Abschiedsszenarien in der Redaktion

Zur September-Ausgabe 2016 mit „fühlosophischen“ Reflexionen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Die September-Ausgabe von literaturkritik.de erscheint zwei Tage später als zunächst angekündigt und ist in ihrem Themenschwerpunkt noch ein Fragment, das in den kommenden Wochen vervollständigt werden soll. Einen Grund dafür sehen Sie hier:

 

 

Die Redaktion in Marburg und das Institut für Neuere deutsche Literatur ziehen um. Wir verabschieden uns aus einem der Türme in der Wilhelm-Röpke-Straße 6 und sind ab jetzt zwar unter den alten Telefonnummern, aber unter einer neuen Ortsadresse zu erreichen:

Redaktion literaturkritik.de
Institut für Neuere deutsche Literatur
Deutschhausstraße 3
35037 Marburg

Dass wir trotz des neuen Straßennamens weiterhin nicht auf Deutsches fixiert, sondern mental wie technisch weltweit vernetzt bleiben, sei hiermit versichert, auch wenn ein Beitrag in dieser Ausgabe sich in Anlehnung an ein rezensiertes Buch über „Heimat“ mit „Spuren eines deutschen Gefühls“ auseinandersetzt. 

Auf dem rechten Foto erledigt Michelle Zöller die letzten Redaktionsarbeiten in den altvertrauten Räumen. Sie hat neben Stefan Jäger (links) seit gut einem Jahr die Hauptlast dieser Arbeiten getragen. Für sie fällt der Umzug mit dem Abschied von der Redaktion und von Marburg zusammen. Ab kommender  Woche arbeitet sie als Referendarin an einer Schule in Bamberg. Wir werden ihre bewährte Mitarbeit vermissen, bedanken uns sehr herzlich für ihre vielseitige Hilfe und wünschen ihr für die künftige Tätigkeit alles Gute!

Abschiedsszenarien sind mit sehr unterschiedlichen Emotionen und komplexen Gefühlsmischungen verbunden. Sie zu beschreiben und zu analysieren gehört zu den Herausforderungen für die Emotionsforschung. Mit ihr haben sich seit 1999, als die ersten Hefte unsere Zeitschrift erschienen, bereits viele Themenschwerpunkte und Beiträge in literaturkritik.de befasst. Und die baldige Wiederkehr des Themas ist abzusehen. Denn die Zahl der Publikationen dazu steigt weiter.

War es zunächst die akademische Psychologie, die nach Jahrzehnten forcierter Konzentration auf kognitive psychische Prozesse eine Wende hin zur Emotionsforschung betrieb, so hat dieser Interessenwandel bald auch viele andere wissenschaftliche Disziplinen geprägt. Und inzwischen folgt ihm eine populärwissenschaftliche Publikationsflut. Gefühle werden nun auch Tieren und sogar Pflanzen zugeschrieben und an ihnen in anrührender Weise mit großem Publikumserfolg beschrieben. Auf der Spiegel-Bestseller-Liste stehen in der Sparte Sachbuch zwei Bücher des Försters Peter Wohlleben auf den obersten Plätzen, die dafür signifikant sind: 2015 erschien Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt, 2016 sein Buch über Das Seelenleben der Tiere mit dem Untertitel Liebe, Trauer, Mitgefühl – erstaunliche Einblicke in eine verborgene Welt . Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind hiermit eingeladen, unseren September-Schwerpunkt mit Rezensionen zu beide Bücher kurzfristig noch zu ergänzen. Im Klappentext wird das neue mit den Sätzen beworben:Fürsorgliche Eichhörnchen, treu liebende Kolkraben, mitfühlende Waldmäuse und trauernde Hirschkühe – sind das nicht Gefühle, die allein dem Menschen vorbehalten sind? Peter Wohlleben lehrt uns das Staunen über die Gefühlswelt der Tiere.“ Der Autor selbst versteht sich dabei als Dolmetscher, der für ein breites Publikum wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich macht, die von der Wissenschaft selbst in einer unzugänglichen Sprache artikuliert werden:

Immer mehr Forscher gelangen zu der Erkenntnis, dass viele Tierarten Gemeinsamkeiten mit uns teilen. Echte Liebe unter Raben? Gilt als sicher. Eichhörnchen, die die Namen ihrer Verwandtschaft kennen? Längst dokumentiert. Wo man auch hinschaut, wird geliebt, mitgefühlt und genussvoll gelebt. Mittlerweile gibt es eine große Menge an wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Themenkreis, die allerdings jeweils nur winzige Teilaspekte abdecken und häufig so trocken geschrieben sind, dass sie sich zur entspannten Lektüre, vor allem aber zum besseren Verständnis kaum eignen. Daher möchte ich an dieser Stelle gerne Ihr Dolmetscher sein, die spannenden Ergebnisse für Sie in Alltagssprache übersetzen, einzelne Puzzleteilchen zu einem Gesamtbild zusammenfügen und das ganze mit eigenen Beobachtungen würzen.

In einem Spiegel-Artikel (23.7.2016) über Wohlleben wurden dessen Bücher unlängst in einen Zusammenhang mit dem seit einigen Jahren in den Kulturwissenschaften expandierenden „Trendfach“ Human-Animal Studies gerückt, die den sich wandelnden Beziehungen der Menschen zu Tieren nachgehen und in dieser Ausgabe von literaturkritik.de wie schon in früheren mehrfach zum Gegenstand unserer Buch-Kritiken geworden sind.

Symptomatisch für die Popularisierungen, mit denen „Emotionsforschung“ derzeit betrieben wird, ist die Ankündigung des gewitzt aufgemachten Bändchens Machen Bauchgefühle satt? mit 111 Fragen für fühlosophische Ausflüge (so der Untertitel). Es erscheint im Oktober in dem kleinen Verlag mebes & noack, dessen Programm an Kinder, Eltern und Erzieher „für die pädagogisch-therapeutische Praxis“ adressiert ist. Die Autorin Marion Mebes veröffentlichte zuletzt das Bilderbuch „Gefühleflip“ mit dem gefühlsklugen Biber Bib. Ihre Anregungen zum „Fühlosophieren“ in dem neuen Bändchen versprechen „keine richtigen oder falschen Antworten. Stattdessen überraschende Erkenntnisse und die Verlockung zum fantasievollen Erforschen.“

Während solche Arten des „Erforschens“ Kinder froh machen sollen und Erwachsene ebenso, lässt sich umgekehrt in Teilen der kultur- und sozialwissenschaften Emotionsforschung die Tendenz beobachten, sich dem Verständnis einer breiteren Öffentlichkeit zu entziehen. Symptomatisch dafür kann das 2012 gegründete Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt sein. Zu seinen Gründungsdirektoren gehört der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus, der vorher an der FU Berlin das ungemein vielseitige und anregende Exzellenzcluster Languages of Emotion leitete. Die empirischen und experimentellen Forschungen des neuen Instituts haben bislang wenig substantielle Resonanz gefunden. Das kann sich ändern, und auch literaturkritik.de ist darum bemüht, die Ansätze und Ergebnisse der dort betriebenen Forschungen im Auge zu behalten, und wird darüber hoffentlich bald berichten können. Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe stellt dieses Mal andere Tendenzen der Emotionsforschung ins Zentrum: psychoanalytische, historische, (sozial)philosophische und medienwissenschaftliche, die ihr Eigenrecht gegenüber den Hard Sciences zu behaupten versuchen. Mit welchem Gewinn, bleibt offen. Aber uns liegt daran, die Verständigung zwischen ganz unterschiedlichen Wissenskulturen zu befördern und unsere Leserinnen und Leser daran teilhaben zu lassen.

Dass Lesen die „emotionale Intelligenz“ befördern kann (ein von dem US-amerikanischen Psychologen und Wissenschaftsjournalisten Daniel Goleman 1995 eingeführter Begriff), war eine Hoffnung, die im 18. Jahrhundert am prominentesten von Lessings Tragödientheorie und Schillers Konzept einer „ästhetischen Erziehung des Menschen“ verbreitet wurde. Zu Lessings Aufklärungsprogramm gehörte die Erziehung zur Mitleidsfähigkeit gemäß der ethischen Devise „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“, und er hielt vornehmlich die Tragödie bestens dazu geeignet, Mitleidsfähigkeit einzuüben. Genaueres dazu ist auch der kürzlich erschienenen, knappen Einführung von Friedrich Vollhardt zum Leben und Werk Lessings zu entnehmen. Sie geht ausführlich auf Lessings Mitleidskonzept ein und zitiert ihn mit den Sätzen: „Sie [die Tragödie] soll uns nicht bloß lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß.“

Dass aber auch sehr belesene Menschen ein erschreckendes Maß an Mitleidslosigkeit zeigen können, dafür hat eben wieder der Literaturkritiker Uwe Wittstock unter dem Eindruck eines Gesprächs mit Thilo Sarrazin ein Beispiel angeführt. Er besuchte ihn, bewunderte die Fülle von Literatur in seinen Bücherregalen, hatte Respekt vor seinen kompetenten literarischen Ansichten – und war doch im Gespräch über sein neues Buch (Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert) entsetzt „darüber, dass er nicht die geringste Verpflichtung dazu sieht, Flüchtlingen aus anderen Ländern in Deutschland Zuflucht zu gewähren, und mehr noch: dass er es offenkundig noch nicht einmal bedauert, Notleidende abzuweisen.“

Wofür, fragte der Besucher sich,

all diese endlosen Bücherwände, all dieser literarische Bildungseifer, wenn dabei nichts anderes herauskommt als rhetorisch glänzend verpackte Mitleidlosigkeit? In gewisser Hinsicht erinnert Sarrazin an Alexander Gauland, den Vizechef der AfD: Auch der ein hochkultivierter, hochbelesener Konservativer mit dem moralischen Verantwortungsgefühl eines Kleiderbügels. Einer der deutschen Klassiker, auf die sich Sarrazin und Gauland so gern berufen, hieß Friedrich Schiller. Er glaubte fest an die „ästhetische Erziehung des Menschen“, also daran, dass Kunst und Bildung die Leute nicht nur zu klugen, sondern auch zu guten, zu mitfühlenden, Anteil nehmenden Zeitgenossen machen. (Uwe Wittstock in Volltext 2/2016 „Zum Geschäft der Literaturkritik heute“ mit einem Hinweis zu seinem Sarrazin-Porträt)

Lessings Maxime ließe sich vielleicht auch umkehren: „Der mitleidloseste Mensch ist der schlechteste Mensch.“ Ob Literatur und Kunst dazu beitragen können, ihn besser zu machen, bleibt fraglich. Zu den Aufgaben von Literaturkritik gehört es nicht zuletzt, sich an einzelnen Beispielen diese Frage immer wieder zu stellen.