Auf der Suche nach der Vergangenheit

Paula Fürstenberg legt mit „Familie der geflügelten Tiger“ einen gelungenen Debütroman vor

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mittelalterliche Weltkarten werden häufig von zahlreichen Monstren und Fabelwesen bevölkert. Sie zieren die zu dieser Zeit noch nicht entdeckten oder beschriebenen Gebiete, die terra incognita. Auf einer der bekanntesten unter ihnen, der Ebstorfer Weltkarte (entstanden um 1300), findet sich neben menschenfressenden Ungeheuern und einem Greif auch ein geflügelter Tiger, der in den Titel von Paula Fürstenbergs Debütroman Eingang gefunden hat.

Von diesem Fabelwesen zeigt sich auch Johanna, die Welt- und Landkarten sammelnde Protagonistin und Ich-Erzählerin, beeindruckt, steht er doch für die ungewisse Vergangenheit ihres seit vielen Jahren verschollenen Vaters Jens. Dieser war kurz vor der Wende unter ungeklärten Umständen verschwunden, außer einer Postkarte besitzt Johanna nichts von ihm. Lakonisch heißt es im Roman: „Andere Kinder hatten imaginäre Freunde oder imaginäre Superhelden; ich hatte einen imaginären Vater.“ Knapp 20 Jahre später erfährt sie, dass Jens, sie scheut sich, ihn „Vater“ zu nennen, mit Krebs im Endstadium in einem Berliner Krankenhaus liegt. Als sie ihn dort besucht, trifft sie auch das erste Mal auf ihre ältere Stiefschwester Antonia, die ihren Vater sehr viel besser kennt als Johanna.

Über die Vergangenheit ihres Vaters, vor allem weshalb er sie und ihre Mutter im Oktober 1989 verlassen hat, erfährt die Protagonistin dennoch nichts. All ihre Fragen bleiben unausgesprochen, denn die unaufhörlich wuchernden Metastasen haben bereits sein Sprachzentrum befallen. Johanna jedoch gibt sich damit nicht zufrieden, sie ist regelrecht besessen davon, herauszufinden, was mit ihrem Vater im Wendejahr tatsächlich geschehen ist. Das gestaltet sich als überaus schwierig, denn jeder, den sie befragt, erzählt eine andere Version von Jensʼ Vergangenheit. Ihre Mutter behauptet, dass er abgehauen sei, „um drüben ein berühmter Rockmusiker zu werden“, von ihrer Steifschwester bekommt sie zu hören, er sei im Osten verhaftet worden, weil seine Band systemkritische Texte gesungen habe, ihre Großmutter, die sie ebenfalls erst bei einem Besuch ihres Vaters im Krankenhaus kennenlernt, ist hingegen überzeugt, dass Jens „immer gerne in der DDR gelebt“ habe und „weder in den Westen gegangen noch eingesperrt worden“ sei. Welcher Geschichte soll sie nun glauben? Fest steht, dass die Vergangenheit ihres Vaters für die Protagonisten weiterhin rätselhaft bleibt, sie ist der weiße Fleck auf der Familienkarte, „die Terra incognita, die es zu erforschen galt“.

Nachdem sich Johanna auf der Suche nach der „Wahrheit“ mit den ihr Nahestehenden überwirft und auch der Antrag auf Einblick in die Stasi-Akten ihres Vaters scheitert, akzeptiert sie, dass sie wohl nie erfahren wird, welche der vielen Vergangenheitsvarianten der Realität entsprechen. Am Ende des Romans – das ist ein herrlich ironischer Kniff Fürstenbergs – ist es die Protagonistin selbst, die den Leuten verschiedene Versionen über das Verschwinden ihres Vaters auftischt. Die Autorin legt einer ihrer Figuren den Satz in den Mund, der als Motto über dem gesamten Roman stehen könnte: „In einer Familie gibt es keine Wahrheit, es gibt nur Geschichten.“

„Familie der geflügelten Tiger“ kommt auf den ersten Blick als unscheinbarer Entwicklungsroman daher, der die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und hergerissen ist. Auf den zweiten Blick ist er jedoch weit mehr als das, denn er berührt Fragen von großer Tragweite: Wie viel Erinnerung braucht Identität? Kann es eine von subjektiven Einflüssen befreite Erinnerung geben? Wie beeinflussen sich Erinnern und Vergessen gegenseitig? Im Text geht es nicht nur um individuelle, sondern ebenso um kollektive Erinnerung. Immer wieder spielt die DDR-Vergangenheit nicht nur der Figuren, sondern auch Berlins, wo die Handlung angesiedelt ist und wo auch die Autorin lebt, eine große Rolle. Genauso wie ihre Familiengeschichte ist auch die Vergangenheit der Hauptstadt etwas, das von der Ich-Erzählerin mühsam rekonstruiert werden muss. Als sie einen Stadtplan Berlins aus DDR-Zeiten geschenkt bekommt, werden die Parallelen zwischen Individual- und Kollektiv- respektive Stadtgeschichte deutlich: „Westberlin war auf dieser Karte eine weiße Fläche. Terra incognita, dachte ich, die Mönche im Mittelalter hätten dort Fabelwesen hingemalt.“

Eine große Stärke des Romans ist seine Ausgewogenheit, sowohl in inhaltlicher als auch in sprachlicher Hinsicht. Das hätte auch schnell langweilig werden können, doch Fürstenberg versteht es mit ihrem angenehm unaufgeregten Erzählton, der zuweilen mit leiser Ironie unterlegt ist, den Leser für ihr Debüt einzunehmen.

Titelbild

Paula Fürstenberg: Familie der geflügelten Tiger. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
239 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462048759

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