Das ungekürzte Unglücksbuch

Brigitte Reimann schreibt über Sehnsucht, Stadt und Schmerz

Von Saskia SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte der Franziska Linkerhand beginnt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Franziska noch ein kleines Mädchen ist. Ihre Lebensgeschichte erzählt sie ihrem Geliebten Ben. Sie schildert ihm, wie sie erwachsen wird, Architektur studiert und nach dem Scheitern ihrer Ehe nach Neustadt flüchtet. Diese ist eine von vielen Arbeiterstädten in der DDR, die sich in Planung und Bau befinden, in deren fertig Gestellten Bauabschnitten aber schon Menschen eingezogen sind. Noch hat die junge Architektin Franziska Linkerhand Träume: "Man müßte Häuser bauen können, so unmittelbar, daß die Wände vom planenden Gedanken bewegt und aufgerichtet werden".

Doch Neustadt, die Stadt des Neuanfangs für viele, stellt sich als Fehlplanung heraus: Die Landschaft ist umgeben von Seen, die als "ertrunkene Gruben" bezeichnet werden, da gibt es die "rußigen Siedlungen der Brikettfabriken" und überall stehen "schwarzgesprenkelte Sternblumen im grauschwarzen Gras". Doch nicht nur die Umgebung scheint zerstört, auch in der Stadt nehmen Gewalt und Tod überhand: Ein Mädchen wird von drei Männern vergewaltigt, die Nachbarn bekommen es mit, aber keiner will Zeuge gewesen sein. Es treten gehäuft Fälle von Suizidversuchen und Suiziden auf, der Notarzt berichtet Franziska, in den Neubaugebieten ein bis zwei mal die Woche. Auch sie selbst empfindet die Langeweile als ein geruchloses Gas, das durch das Haus schleicht. Tatsächlich ist Gas auch eines der meist verwendeten Mittel, dem Leben in Neustadt ein Ende zu setzen. Und Franziska Linkerhand erkennt, "daß ein Architekt nicht nur Häuser baut, sondern Beziehungen, die Kontakte ihrer Bewohner, eine gesellschaftliche Ordnung."

Nicht nur die Architekten, so scheint es, haben versagt, sondern auch andere Planer von gesellschaftlicher Ordnung. Die Geschichten der Menschen, denen Franziska Linkerhand im Laufe ihres Lebens begegnet, zeichnen eine Gesellschaft in der DDR von der Nachkriegszeit bis Anfang der siebziger Jahre. Da sind ehemalige Zuchthäusler, die auf den Baustellen arbeiten und die ihre Vergangenheit verwischen wollen, einer von ihnen ein ehemaliger Dozent für Publizistik, der soviel Einblick bekam, bis er es nicht mehr ertragen konnte zu schweigen. Auch sind da die Sekretärin Gertrud und andere durch männliche Gewalt zu Schaden gekommene Frauen. Und Franziskas Vorgesetzter Schafheutlin, der von ihr als "Rädchen" beschrieben wird, "funktionierend, weil verzahnt mit anderen Rädchen, bescheiden, und zuverlässig, keinesfalls befugt ins Getriebe zu greifen". Beim Besuch im Neustädter Zoo zitiert er voller Enthusiasmus Rilkes "Panther". Franziska wundert sich, dann schaut sie hin: "Allerdings, hinterm Drahtnetz, nicht Gitter, strich kein Panther umher; nur ein müder alter Puma lag in der Sonne, sandbraun im Sand, und streckte alle viere von sich. Ach nein, Schafheutlin hatte kein Glück mit seinen Gefühlsausbrüchen..."

Durch diese Art der Schilderung des Scheiterns von Neustadt und des Scheiterns der Menschen in der neuen Gesellschaft von Neustadt, übt das Buch scharf Kritik. Das zu seiner Zeit politisch heikle Romanfragment wurde 1974 postum veröffentlicht, allerdings gekürzt und entschärft. Die ungekürzte Neuausgabe von 1998 enthält dagegen die DDR-spezifischen Tabubrüche und die Systemkritik der Autorin.

Die Stimmung des Romans ist zwar meist melancholisch, aber es steckt eine kämpferische Kraft in den Worten Brigitte Reimanns. Ihrer Figur Franziska ist der Tod allgegenwärtig, und gerade deshalb will sie leben. Und lieben: Franziska Linkerhand ist eine sehnsüchtige Frau, aber auch eine Frau ihrer Zeit. Sie fürchtet die Töpfe spülende, neun Monate einen Fremdkörper in sich tragende Weiblichkeit, kann sich aber auch nicht von ihrem Frausein lösen, wie sich in ihrem "Männerberuf" zeigt. Ihre schon schmerzhafte Sehnsucht durchdringt bereits die ersten Worte des Romans: "Ach Ben, Ben, wo bist du vor einem Jahr gewesen, wo vor drei Jahren? Welche Straßen bist du gegangen, in welchen Flüssen hast du gebadet, mit welchen Frauen geschlafen?"

Titelbild

Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1998.
640 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3351028520

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