilt. Sich der permanenten Erreichbarkeit zu entziehen und sinnlose Kommunikation zu meiden, gehören wohl zu den simpelsten und vernünftigsten Ratschlägen des Buches.

Bei den Auswegen werden uns als „Navigatoren zum Glück“ darüberhinaus angeboten: Yoga, Zen, Meditation, Coaching („Reiseland Ich“), Hypnose-Therapie, Gründungscoaching (eigene Firma!) und Auszeiten – bewusste Augenblicke, Schweige-Seminare, der Jacobsweg sowie ehrenamtliches Engagement. Das ist ein Bauchladen mit ziemlich disparatem und recht willkürlichem Angebot, aus dem man sich aussuchen kann, was passen und helfen möge. Wenn ich dem Erreichbarkeitsstress und elektronischen Kommunikations- und Netzwerkterror entkommen will, warum nicht auf obiger Linie mit einfachen nicht-digitalen Möglichkeiten wie: ein Bild malen, Gedichte schreiben, Musik machen und hören (nicht als Hintergrundgedudel), spazieren gehen, Vögel beobachten oder ins Meer springen.

Wie in diesem Büchlein üblich, belässt es der Autor bei Fingerzeigen und will man im Einzelnen mehr erfahren, ist man wohl mit der reichlich angeführten weiterführenden Literatur gut beraten.

Dass der Autor beim Coaching besser zu Hause ist als in der Spiritualität, mag an einem Detail illustriert sein: Im Zen gehe es darum, „nichts zu denken, und so in sich ein gedankliches Vakuum zu schaffen.“ Der Verfasser empfiehlt offenbar etwas, das er nie oder wenn dann falsch gemacht hat. Im Zen geht es um eine frei flottierende, alles einschließende Aufmerksamkeit und Wachheit, um reine, nicht eingreifende Beobachtung (der Gedanken), um ein alertes Da-Sein. Wenn bei Müller von Schaffen die Rede ist – vor allem im alemannischen Sinne – bedeutet das Aktion, Ego, Anstrengung, Arbeit und genau das soll ja aufgegeben, gelassen werden. Die Vorstellung von einem gedanklichen Vakuum ist ein uraltes Missverständnis, wenn es um Meditation geht. Was der Autor dann unter dem Pali-Begriff (!) sati beschreibt, ist hingegen nicht Zen, sondern Achtsamkeitstraining („Mindfulness“). Das hat allerdings als neuer Boom Zen in der Tat überholt.

Abschließend noch eine kleine Stil- und Ideologieprobe:

Das Leben der Menschen ist keineswegs fraglich geworden, sondern es ist offener geworden und verlangt Entscheidungen. Die zunehmende Offenheit der Gesellschaft und die wachsende Abwesenheit von Handlungsvorgaben wie Familienpflichten aber auch von patriarchalischen Sicherheitskonzepten stellt den einzelnen Menschen immer wieder vor Entscheidungssituationen, oder positiv formuliert: Er hat die Chance einer Wahl. Die Wahl zu haben, wie ich mein Leben gestalten will, ist eine geschichtliche Neuheit, sie ist ein Fortschritt und sie ist damit gesund und kann nicht Ursache eines Leidens an sich selbst sein.

Moment mal: Haben wir das nicht schon einmal gehört? Und tatsächlich findet sich dies wortwörtlich, einschließlich des diesem Absatz vorangegangenen Zitats plus Fußnote bereits zuvor im Buch so wieder. Und das geht nun seitenweise so weiter!

„Es geht auch anders: Sinn-lose Zeit besiegen. Eine Zusammenfassung“ heißt es auf Seite 105. Bis zur Seite 112 („Fazit“) findet sich nun ein zusammengekleistertes Konvolut von Textpassagen aus dem Buch. Der Autor hat sich selbst im eigenen Laden per copy and paste bedient. Da werden ganze Absätze verbalgetreu und bis in die Zitate und Fußnoten hinein völlig identisch einfach noch einmal neuzusammengestellt. Wer es genau wissen will: Seite 105 wiederholt eine Passage der Seiten 24 und 25, Seite 106 ist zusammenkopiert aus Absätzen der Seiten 27, 28, 34; Seite 107 aus den Seiten 34, 37, 38, 40, Seite 108 verwendet eine Textpassage aus der Seite 41, Seite 109 ist kopiert aus den Seiten 43, 44, 47, 48, Seite 110 gibt einen langen Absatz aus der Seite 54 wortgleich wieder, Seite 111 besteht aus Absätzen der Seiten 58 und 56 und auf Seite 113 wird ein Abschnitt aus der Seite 63 reproduziert. Das sind ärgerliche Redundanzen, die keinen Erkenntniszuwachs bringen. Man fragt sich, ob der Autor das rein physikalisch, aber auch inhaltlich dünne Büchlein noch ein wenig strecken wollte, oder ob der dem Leser wegen der grassierenden defizitär-kurzen Aufmerksamkeitsspannen nicht mehr zutraut, sich Inhalte zu merken. Oder hat er einfach überhastet und gegen seinen eigenen Rat in allzu großer Eile einen zeitsparenden Abschluss finden wollen.

In Müllers Buch wird das Unbehagen an der Zeit ausschraffiert anhand eines Sammelsuriums fast schon banal gewordener Ideen. Und es finden sich tastende Versuche der Beschleunigungsdynamik und dem sich immer enger um uns zuziehenden Netz an Information und virtueller Kommunikation zu entkommen. Aber es bleibt ein Baukasten mit unterschiedlichen Klötzchen, die wir uns dann selber aussuchen und zusammenbasteln müssen. Ebenso wie unser Selbst – wohlweislich eine Grundthese des Büchleins.

Zuletzt stellt sich noch die Frage, wer als Adressat dieses Essays infrage kommt: wohl am ehestens gut gebildete, wissenschaftsjargonaffine, finanziell bequem situierte, junge, urban-mondäne Leute. Trost bietet es sicher nicht dem Prekariat – oder sollten deren Angehörige womöglich ein Gründer-Coaching buchen? Man merkt der Schrift an, dass wir in der Tat inmitten eines technologischen Umbruchs stehen und mit neuen kommunikativen Kulturtechniken experimentieren, von denen wir noch gar nicht so recht wissen, was sie mit uns machen und wohin sie uns führen werden. Als Protokoll einer Indizienfahndung in dieser Hinsicht enthält das Büchlein durchaus wertvolle Anregungen.

Titelbild

Klaus- Dieter Müller: Das iPhone und der liebe Gott. Sinnlose Zeit besiegen im Zeitalter grenzenloser Kommunikation.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
124 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770560530

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