Attacke gegen das Überlieferte

Reto Sorgs Studie über Carl Einsteins "Bebuquin"

Von Hubert RolandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hubert Roland

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den zwei letzten Jahrzehnten hat die Expressionismus-Forschung ein Unrecht wiedergutgemacht, das ihre Anfänge charakterisierte. In der Tat gilt die Prosa nicht mehr als marginale Gattung des Expressionismus, wird sie nicht mehr, laut dem Ausdruck von Erich von Kahler als "zu gestreckt, zu gelassen für expressionistische Eruptionen" betrachtet. Denn im Zuge der Veränderung konventioneller Schreibweisen, die für die Epoche typisch war, lassen sich unbestritten wichtige Tendenzen der expressionistischen Literatur auch in der Prosa identifizieren. Bezeichnet man ihn als "epochemachenden Roman" wie Walter Sokel oder als "Schwellentext zur literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts" wie der Verfasser der zu untersuchenden Studie Reto Sorg, so wird Carl Einsteins "Bebuquin" (1912) heutzutage mit Recht als Werk von Bedeutung anerkannt.

Wie in der Einleitung der Studie zusammengefaßt wird, ist seit Sibylle Penkerts bahnbrechender Monographie von 1969 "Einstein zwar immer noch nicht populär, jedoch zum anerkannten Forschungsgegenstand der Kunst- und Literaturwissenschaft arriviert". Trotz der verwickelten und irritierenden Editionsgeschichte, die 1996 zu einem vorläufigen Abschluß gekommen ist, ist im Laufe der Jahre eine ausgedehnte, aufschlußreiche Sekundärliteratur zu Person und Werk Einsteins entstanden. Was die spezialisierte "Bebuquin"-Forschung betrifft, wirkt die Studie von Sorg als eine Art Zwischenbilanz, die auf der Grundlage von tiefgründiger Kenntnis der Primär- und Sekundärliteratur gezogen wird. Zudem verbessert Sorg in philologischer Hinsicht die schon bestehenden Textausgaben und führt im Anhang unveröffentlichte Materialien an: drei Briefe Einsteins an Karl Friedrich Henckell, sowie eine Karte an Blaise Cendrars, die einen weiteren Beleg in der Debatte um die richtige Aussprache des Titels darstellt, da Einstein selber auf französisch seinen Roman "mon livre Bebouquin" (also nicht "Bebuquin") nennt.

Sorgs Hauptthese lautet, daß Einstein mit "Bebuquin" keineswegs die Tradition weit von sich gewiesen hat, "um auf einer tabula rasa etwa gänzlich Neues und Unabhängiges zu kreieren, wie das später für das Selbstverständnis der historischen Avantgarde behauptet wurde". Im Gegenteil: Einsteins Ästhetik bleibe zu dieser Zeit den kunstphilosophischen Programmen der Jahrhundertwende verhaftet. Dies impliziert auch, daß Einstein sich mit den deutschen Romantikern, über deren Einfluß auf die französischen Symbolisten oder über die neoromantische Strömung im deutschen Sprachraum beschäftigen mußte. So gewinne der Roman "seine Originalität und Unkonventionalität gerade aus der Attacke gegen das Überlieferte".

Nach einer "Topologie der Forschung", die eine ausführliche Übersicht über die bestehende Sekundärliteratur zum Thema bietet, schwankt der Verfasser im zweiten Kapitel "Methode und Kontext" zwischen den konventionellen theoretisch-methodologischen Ausführungen, der weiteren Kommentierung der "Bebuquin"-Forschung und der tatsächlichen Behandlung seiner eigenen Thesen. Besonders instruktiv sind seine Betrachtungen über den Höhepunkt der Problemwerdung von Sprache und Wirklichkeitswahrnehmung und die Krise des Selbstverständnisses des Dichters. Ausgehend von einer Analyse des "Vorspiels für ein Puppentheater" (1900) Hofmannsthals, erläutert er solche Begriffe wie "Sprach- oder Bewußtseinskrise" bzw. "Krise des Verstehens" und macht deutlich, wie der pessimistische Illusionismus, der auch den "Brief an Lord Chandos" prägt, für die Genese von "Bebuquin" von Bedeutung gewesen sein muß. Ebenso wichtig war auch der Einfluß der französischen Symbolisten, deren neues Formverständnis als Synthese von "dem Autonomieanspruch der Kunst, dem Wunsch nach subjektiv-persönlichen Ausdrucksvermögen und dem Postulat der Distanz zu einer als banal und bedrohlich zugleich empfundenen Alltagswelt" erscheint. Schließlich ist der Vergleich zwischen der Figur Bebuquins und Leopold Andrians Held Erwin in "Der Garten der Erkenntnisse" (1895) relevant, auch mit Bezug auf den von Joyce reaktivierten Begriff der Epiphanie. Bebuquin und Erwin, beide auf der Suche nach dem "Wunder", scheitern auf ihren Weg der Selbstvergewisserung. Letztendlich wird "Bebuquin" als "negative Epiphanie" analysiert und - nach dem Ausdruck von Hugo Friedrich - als "Roman der entromanisierten Romantik".

Im dritten, umfangreichsten Kapitel seines Buches beschäftigt sich Sorg mit einer zweifachen, aufmerksamen Lektüre der vier ersten Romankapitel. Diese "Beschränkung der Lektüre auf einen signifikanten Teil des Ganzen" rechtfertigt er mit dem Argument, "daß die fünfzehn Kapitel des 'Hauptteils' die im 'Anfang' angelegten Themen und Motive ausführen, differenzieren und mit Drastik anreichern". So wird die Aufmerksamkeit auf die temporale Struktur, die Komposition, die Narration und die intertextuelle Vernetzung gelenkt. Die erste Lektüre soll "die narrative Grundstruktur" aufdecken und "ein erstes begrenztes Textverständnis sicherstellen"; die am Text klebende zweite Lektüre beruft sich auf die "akribische" Lektüre von Roland Barthes, die "dem modernen Text, dem Grenztext", gebührt".

Schon bei der ersten Lektüre ist feststellbar, daß eine Wort-für-Wort-Analyse im Falle von Einstein und von "Bebuquin" sich als durchaus gerechtfertigt und aufschlußreich erweist. Anhand von wichtigen Motiven und Themen, die dem Text zugrunde liegen, belegt Reto Sorg Einflüsse der deutschen Tradition bei Einstein. So sei "Bebuquin" mit Nietzsches Parabel "Der tolle Mensch" zu vergleichen, da die zentralen Elemente dieses Textes bei Einstein "metonymisch verkleinert" erscheinen: "das Forum wird zum Jahrmarkt, die Suche nach Gott zur Suche nach dem Wunder, das wegweisende Licht zum Lampion". Ferner seien die leitmotivischen Zerrspiegel im Roman mit der Spiegelmetaphorik bei den Romantikern zu konstrastieren.

Im vierten Kapitel "Romantik, Moderne und Avantgarde" wird die Frage der Perspektive des Erzählens erläutert. Sorg ist der Auffassung, daß "die Erzähler- und Figurenperspektiven 'im Textprozeß einem dauernden Wandel' unterliegen. Reto Sorgs größter Verdienst liegt darin, daß er hauptsächlich dem Texte selber nahe geblieben ist. Ein weiterer Verdienst der Studie besteht darin, daß der Verfasser in seiner Analyse kritische und kunsttheoretische Schriften von Einstein berücksichtigt, die auf relevante Weise den "Bebuquin" erläutern. Ob er dabei die "Negerplastik" (1915) quasi außer acht lassen mußte, um Einstein nicht als "literarischen Kubisten" zu bezeichnen, bleibt jedoch eine offene Frage. Sorg zitiert wohl Einstein selber, dem zufolge "die Sache, die man 'Kubismus' nennt, weit über das Malen hinausgeht", argumentiert aber, daß "der Kubismus sich in erster Stelle mit Problemen der Raumdarstellung auseinandergesetzt hat, während Einstein als Literat sich primär mit Fragen der Darstellbarkeit von Zeit beschäftigte, auch wenn das Simultane zu einer Verräumlichung von Zeit tendiert".

Es ist schließlich zu bedauern, daß der schon erwähnte Brief von Einstein an Blaise Cendrars, die französische Übersetzung von "Bebuquin" betreffend, kommentarlos abgedruckt wird, obwohl er sich auf die problematische Rezeption des Romans im französischsprachigen Raum bezieht, die Klaus H. Kiefer in seinem Aufsatz "Die französischen Übersetzungen von Carl Einsteins 'Bebuquin'" (1988) ausführlich diskutiert hat. Ansonsten ist diese anregende Studie seriös und sehr gut dokumentiert. Da Einstein, laut dem Ausdruck von Kiefer "ein komparatistischer Fall par excellence" ist, fehlt noch eine gründliche Studie zur "Bebuquin"-Rezeption im europäischen Raum.

Titelbild

Reto Sorg: Aus den "Gärten der Zeichen". Zu Carl Einsteins Bebuquin.
Wilhelm Fink Verlag, München 1998.
312 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3770533003

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