Wie halten wir es mit den Tieren?

Das „Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen“ beleuchtet diese Gretchenfrage aus mehr Perspektiven als unser biologisches Schulwissen sich träumen ließ

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Länger schon reflektieren und argumentieren einige Vertreter bestimmter Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie, Anthropologie, Ethnologie oder Kunst- und Kommunikationswissenschaften über die Beziehungen zwischen uns Menschen und den anderen Tieren. Obwohl sich bereits antike Philosophen oder Religionsgründer Konzepte, Kategorien und Verhaltensregeln dazu ausdachten, geschah dies doch meist eher am Rande ihrer Denksysteme. So hat es lange gedauert, bis sich die Mensch-Tier-Beziehungen zu einem eigenen Forschungsfeld oder gar einer eigenen (bis heute institutionell noch kaum etablierten) akademischen Disziplin entwickelten. Doch in den letzten Jahrzehnten gediehen sowohl die wissenschaftlichen Reflexionen wie auch der politische Aktivismus oder Lebensstil-Programmatiken wie Vegetarismus oder Veganismus. Und jüngst nun, 2015 und 2016, tritt das Forschungs- und Debattengebiet der Human-Animal-Relations (Mensch-Tier-Beziehungen) auch im deutschsprachigen Bereich in jenes fortgeschrittene Diskurs-Stadium, das man regelmäßig daran erkennen kann, dass zu einem Themengebiet Handbücher erscheinen.

Zum Verhältnis von Menschen und Tieren erschienen kürzlich gleich zwei grundlegende Kompendien, die sich um einen systematischen Überblick über die historischen und aktuellen Argumentationsstände bemühen: 2015 das hier näher vorzustellende Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen von Arianna Ferrarai und Klaus Petrus und 2016 dann beim Metzler Verlag das von Roland Borgards herausgegebene Kulturwissenschaftliche Handbuch Tier. Beide nähern sich den fraglos mannigfaltigen und sehr kontroversen Mensch-Tier-Beziehungen aus einer Vielzahl von Perspektiven, wobei Ferrari und Petrus mit 142 Artikeln zu Einzel-Stichwörtern weitaus mehr Artikel und Autoren versammeln als Borgards Metzler-Handbuch, das bei ähnlicher Seitenzahl aus gut zwei Dutzend längeren Beiträgen besteht.

Das Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen stellt sich der Vielfalt der real existierenden, extrem unterschiedlichen Mensch-Tier-Beziehungen aus einer Vielzahl von Perspektiven. Denn wie Menschen mit ihren Haustieren („Heimtieren“) umgehen, an ihnen Anteil nehmen und mit ihnen mitleiden, das unterscheidet sich bekanntlich sehr von den üblichen Beziehungen zu „Nutztieren“ (rationell produzieren, töten und essen) oder zu den weiteren Lebewesen der Kategorien der „Wildtiere“ und der dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn geopferten „Versuchstiere“. Den einzelnen Tierarten, so etwa den prominenten Heimtieren Hund, Katze, Hamster oder Pferd, werden hier keine eigenen kulturgeschichtlichen Spezialartikel gewidmet. Doch lassen sich (mit Ausnahme des Hamsters) die vielen Bezugnahmen auf Hunde, Katzen und Pferde über die nützliche Registereinträge am Ende des Lexikons aus den vielen Einzelartikeln gut zusammentragen.

Neben den begriffsschematischen Artikeln zur – selbstverständlich ontologisch wie ethisch problematischen – menschlichen Einteilung der Lebewesen in Heim-, Nutz- oder Versuchstiere finden sich zahlreiche Stichworte zu diversen Praktiken des Umgangs und der Nutzung der Tiere. Sie reichen vom „Sport“ (Hunderennen, Pferdesport, Stier- oder Hahnenkämpfen), über „Xenotransplantationen“ (Organübertragungen zwischen Arten zur medizinischen Nutzung) bis zu „Gentechnik“ oder „Gen-Pharming“ als zunehmend real werdende Eingriffsweisen, durch die menschliches Wissen und Können die Grenzen gegebener Arten und die Manipulationsmöglichkeiten weit über herkömmliche Züchtungsmechanismen hinaus zu verändern vermögen. Der Einsatz von Tieren im Krieg wird ebenso mit einem eigenen Artikel bedacht wie die Auswirkungen der Tiernutzung und Fleischwirtschaft im Hinblick auf den Klimawandel.

Einer der Dreh- und Angelpunkte der Debatten um unsere Beziehungen zu den Tieren ist die Frage nach dem „Karnismus“ (als System, das den Menschen ermöglicht, Tiere zu produzieren, zu töten und zu essen ohne Mitgefühl) oder dem Vegetarismus und Veganismus, die hier gründlich voneinander abgegrenzt und mit Argumenten für Gesundheit, Lifestyle und mit einem Strauß von Gründen aus Moral, Ethik und Religionen vorgetragen werden.

Liest man die zahlreichen philosophisch und politisch argumentierenden Beiträge zu den Stichworten „Tierrechte“, „Tierschutz“, „Tierethik“, „Gewalt“, „Verdinglichung“ und „Mitleid“, wird sehr anschaulich, dass Tierethik oder so etwas wie eine human-animal-relation keineswegs eine einheitliche Umgangsweise des Menschen mit dem Tier adressieren kann. Vielmehr sind diese Beziehungen höchst kontextabhängig; man denke beispielsweise nur an die praktischen und emotionalen Unterschiede der Beziehungen zu geliebten und gepäppelten Heim- und Kuscheltieren und die weithin herrschende Ausblendung, Verdrängung, Gleichgültigkeit oder Mitleidslosigkeit, die das Leben der Millionen von Nutz- und Versuchstieren betrifft.

Eigene Beiträge des Lexikons gelten den Religionen (Buddhismus, Hinduismus, Jainismus, Judentum, Christentum, Islam) und politischen Gedankengebäuden (vom Anarchismus über den Marxismus und den „Ökosozialismus“ bis hin zum Liberalismus), die in ihren Modellierungen sozialer Lebensregeln jeweils auch bestimmte Umgangsweisen mit Tieren legitimieren oder tabuisieren. Der Geschichte und der Vielfalt von Nahrungstabus gilt ein weiterer bemerkenswerter Eintrag. Dem Pelz (aber nicht der Wolle, die sich nur kursorisch an neun Stellen findet), der Milch, dem Ei und dem Fleisch und in mehrfacher Hinsicht dem Fischfang und Angeln als prominente Aneignungen tierischen Lebens durch Menschen gelten eigene Einträge. Den ideologischen, kulturell und historisch tief verwurzelten Rechtfertigungssystemen menschlicher Tierbehandlung wird mit Stichworten wie Anthropozentrismus, Anthropomorphismus und Anthropozoologie analytisch und historisch ebenso kritisch nachgegangen wie jenen eher abseitigen menschlichen Praktiken wie Animal Hoarding (dem Sammeln und Anhäufen von Tieren) oder der Zoophilie (der sexuellen und emotionalen Präferenz von Menschen für Bindungen oder sexuelle Beziehungen mit Tieren). Auch die ganz unterschiedlich gestalteten Lebensräume oder Orte für Tiere werden mit historischen Aufrissen und moralischen Reflexionen bedacht, sie reichen vom Zoo über das Tierheim bis zum nutzungsfrei paradiesischen Lebenshof für befreite Tiere.

Die beiden Herausgeber sind mit dreizehn Beiträgen von Arianna Ferrari, Mitarbeiterin im Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am Karlsruher Institut für Technologie, und 20 Beiträgen des Berner Publizisten Klaus Petrus zugleich die fleißigsten Verfasser diverser Sachartikel. Die weiteren Beiträger sind meist angesehene VertreterInnen ihres jeweiligen Faches oder Forschungsfeldes. Sie kommen aus gut 20 Fachgebieten/Disziplinen, wobei die philosophischen Artikel (etwa zur Frage des Bewusstseins von Tieren, zu den Mensch-Tier-Differenzen und Grenzverläufen) und vor allem die moralphilosophischen Beiträge tendenziell zahlreicher ausfallen als die kulturgeschichtlichen Narrative (wie sie unlängst etwa Ulrich Raulff mit seinem hier nicht berücksichtigten Buch Das letzte Jahrhundert der Pferde brillant demonstrierte). Die einzelnen Artikel umfassen im zweispaltig gedruckten Buch zwischen zwei und fünf Seiten; ein Teil der Beiträge wurde (gut lesbar) aus dem Englischen übersetzt.

Das Lexikon vermittelt durch Argumentationskraft und umfangreiche Literaturverweise den Eindruck, dass der aktuelle Diskussionsstand diverser Fächer und Diskurse sich hier gut kondensiert wiederfindet. Viele der Beiträger und Artikel stehen den „Critical Animal Studies“ und dem Abolitionismus nahe; also jener engagierten Szene, die für sehr weitgehende Tierrechte und für fundamentale Revisionen am bestehenden Umgang mit Tieren plädiert. Doch kommen in dem vielstimmigen Buch auch prominente Wissenschaftler anderer Provenienz zu Wort, so etwa Julia Fischer vom Deutschen Zentrum für Primatenforschung in Göttingen, die als Biologin und Verhaltensforscherin die Stichworte zur Frage tierischer „Emotion“ und zu „kognitiver Ethologie“ beisteuert.

Roland Borgards Kulturwissenschaftliches Handbuch Tier ist im Hinblick auf historische Erklärungen zur langen Geschichte der Mensch-Tier Beziehungen (in Politik und Philosophie, als Geschichte der Zoologie, des Tierversuchs oder des Tierschutzes oder als historischer Abriss zu Jagd, Nutztieren, Haustieren) deutlich ausführlicher als das Lexikon von Ferrari/Petrus. Die Beiträge über „das Tier in der Kunst“ oder über Tiere in der Literatur, die in beiden Lexika von denselben diesbezüglich bestens ausgewiesenen Verfassern stammen (Jessica Ullrich respektive Roland Borgards) sind im Metzler-Lexikon um ein Vielfaches umfangreicher. Das Lexikon von Ferrari/Petrus zeichnet sich hingegen durch die strikter ethische und häufig dezidiert politisch engagierte Orientierung fast aller Beiträge aus, die in der Mehrzahl nicht nur vom Tierschutzgedanken beseelt sind, sondern vom sehr viel radikaleren Konzept der Tierrechte und auch vom sogenannten Abolitionismus, der die Nutzung und Verdinglichung von Tieren grundsätzlich als unmoralisch desavouiert und beenden möchte.

Ein sowohl in kulturgeschichtlicher als auch in ethischer Hinsicht höchst spannendes Feld des Nachdenkens und der lebenspraktischen Entscheidungen liegt mit dem Debattenfeld der Mensch-Tier-Beziehungen vor uns. Die hier aufgeworfenen Fragestellungen überschreiten vielfach eingefahrene Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und sie involvieren bei zahllosen Entscheidungen, von der Begrifflichkeit des Sprechens und Nachdenkens über Tiere und ihre Behandlung bis zu politischen oder individualethischen Entscheidungen kardinale moralische Probleme des Respekts, der Leidensvermeidung aber auch des Selbstbildes von Mensch und Gesellschaft.

Vorbildliche Sach- und Namensregister machen das Lexikon zu einem sehr brauchbaren Arbeits- und Nachschlagewerkzeug, in dem sicher nicht nur allgemein an Tieren Interessierte weitläufige Orientierung und sachliche Einführungen finden, sondern ebenso die schon im einen oder anderen Bereich gut Eingearbeiteten weitere Zusammenhänge, potenzielle Kooperationspartner und Denkanregungen finden werden. Am Ende jedes Artikels stehen neben den üblichen Literaturhinweisen auch noch inspirierende Lektüretipps zum Weiterlesen und Vertiefen des jeweiligen Stichworts. Dabei wird dieses Lexikon als ein dermaßen aufwendig von zahlreichen Spezialisten zusammengetragenes Grundlagenwerk verglichen mit anderen wissenschaftlichen Kompendien erstaunlich preisgünstig publiziert vom Transcript Verlag. Das umfangreiche Buch richtet sich mit seinen fast durchgängig luziden Argumentationen, die gleichwohl sprachlich meist angenehm lesbar bleiben, sowohl an Spezialisten und Forscher als auch an Aktivisten, Politiker oder allgemein Interessierte. So kann man dieses Lexikon als ein Füllhorn der Informationen und Anregungen tatsächlich so ziemlich an jeden weiterempfehlen. Man wünscht dem verdienstvollen Werk viele Leser und dem Thema weiter wachsende Aufmerksamkeit.

Titelbild

Arianna Ferrari / Klaus Petrus (Hg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
475 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783837622324

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