Aus den Zonen des Unheimlichen

Die schwarze Romantik als Prüfstein für Sigmund Freuds Psychologie der Affekte und eine dunkle Episode in seiner Biographie

Von Peter-André AltRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter-André Alt

Am 30. Juli 1915 hatte Freud an Lou Andreas-Salomé geschrieben, daß seine wissenschaftliche Neugierde sich auf die Suche nach Ursachen konzentriere und im Wortsinn einem analytischen Prinzip folge: „Die Einheit dieser Welt scheint mir ein Selbstverständliches, was der Hervorhebung nicht wert ist. Was mich interessiert, ist die Scheidung und Gliederung dessen, was sonst in einem Urbrei zusammenfließen würde.“ Aus dieser Haltung, die Erkenntnis als Zerlegung begriff, speiste sich auch Freuds kulturtheoretischer Ansatz, wie ihn die 1919 verfaßte Studie über Das Unheimliche verfolgte. Die Arbeit sei „nicht notwendig“ gewesen, so schrieb er im Juni 1919 nach dem Abschluß des Manuskripts an Ferenczi. Das spiegelte eine vornehme Nonchalance gegenüber dem eigenen Forschungsinteresse, die man nicht falsch bewerten sollte. Freud wußte genau, aus welchem Grund er sich immer wieder mit Kulturphänomenen befaßte: an ihnen ließen sich die Hauptlinien seiner Wissenschaft ablesen, und über sie lernte er selbst, manchmal zur eigenen Überraschung, die Reichweite der Psychoanalyse kennen.

Der Begriff des Unheimlichen wurde von Freud zunächst etymologisch untersucht. Zu seinen wichtigsten Gewährsleuten zählten die Gebrüder Grimm, Daniel Sanders mit seinem Wörterbuch der deutschen Sprache und der Psychiater Ernst Jentsch, der 1906 eine Studie zur Psychologie des Unheimlichen veröffentlichte. Weitere Belege zur Verwendung des Begriffs in der schönen Literatur stammten von Theodor Reik, auf dessen weitreichende Recherchen und Vorarbeiten eine Fußnote dankbar verwies. Am Ende seines bedeutungsgeschichtlichen Durchgangs erinnerte Freud an Schellings Definition aus der 28. Vorlesung der Philosophie der Mythologie (1842), die wörtlich lautete: „unheimlich nennt man alles, was im Geheimniß, im Verborgenen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist“. Mit dieser Bestimmung umriß Schelling einen psychologischen Zusammenhang, der für den Fortgang der Untersuchung leitend wurde. Das Unheimliche gemahnt an eine Ebene des seelisch Verdrängten, die sich, gegen die Absichten des Bewußtseins, zur Geltung bringt und dadurch Angst auslöst. Freud gab das Diktum Schellings freilich nur indirekt wieder: das Unheimliche „sei etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist.“ Daß sich seine Paraphrase den Begriff des ,Latenten‘ entgehen ließ, könnte zwei unterschiedliche Gründe haben. Entweder kannte Freud das Zitat selbst nur aus zweiter Hand in unvollständiger Form, etwa durch Reik; dafür spricht, daß er keine Quelle angab und, anders als bei seinen sonstigen Befunden, auf einen bibliographischen Nachweis verzichtete. Oder aber er wollte die große Nähe zur psychologischen Begrifflichkeit Schellings verschleiern, um die Originalität seiner Überlegungen nicht in Frage gestellt zu sehen. In diesem Fall wäre der Umgang mit Schelling seinem Verhältnis zu den Arbeiten Schopenhauers und Nietzsches vergleichbar – ein Ausdruck jener ,Doppelgängerscheu‘, die er im Mai 1922 gegenüber Arthur Schnitzler eingestand. Das hätte eine durchaus pikante Note, denn gerade der Doppelgänger sollte in Freuds Aufsatz noch eine wichtige Rolle als Auslöser der Furcht spielen, die das Unheimliche freisetzt.

Der Terminus des Unheimlichen bezeichnet das ,Nicht-Heimliche‘, das Angst erzeugt, weil es einem Verdrängten (individuell) oder einem Überwundenen (kulturell) entspringt. Unheimlich wirkt auf uns, was an Reste im Unbewußten erinnert und im Stadium der Latenz bedrohlich erscheint; unheimlich ist aber auch, was auf archaische Stufen unserer Gattungsgeschichte verweist und die Züge des versunkenen Kulturgutes trägt. Die erste Quelle des Unheimlichen bildet die verdrängte Sexualität, die sich in Angst manifestiert. Freuds Lektüre von E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1816) betonte diese Konstellation, wenn sie die Kastrationsfurcht des Helden als Leitmotiv interpretierte. Sie beschränkte sich keineswegs auf die Bestätigung psychoanalytischer Theorien, sondern ging davon aus, daß die Kunst durch die gemischten Gefühle, die sie freisetzt, für sie ein ideales Studienobjekt sei. Anders als in früheren Arbeiten folgte Freud einem modernen Verständnis ästhetischer Erfahrung, das auch das Häßliche, Bedrückende oder Angsterregende als deren Teil zuließ. Die nicht mehr schöne Literatur der schwarzen Romantik diente ihm dabei als Prüfstein für eine Psychologie der Affekte, die ihrerseits vertrauten Bahnen der analytischen Erkenntnis folgte.

E. T. A. Hoffmann ist ein Meister des Unheimlichen, der seine Leser gern im Unklaren über seine Figuren läßt. Ob sie Doppelgänger abspalten, sich in Maschinenmenschen wiederholen oder nur im Wahnsinn phantasieren, bleibt oftmals ungeklärt. Gerade darin liegt der Reiz seiner Erzählungen, daß sie keine eindeutige Trennung zwischen Imagination und Realität vornehmen, was wiederum den Effekt des Unheimlichen auslöst. Die Sandmann-Erzählung las Freud als infantile Angstvision, die sich aus Kastrationsfurcht speist. Der kleine Nathanael hört das Ammenmärchen vom Sandmann, der den Kindern die Augen raubt, und stellt sich vor, der unheimliche Advokat Coppelius, ein Geschäftspartner seines Vaters, sei dessen Inkarnation. In seiner Angst bildet sich Nathanael ein, der häßliche alte Mann wolle ihm Böses und versuche ihm die Augen auszureißen. Daß sich darin die Furcht vor der Kastration spiegelt, war für Freud ausgemacht. Nachdrücklich verwies er auf Sophokles’ König Ödipus und die Selbstbestrafung durch Blendung, die den Augen als stellvertretenden Zeichen für das männliche Glied gelte; Ödipus richte sich, indem er sich symbolisch kastriere. Hoffmanns berühmte Erzählung kulminiert im Suizid des erwachsenen Protagonisten: Nathanael kann seine Angst vor der Kastration nicht ablegen, er phantasiert, daß ihn der unheimliche Coppelius in wechselnder Gestalt verfolge, und stürzt sich am Ende von einem Turm in die Tiefe, als er ihn erneut erblickt zu haben glaubt.

Freuds Analyse ging von zwei Motivationen des Unheimlichen aus. Die erste bezog sich auf die Kastrationsangst, die zur Projektion, zu furcht besetzten Vorstellungsbildern und Phantasien führt. Die zweite speiste sich aus der Ambivalenz, in die Hoffmann das Geschehen taucht. Weil wir nicht wissen, ob Nathanael in den Wahnsinn fällt und die Realität verzerrt oder von tatsächlichen Unholden verfolgt wird, fühlen wir uns als Leser zerrissen zwischen vernunftgesteuerter Beschwichtigung und Beunruhigung.  Freud führte als weiteres Beispiel für diese Technik der Ambivalenz Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels (1814) an. Da er den Text so „reichhaltig und verschlungen“ fand, daß er eine Zusammenfassung nicht wagen wollte, beschränkte er sich auf einige Schlaglichter. Das Unheimliche speist sich zumal aus dem Doppelgänger-Motiv, das den gesamten Roman durchzieht. Es erweist sich als Spielart von Vertauschungen, Teilungen, Wiederholungen – Versionen des Phantastischen, die unsere routinierte Alltagswahrnehmung in Frage stellen und unser Urteilsvermögen unterminieren. Freud erinnerte in diesem Zusammenhang an Otto Ranks große, 1912 erschienene Studie zum Doppelgänger-Motiv, auf deren Ergebnisse er respektvoll verwies. Vor allem für den Narzißmus ist der Topos psychoanalytisch bedeutsam. Daß der Mensch sich in Spiegelfiguren und Spaltungen reflektiert, gehört zum uralten Bestand seiner Selbstliebe. Freud wußte aber zugleich aus eigener Erfahrung, wie stark das Motiv mit affektivem Unbehagen verbunden war – etwa der Furcht, ein Anderer sei ihm zuvorgekommen, habe das Gleiche gedacht und geschrieben.

Auch ein zweiter Auslöser der Angst stammt aus dem bekannten Repertoire seelischer Mechanismen. „Das Moment der Wiederholung des Gleichartigen wird als Quelle des unheimlichen Gefühls vielleicht nicht bei jedermann Anerkennung finden. Nach meinen Beobachtungen ruft es unter gewissen Bedingungen und in Kombination mit bestimmten Umständen unzweifelhaft ein solches Gefühl hervor, das überdies an die Hilflosigkeit mancher Traumzustände gemahnt.“ Freud besann sich hier auf ein Erlebnis in einer italienischen Kleinstadt, als er zufällig während eines Ausflugs in ein Hurenviertel kam, sich rasch entfernte, aber wie von magischer Hand gelenkt zwei weitere Male dorthin gelangte. Die Szene erinnert an Hugo von Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht (1895), das von der Anziehung durch das Schmutzig-Widerliche handelt. Freud wiederholte als Spaziergänger wie in einem Ritus die Begegnung mit der dunkel-erregenden Welt des Prostitutionsmilieus. Das Unheimliche dieser Konstellation bestand darin, daß er ohne bewußte Absicht dreimal in das Bordellviertel geriet, gesteuert von einer irrationalen Triebkraft, die ihm unverständlich blieb. Er selbst verspürte in der Situation die Anziehung des Verbotenen, dem er sich, indem er zu fliehen versuchte, doch immer wieder auslieferte. Mit derselben Logik arbeitet das Unheimliche der Hoffmannschen Erzählung, in deren Ablauf Nathanael unter dem Diktat der Wiederholung seinen eigenen Untergang herbeiführt.

Doppelgängertum und Wiederholung bilden Manifestationen der Angst, die Freud an magische Praktiken erinnerten. Ihre Quelle ist der Narzißmus, weil der Mensch sich in ihnen Spiegelfiguren seiner seelischen Anlagen schafft. Die Gestalten des magischen Denkens reflektieren das Ich, indem sie seine Ängste und Wünsche verkörpern. Umgekehrt kann die Wahrnehmung des Unheimlichen auch als Bestätigung dunkler Antriebe im eigenen Inneren gelten, wenn der Mensch in der Konfrontation mit dem Häßlichen und Bedrohlichen seiner Schattenseiten gewahr wird. Letzthin führt daher die Begegnung mit den Figuren der Angst zu verdrängten psychischen Konstellationen zurück, zu jener Latenz, von der Schelling bereits im Blick auf die unerlaubte Offenbarung des Verborgenen sprach. „Das Unheimliche“, schrieb Freud, „ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ,un‘ an diesem Worte ist aber die Maske der Verdrängung.“ 1937 sollte er dazu formulieren: „Manchmal könnte man zweifeln, ob die Drachen der Urzeit wirklich ausgestorben sind.“ Am Ende unterschied Freud zwischen dem Unheimlichen des Erlebens, das infantile Wünsche wiedererweckt, und dem Unheimlichen der Fiktion, dessen Variationen vielseitiger sind, weil der Dichter nicht an die Gesetze der ,Realitätsprüfung‘ gebunden bleibt. Zu den Mitteln der Literatur gehört auch die Täuschung, das arglistige Verschweigen von Hintergründen oder die Verzögerung der Aufklärung. Freud machte keinen Hehl daraus, daß ihm solche Formen der poetischen Manipulation verdächtig waren; so tadelte er Schnitzlers Erzählung Die Weissagung, die 1905 in der Weihnachtsausgabe der Wiener Neuen Freien Presse erschien, für ihre Sympathien „mit dem Wunderbaren.“ Schnitzlers routiniert arrangierte Geschichte verlegte sich in der Tat auf spekulative Elemente und offenbarte den Zufall als geheime Vorsehung. Hier war für Freud die Grenze zu einem manipulativen Verfahren überschritten, das den Dichter zum Psychagogen macht.

Das Unheimliche wird im Anschluß an Freud in der postmodernen Kulturtheorie bevorzugt als Inbegriff von latenter Gewalt, Ausgrenzung und Fremdheit gedeutet. Freud selbst neigte zu weniger pauschalen Urteilen, wenn es um die Übertragung psychologischer Befunde ging. Der Auslöser der Angst sei, wie er 1925 betonen sollte, niemals die Triebwelt, sondern allein das Ich. Angstfähig kann nur das Bewußte bzw. das Vorbewußte sein, weil der Trieb keine Affektstruktur aufweist und lediglich Emotionen freisetzt. Insgesamt aber, so behauptete er, wissen wir über die „Psychologie der Gefühlsvorgänge“ extrem wenig. In den meisten Fällen könne man mit analytischem Rüstzeug erkennen, auf welche Konstellation der jeweilige Affekt antworte; aber seine besondere Komposition und Struktur seien unbekannt. Trauer, Melancholie, Angst, Phobie, Begierde – sämtliche Affektkategorien bezeichnen etwas Abwesendes, machen es auf versteckte Weise sinnfällig und präsent, doch sie verhüllen zugleich ihre eigenen Ingredienzen, ihre Wirkstoffe und die Partikel, aus denen sie gebildet sind. Insofern erklärte auch die Untersuchung über das Unheimliche bloß die Auslöser der ,Lehnsesselfurcht‘ bei der Lektüre von Schrecknovellen, kaum aber deren psychische Anatomie.

Nicht nur die Literatur, sondern auch das Leben schrieb Schauergeschichten. Eine ereignete sich wenige Tage, nachdem Freud seinen Aufsatz über das Unheimliche beendet hatte. Ihre Hauptfigur war Viktor Tausk, der schwierige und ungeliebte Schüler, der seit vielen Jahren zu den Mitgliedern des Wiener Kreises zählte. Tausk erwarb im Sommer 1914 den medizinischen Doktorgrad und verbrachte danach die gesamte Kriegszeit als Stabsarzt an der Front, überwiegend auf dem Balkan, zuletzt in Belgrad. In den Lazaretten begegnete er Verletzungen der furchtbarsten Art und erlitt traumatische Erfahrungen, die, wie Freud später konstatierte, „schwere seelische Schädigung“ bewirkten. Rein äußerlich schienen sich seine Verhältnisse seit dem Herbst 1918 wieder zu bessern: Tausk quittierte den Militärdienst, kehrte nach Wien zurück, versuchte sich als Therapeut mit eigener Praxis zu etablieren, plante die Habilitation und stand nach jahrelang wechselnden Liebesverhältnissen sogar vor einer neuen Eheschließung mit der 16 Jahre jüngeren Pianistin Hilde Loewi. Aber die lastenden Kriegserlebnisse – Thema auch seiner wissenschaftlichen Arbeiten – und die massive neurotische Erkrankung, die sich daran band, ließen sich dauerhaft nicht unterdrücken.

Auf dem Weltkongreß in Budapest Ende September 1918 sprach Tausk über Psychoanalyse der Urteilsfunktion, ein ambitioniertes Thema im Grenzbereich zur Kognitionsforschung. Während des ganzen Tages machte er einen abwesenden, geradezu gespenstisch zerrütteten Eindruck; nach seinem Vortrag brach er zusammen und mußte sich übergeben.  Freud hielt aus Prinzip Distanz zu ihm, denn er zweifelte an seiner wissenschaftlichen Zuverlässigkeit und Integrität. Schwierige Charaktere wie Adler, Stekel oder Groß hatten in der Vergangenheit bewiesen, daß sie zur Weiterentwicklung der Psychoanalyse nicht fähig waren, weil ihre Persönlichkeitsstruktur allzu labil blieb. Außerdem spürte er, daß Tausk ihn zur Vaterfigur erhob, was unheilvolle Erinnerungen an den Bruch mit Jung auslöste. Angesichts der immer wieder auftretenden Konflikte mit seinen Schülern – zumal Ferenczi und Jones – verspürte Freud keine Lust, sich einen neuen Sohn voller Komplexe und Projektionsphantasien ins Haus zu holen.

Im Dezember 1918 machte Tausk einen Besuch in der Berggasse und bat Freud, bei ihm in Therapie gehen zu dürfen. Er wurde jedoch abgewiesen und zu der Psychiaterin Helene Deutsch geschickt, die ihrerseits bei Freud in Behandlung war. Die junge Frau, damals 35 Jahre alt, hatte 1912 in Wien promoviert, absolvierte ihre Lehrzeit als Assistenzärztin in der Universitätsklinik bei Wagner-Jauregg und gehörte seit 1918 zum Kreis Freuds. Sie verfügte zwar als Medizinerin über praktische Erfahrungen mit schwierigen Fällen, stand aber als Therapeutin erst am Beginn ihres Weges. Schon im März 1919 brach sie, offenbar auf Druck Freuds, die Analyse Tausks ab. Die Gründe dafür lassen sich nur erraten; vermutlich widerstrebte es Freud, daß ihm Tausks Fall durch die Schülerin en detail berichtet und er gegen seinen Willen zum Analytiker des schwierigen Zöglings gemacht wurde. Helene Deutsch drohte er an, daß er ihre Lehranalyse beenden werde, wenn sie die Behandlung Tausks fortsetze. Freud reagierte hier mit jener Kälte, zu der er fähig sein konnte, wenn er seine Arbeitsruhe schützen wollte. Tausk war ein Eindringling, der keine Klarheit in die Welt brachte; einer, der unheilbar schien, eigentlich vom Leben nicht schlecht ausgestattet, aber bei seinen Unternehmungen ohne jedes Geschick, Unglück und Katastrophen anziehend.

Freud wollte Tausk auf Distanz halten, denn auch seine wissenschaftlichen Beiträge schätzte er wenig: die nach 1918 in schneller Folge verfaßten Studien über die Psyche der Deserteure, über Schizophrenie und Definitionen der Masturbation kamen ihm methodisch unsauber und begrifflich unstimmig vor. Typisch für diese Tendenz fand er den 1919 publizierten Aufsatz Über die Entstehung des ,Beeinflussungsapparates’ in der Schizophrenie, in dem Tausk die These vertrat, daß zahlreiche Psychotiker die Vorstellung hegten, eine unsichtbare Maschine überwache ihr Denken und erfasse in permanenter Beobachtung ihr gesamtes Leben. Einen solchen Apparat imaginierten gerade Paranoiker als Instrument ihrer vermeintlichen Verfolger, die mit den Mitteln des technischen Fortschritts auf bedrohliche Weise ihre Übermacht zeigten – eine Diagnose, die zwar innerhalb der Psychiatrie wenig Resonanz fand, aber in der Medien- und Kulturwissenschaft bis heute durchaus Spuren hinterließ. Freud nahm Tausks Versuche mit Mißtrauen zur Kenntnis, weil sie keinerlei Bezug zu seinen methodischen Grundsätzen – insbesondere der Libidotheorie – herzustellen suchten. Zugleich beobachtete er, daß Tausk seine eigenen Ideen intuitiv aufgriff, um sie in seinem Denksystem weiterzuverarbeiten – ein Umstand, der ihm, wie er Helene Deutsch gestand, ,unheimlich’ war. Hier erschien der Sohn als häßlicher Wiedergänger seiner selbst und als Neurotiker, der seine Aggressionen auslebte, indem er ihn auf verzerrte Weise nachahmte. Freud sah, daß Tausk den Boden der orthodoxen Analyse verlassen hatte und sich auf der Reise in jenes Land befand, in dem Renegaten wie Adler und Stekel hausten.

Auch nach dem Abbruch der Analyse bei Helene Deutsch blieb der Kontakt zu Freud weiter bestehen, denn Tausk besuchte regelmäßig die Sitzungen des Wiener Ortsvereins. Er beteiligte sich an den Diskussionen und schien ernsthaft mit seiner wissenschaftlichen Arbeit befaßt. Am Mittwoch, dem 2. Juli 1919 war ein reguläres Treffen vorgesehen, aber Tausk fehlte; am Morgen hatte er einen Brief in die Berggasse geschickt, in dem es hieß: „Ich bitte mein Fernbleiben von der heutigen Sitzung zu entschuldigen. Ich bin mit der Lösung meiner entscheidenden Lebensangelegenheiten beschäftigt und will mich durch den Kontakt mit Ihnen nicht in Versuchung bringen lassen, Ihre Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen.“ Einen Tag später, am Morgen des 3. Juli 1919, wurde klar, was Tausk unter dieser ,Lösung‘ verstand. Er stieg mit einem Armeerevolver in der Hand auf einen Stuhl, legte sich eine Vorhangschlinge um den Hals, knüpfte sie am Deckenbalken seines Zimmers auf und erschoß sich. Die den Schädel zerfetzende Kugel löste einen Sturz vom Stuhl und damit den Bruch des Genicks aus – eine doppelt gesicherte Selbsttötung, bei der nichts dem Zufall überlassen wurde (sie fand dreieinhalb Jahre danach im Suizid des früheren Kreismitglieds Herbert Silberer eine eigene Fortsetzung). Am Abend des 3. Juli empfing Freud die Nachricht von Tausks Verzweiflungstat, am nächsten Morgen seinen Abschiedsbrief (ein zweiter ging an seine Braut Hilde Loewi): „Ihnen danke ich für alles Gute, das Sie mir gegeben. Es war viel und hat die letzten zehn Jahre meines Lebens ausgefüllt. Ihr Werk ist echt und groß, ich gehe aus dem Leben mit der Überzeugung, daß ich einer von denen war, die den Eroberungsgang einer der größten Menschheitsideen miterlebt haben.“

In seinem Testament verfügte Tausk, daß seine wissenschaftlichen Manuskripte verbrannt werden sollten. Anders als Max Brod, der diesen letzten Willen seines Freundes Franz Kafka mißachtete, hielten sich Freunde und Verwandte an die Anweisung des Toten. Einen ganzen Tag soll es gedauert haben, bis das letzte Blatt des Nachlasses im Kamin verkohlt war. Von Tausk erhielt sich nur, was zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Die Wirkung seiner Arbeiten blieb limitiert, vermutlich auch deshalb, weil sie sich jenseits der orthodoxen psychoanalytischen Methodik im Grenzbereich von Philosophie und Klinik bewegten, zwischen zwei Feldern, die in der Wiener Schule als gleichermaßen problematisch galten. In seinem Nachruf, der in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse anonym erschien, erklärte Freud, Tausk sei ein „Opfer“ des Krieges geworden, weil er sich von seinen traumatischen Fronterfahrungen nicht mehr erholt habe. Er pries seine schriftstellerische Begabung, sein Rednertalent und seine gediegenen Kenntnisse der Philosophie – im Blick auf die eigenen Vorbehalte gegenüber diesem Feld ein zweideutiges Lob. Er hob sogar seine Beiträge zur Schizophrenie hervor, verschwieg allerdings, daß er selbst Tausk wissenschaftlich mißtraut und ihm die Anerkennung verweigert hatte. An Lou Andreas-Salomé schrieb er am 1. August 1919, in brutaler Offenheit die Technik des Selbstmords kommentierend, Tausk habe seinem Dasein „auf gründliche Weise ein Ende gemacht“. Und er fügte hinzu: „Er hat doch sein Lebtag mit dem Vatergespenst gekämpft. Ich gestehe, daß er mir nicht eigentlich fehlt; ich hielt ihn seit Langem für unbrauchbar, ja für eine Zukunftsdrohung. Ich hatte Gelegenheit, einige Blicke in den Unterbau zu tun, auf dem seine stolzen Sublimierungen ruhten, und ich hätte ihn längst fallen gelassen, wenn Sie ihn nicht in meinem Urteil so gehoben hätten.“ Ernst Pfeiffer hat diese mitleidslosen Sätze 1966, als er den Briefwechsel zwischen Freud und Lou Andreas-Salomé edierte, nach einem Vorschlag Anna Freuds gestrichen. Wie sie dem Fischer-Verlag gegenüber erläuterte, geschah die Auslassung angeblich aus Rücksicht auf die damals noch lebenden Söhne Tausks. Wenn hier Diskretion im Spiel war, dann galt sie aber vermutlich Freud selbst, der in diesem Fall mangelnde Empathie und Egoismus offenbarte. Nicht das Bild Tausks, sondern das ihres Vaters suchte Anna durch den editorischen Eingriff rein zu halten.

Lou Andreas-Salomé beantwortete die Nachricht von Tausks Suizid auf den ersten Blick weniger kalt, aber durchaus ambivalent: „Ich hatte ihn lieb. Glaubte, ihn zu kennen; und hätte doch nie an Selbstmord gedacht (mir erscheint gelungener Freitod – also nicht Versuche und nicht Drohungen – gewissermaßen eher als ein Gesundheitsausweis als das Entgegengesetzte).“ Hinter dem Bekenntnis der Sympathie stand auch hier ein Ton von sezierender Schärfe, den Lou so gut wie Freud beherrschte. Wenn sie wollten, dann konnten beide großzügige Hilfsbereitschaft gegenüber Jüngeren an den Tag legen. Wo aber die eigenen Positionen, die innere Arbeitsruhe, das Bollwerk einmal gefaßter Überzeugungen oder die persönliche Seelenruhe durch überzogene Erwartungen anderer gefährdet wurden, reagierten sie mit der ganzen Härte des Egoismus. In diesem Punkt waren Lou und Freud einander wahlverwandt, vereint in einem Selbstbezug, der Schwächere wie Tausk schockierte. Paul Federn, Mitglied des Wiener Kreises seit den Anfängen, schrieb noch am Tag des Suizids erschüttert an seine Frau, Tausk hätte nicht zum Märtyrer werden müssen, wenn Freud seine unerbittliche „methodische Härte“ gemildert und ihm „Menschlichkeit gegeben“ hätte. So beleuchtete die traurige Geschichte zwei verschiedene Nuancen des Unheimlichen: die Egozentrik der großen Geister und den Ursprung der Selbstzerstörung aus unerfüllter Liebe. Am Ende bestätigte der ,gründliche‘ Suizid des Viktor Tausk aber auch Freuds Aufsatz, der das Unheimliche als das Verdrängte, als die dunkle Seelenheimat des Menschen bestimmte.

 

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag übernimmt um die Fußnoten gekürzt und mit einem von der Redaktion hinzugefügten Untertitel das Kapitel „Aus den Zonen des Unheimlichen“ als „Vorabdruck“ aus: Peter-André Alt: Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne. Eine Biographie. © Verlag C.H.Beck. Das Buch erscheint am 19. September 2016.