Jakob und Alexander

Mit „Fremde Seele, dunkler Wald“ hat Reinhard Kaiser-Mühlecker einen subtil allegorischen Entwicklungs- und Heimatroman geschrieben

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Spätherbst 2012 sitzt der noch nicht 15jährige Jakob Fischer mit seinem fünfzehn Jahre älteren Bruder Alexander in einem Wirtshaus in einem oberösterreichischen Dorf. Alexander ist im Bundesheer bei einer Friedensmission im Kosovo tätig, aber krankgeschrieben und daher auf Besuch zu Hause. Dort leben die Eltern der beiden mit einem Großeltern-Paar. Der Großvater soll vermögend sein, hält sein Geld jedoch zurück. Es ist Jakob, der sich um den Hof kümmert, bis er eine Lehre beginnen kann.

Alexander kann mit der Familie nichts mehr anfangen. Die Großeltern, anscheinend vermögend, gerieren sich herrisch, die Mutter hingegen zeigt sich seltsam apathisch. Der Vater, ein moderner Hans-im-Glück, ist meistens abwesend und ständig auf der Suche nach Geldanlagen. So bleibt nur Jakob, aber der mag das kumpelhafte Verhalten seines älteren Bruders nicht. Alexander und Jakob sind die Hauptfiguren in Reinhard Kaiser-Mühleckers Fremde Seele, dunkler Wald. Der Roman erzählt jeweils aus personaler Sicht die Entwicklungen der Brüder in den nächsten drei Jahren.

Alexander, ein „stiller, wortscheuer Mann“, war Schüler an einem katholischen Stiftsgymnasium und wollte zunächst Priester werden, studierte dann Medizin, bevor er sich zum Bundesheer verpflichtete. Aber auch der Dienst im Kosovo langweilt ihn, er ersuchte um Versetzung und es gelang ihm einige Monate später, eine Stelle im Generalstab in Wien im Rang eines Oberleutnants zu bekommen. Er beginnt eine Affäre mit Lilo, der Ehefrau seines Vorgesetzten, die diese jedoch nach einiger Zeit abrupt beendet. Zunächst fast unmerklich, später dann manifest merkt Alexander, dass er im Gegensatz zu seinen anderen Amouren mehr als nur flüchtige Zuneigung zu der Frau empfindet. Er muss sich eingestehen, Lilo zu lieben.

Die Welt Alexanders kontrastiert mit dem Leben des für sein Alter sehr ernsthaften Jakob im oberösterreichischen Dorf. Zu Beginn werden ausgiebig die Arbeiten und Verrichtungen Jakobs auf dem Hof erzählt. Mit der Natur und den Gegebenheiten des Hofes verwachsen, empfindet er jegliche Ablenkung als störend, geht Menschen aus dem Weg. Nur der drei Jahre ältere, zuweilen etwas extrovertierte Markus ist ein Freund.

Jakob lernt Nina kennen, eine Ex-Freundin von Markus. Das Verhältnis scheint zunächst eher platonisch, bis Nina schwanger ist. Er nimmt eine Arbeit bei einer Zeitarbeitsfirma an, die ihn auf Baustellen und Höfen als Hilfsarbeiter einsetzt, aber gut bezahlt. Das Paar mietet sich eine Wohnung, doch so etwas wie Liebe will bei Jakob nicht aufkommen. Er bemerkt einen extrem unangenehmen Geruch, der von Nina ausgeht, denkt sogar kurz daran, sie und das Kind umzubringen. Nach einem Streit trennt sich das Paar; Jakob zieht zurück auf den Hof. Und plötzlich wird publik, dass Jakob nicht der biologische Vater des Kindes ist.

Die (nur angedeuteten) Eskapaden des Vaters, die Beziehung zu Nina, das unverhoffte Kind – alles wird von Jakob mit einer verblüffenden Schicksalsergebenheit mehr ertragen denn gelebt, als wüsste er, dass dies nur eine Episode in seinem Leben ist, nicht die Essenz seines Daseins. Und dann ereignet sich Markus‘ Freitod, der es seinem Lieblingsbruder nach vielen Jahren nachgemacht hatte. Am Abend vor der Tat wollte Jakob ihn aufsuchen, ihm von seinen Problemen mit Nina erzählen. Tatsächlich traf er ihn dann mit seinen Arbeitskollegen im Wirtshaus. Aus Markus‘ wie beiläufig geäußertem Satz „Morgen sitzt ihr ohne mich hier“ glaubt er nachträglich die Selbstmordankündigung herauszuhören. Zum Gespräch zwischen den beiden kam es nicht mehr.

Jakob ist erschüttert, findet nirgendwo mehr Halt, das Idyll der Kindheit und Jugend löst sich unwiederbringlich auf. Eine ökonomische Absicherung durch den Hof ist verbaut; es gibt nur noch eine Kuh. Der Großvater ist verstorben und die Großmutter sitzt auf dem Erbe. Er verliert sogar seine Arbeit, weil Gerüchte die Runde machen, dass mit Markus‘ Freitod etwas nicht stimme und er, Jakob, damit etwa zu tun habe. Verzweifelt entdeckt er die Urchristen-Sekte, die Elvira, Alexanders Ex-Freundin aus Jugendtagen, vor einigen Jahren gegründet hatte, findet dort „Willkommen heißende Blicke“ und wird „Teil eines großen Zusammenhalts““. Beim Ehemann von Elvira, dem Sägewerkbesitzer, findet er Arbeit. Es gibt Perspektiven.

Den Klang von Jakobs Erzählung hätte man in Kaiser-Mühleckers Sprache gerne noch länger gehört. Und besonders gegen Ende wünscht man sich, dass der Autor das forcierte Geschichtenerzählen etwas dosierter betrieben hätte und ein wenig mehr bei oder in seinen Figuren geblieben wäre. Man denkt sehnsüchtig zurück an die feinen poetischen Erzählungen zu Beginn des Buches, von Jakobs Arbeiten auf dem Hof, dem Melken der anfangs noch dreizehn Kühe, der Fütterung der Schweine, der vom Vater angeschafften vierzig Hasen und dem Reparieren des  „Wasserwidders“. Wunderbar, dieses stille, ernsthafte Erzählen vom In-der-Welt-Sein Jakobs in der oberösterreichischen Landschaft. Und dazu die kunstvoll eingestreuten Wahrnehmungen der Jahreszeiten. „Die Fliegen summten schon anders“, heißt es zum Spätherbst etwa. Und bald werden die Tiere nicht mehr draußen weiden können und der kommende Winter wird zur Allegorie auf die letzten Jahre des Anwesens: „Etwas ging zu Ende und war doch nicht zu Ende; und er konnte diesen Zustand, diese Phase immer noch ein wenig verlängern, fast wie manchmal am Morgen, wenn er früh aufwachte, das Aufstehen…“

Stattdessen formt sich das lockere Erzählgespinst zum straffen Plot und Kaiser-Mühlecker streut (leider) zusätzlich noch ein wenig Suspense hinein. Neben der mindestens zu Beginn eher geheimnisvollen Sekte und den Unstimmigkeiten bei Markus‘ Freitod gibt es noch einen brutalen Mord im Nachbarort (wer möchte, kann sogar die Vorlage googeln). Aber nicht nur die Welt in Oberösterreich wankt. Der Ukraine-Konflikt beschäftigt Alexander im Generalstab. Und sogar die Vorzeigeehe von Luisa scheitert.

Der Roman dreht sich gegen Ende mehr um Alexanders Schicksal. Obgleich ökonomisch abgesichert, empfindet dieser sein Leben als leer. Um sich von der unerreichbar gewordenen Lilo abzulenken,  besucht er, der früher einmal Priester werden wollte, sogar eine Veranstaltung mit der Sektenführerin Elvira. Aber alle Erwartungen werden enttäuscht. Alexander kann nicht mehr glauben und die einstige Jugendliebe ist hässlich geworden.

Wiederholt erscheinen Kaiser-Mühleckers Protagonisten als Herumirrende, die ihr Leben probieren und nicht davor zurückschrecken, eingeschlagene Pfade, die sich als Sackgassen herausgestellt haben, zu verlassen. Dabei wird es ihnen zur Stärke, sich von Selbsttäuschungen und Illusionen zu verabschieden, statt sie stur weiter zu verfolgen. Schwach ist hingegen derjenige, der zum Getriebenen seiner eigenen, uneinlösbaren Erwartungen wird. Alexander ist stark, weil er seine falschen Entscheidungen immer wieder korrigiert. Der Vater ist schwach, weil er seine Grenzen nicht erkennt und bis zum Schluss auf unrealisierbare Renditen von 30% hofft.

Schon in der Goldberger-Saga, den Romanen Roter Flieder (2012)  und Schwarzer Flieder (2014), zeigt sich ein gewisser Hang von Kaiser-Mühleckers Figuren zum Obskurantismus. Während die Goldbergers ihren Familienfluch abarbeiten, scheint in Markus‘ Selbstmord eine Art Familienmystik des Freitods auf. Auch Jakobs Sektenaffinität, die erst auf der letzten Seite indirekt relativiert wird, zielt in diese Richtung. Und wie in Schwarzer Flieder kommt es auch im neuen Roman zu einem (allerdings unfreiwilligen) Ausverkauf des Hofes. Sehenden Auges wird derart das ökonomische Fundament für die Zukunft zerstört. Man kann hierin eine Lust an der Selbstdestruktion einer mit den Herausforderungen durch die sogenannte Globalisierung überforderten Generation herauslesen, die ihren Nachkommen nichts mehr zu bieten hat. Zusätzlich erodieren dabei die sozialen Bindungen. Jakob, von dem es zu Beginn heißt, er sei in der Schule kein Außenseiter gewesen, widersetzt sich dieser Dressur des Individuums zu einem ökonomischen Objekt. Der kryptische Titel, ein Wort Turgenjews („Du weißt ja, eine fremde Seele ist wie ein dunkler Wald“), das dem Roman als Motto vorangestellt ist, lädt zur weitergehenden Interpretation ein: Jakob wäre die (leicht stifterisch angehauchte) „fremde Seele“, die in den „dunklen Wald“ (der Welt der Großstadt) geschickt wird, nachdem ausgerechnet er, der jüngste, die Tradition fortsetzen wollte, indem er die Großmutter vergeblich um Geld gebeten hatte, um einen zum Verkauf stehenden Hof übernehmen zu können. Als er die Vergeblichkeit erkennt, durchlebt er einen veritablen Identitäts- und Mentalitätsschock. Bei Alexander zeigt sich hingegen am Ende der biedermeierlich geformte Rückzug ins Private (auch dies eine Parallele zum Ende der Goldberger-Saga).

Fremde Seele, dunkler Wald ist ein Entwicklungs-  und Heimatroman mit fein versteckten allegorischen Anklängen, in denen das Verschwinden der regionalen, landwirtschaftlich geprägten Strukturen aufgezeigt wird. Reinhard Kaiser-Mühlecker überzeugt abermals als wunderbarer Stilist, der Stimmungen mit großer Genauigkeit und kraftvoll evozieren kann. Im Klappentext ist Peter Handkes Lob, Kaiser-Mühlecker sei ein Dritter „zwischen Stifter und Hamsun“ abgedruckt. Möge dies für den Autor weniger Bürde denn Ansporn sein.

Titelbild

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Fremde Seele, dunkler Wald. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
301 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783100024282

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