Trockener Professorenhumor

J. R. R. Tolkiens nachgereichtes Märchen "Roverandom"

Von Thomas KasturaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kastura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines Tages kommt ein Zauberer vorbei und nimmt einen mit auf ein großes Abenteuer: ein Kindheitstraum und zugleich Ausgangspunkt vieler sagenhafter Reisen. Es steht am Anfang der beiden erfolgreichsten Bücher von J. R. R. Tolkien (1892-1973), dem "Hobbit" und dem "Herrn der Ringe". Darin verlockte der Oxford-Professor Millionen Leser dazu, ihm nach "Mittelerde" zu folgen: an einen Ort, den er nicht als imaginäre Gegenwelt verstand, sondern als Rekonstruktion einer quasihistorischen Antike, als Landschaft der Erinnerung.

Dieses Phantasiereich entsprang Tolkiens Wunsch, eine Mythologie für England zu erschaffen. Daraus entstand ein umfangreicher, akribisch ausgestalteter Kosmos. Zu keltisch inspirierten Mythen trat eine Vielzahl eigener Erfindungen hinzu, die schließlich den Rahmen abgaben für ein volkstümliches Kinderbuch. "Der Hobbit" (1937) war dann so erfolgreich, daß sich Tolkien sogleich an eine Fortsetzung machte. Sie wuchs sich zu einem aufwendigen Epos aus, dem "Herrn der Ringe" (1954/55), der seit den sechziger Jahren zum Kultbuch avancierte. Dabei ist es bis in die Gegenwart geblieben. Derzeit ermitteln viele Zeitungen und Verlage Bestenlisten der Weltliteratur. "Der Herr der Ringe" steht immer dann ganz oben, wenn die breite Leserschaft ihre Stimmen abgeben darf.

Das Publikum hatte Tolkien aber noch gar nicht im Sinn, als er in den zwanziger Jahren Märchen für seine Kinder erfand. Damals hatte der junge Gelehrte, dessen Spezialgebiet der Dialekt der westlichen Midlands, einer Gegend in Mittelengland, war, zwar schon damit begonnen, seinen "Mittelerde"-Kosmos mit Gedichten und fiktiven Legenden zu möblieren. Das war aber eher ein abgehobener Spleen. Dagegen schlüpfte er vor seinen Kindern in die Rolle des unterhaltsamen Erzählers.

Im Zuge der Tolkien-Begeisterung kamen einige dieser privaten Geschichten zu postumen Ehren (etwa "Herr Glück" oder "Briefe vom Weihnachtsmann"). Das Märchen "Roverandom" wurde von den Erben aber erst 1998 freigegeben. Es handelt von dem kleinen Hund Rover, der zur Strafe für seine schlechten Manieren von dem Zauberer Artaxerxes in einen winzigen Spielzeughund verwandelt wird. Damit beginnt für ihn eine Reihe von Abenteuern, in deren Verlauf er versucht, seine ursprüngliche Gestalt zurückzuerlangen. Der Sandzauberer Psamathos schickt ihn auf dem Rücken einer Möwe zum Mann im Mond, wo er dem Mond-Hund Rover begegnet. Zusammen mit ihm erkundet Roverandom, wie der Held der Erzählung jetzt heißt, eine phantastische Fabelwelt mit Riesenspinnen, Schattenfledermäusen und einem Großen Weißen Drachen. Als Roverandom erfährt, daß Artaxerxes eine Stelle als Meereszauberer angetreten hat, bringt ihn ein Wal zum Schloß des Meerkönigs am Grund des Ozeans. Auch hier geht es drunter und drüber, unter anderem versetzt eine riesenhafte Seeschlange das Meer in Aufruhr. Roverandom gelangt schließlich wieder an Land und wird von Artaxerxes zurückverwandelt.

Tolkien erzählte dieses Märchen zum ersten Mal im Jahre 1925, als er mit seiner Familie an der Küste von Yorkshire Urlaub machte. Adressat war sein vierjähriger Sohn Michael, der einen Miniaturhund aus Blei besaß und ihn am Strand verlor. Diese Begebenheit ist in "Roverandom" eingewoben, was Michael über den Verlust seines Spielzeugs hinwegtrösten sollte. Mit Erfolg: Die Kinder waren von der Geschichte so begeistert, daß Tolkien sie zwei Jahre später zu Papier brachte. Dazu fertigte er fünf Illustrationen an, die der vorliegenden Ausgabe beigegeben sind.

So drollig sich "Roverandom" in der Inhaltsangabe auch liest - solch ein Buch würde heutzutage normalerweise nicht mehr publiziert werden. Dafür ist es zu hölzern erzählt und zu wenig ausgearbeitet. Es enthält Leseranreden, die Tolkien auch im späteren "Hobbit" onkelhaft vorkamen. Die Szenen wirken manchmal improvisiert und verknappt, dann wieder weitschweifig und zusammenhanglos. Tolkiens trockener Professorenhumor sorgt zwar für einige nette Pointen, ist aber nicht jedermanns Sache. Grundsätzlich spricht der nostalgische Charme des Buches eher Erwachsene an. Für Kinder bedarf es meist der Erklärung.

Dies leisten das Nachwort und sechzehn Seiten Anmerkungen. Darin sind Wortspiele, Lautmalereien und Alliterationen erklärt, die in der deutschen Übersetzung natürlich an Reiz verlieren. Interessant wird "Roverandom" erst im Kontext. Neben Bezügen zu anderen Tolkien-Werken und zu seiner Biographie sind vor allem die zahlreichen Entlehnungen, Anspielungen und Analogien aufschlußreich. Sie machen deutlich, wie unbedarft Tolkien aus bestehenden Mythen, Märchen, Sagen und Kinderbüchern schöpfte - und wie umfassend sein Wissen darum war.

Doch "Roverandom" blieb im kompilatorischen Entwurf stecken. Dagegen bekam der "Hobbit", den Tolkien 1930 oder 1931 anfing, ein ganz eigenständiges Gepräge. Es ist ein stilistisch durchgeformtes Buch mit einem geschmeidigen Erzählfluß, ingeniösen Einfällen und einer großartigen Geschichte - eines der besten Kinderbücher, die je geschrieben wurden. Das zeichnete sich schon 1937 ab, als der "Hobbit" herauskam und der Verleger Nachschub verlangte. Tolkien zeigte ihm "Roverandom" sowie zwei andere "Märchen in wechselnden Stilen", wie Stanley Unwin urteilte. Die kurzen Texte gefielen zwar, waren aber im Vergleich zum "Hobbit" nur Lückenbüßer. Außerdem hatte Tolkien schon mit dem ersten Kapitel des "Herrn der Ringe" begonnen. "Roverandom" wurde nicht veröffentlicht und geriet in Vergessenheit.

Daß die Geschichte aber bis zu Tolkiens 25. Todestag liegengeblieb, ist verwunderlich. Bislang wurde aus dem Nachlaß so ziemlich alles hervorgezerrt, worauf der Name "Tolkien" steht. Darunter befindet sich vieles, was ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen war - und was wenig von dem verschlungenen Weg verrät, den Tolkien bis zu seinem Opus Magnum zurücklegte. Auf diesem Weg ist "Roverandom" aber eine wichtige Etappe.

Darin klingen zwei wesentliche Faktoren an, auf denen Tolkiens Werk beruht: Da ist zum einen sein Hang zur Erfindung von Sprachen, der sich in den (Sprach-)Spielen des Märchens niederschlägt und mit einer schöpferischen Auffassung von (Sprach-)Wissenschaft verbunden war. Tolkien dachte sich insgesamt 15 fiktive Sprachen von Elben, Zwergen, Menschen, Hobbits usw. aus. Indem er ihnen eine eigene "Geschichte" gab, erweckte er sie zum Leben. Die Mythologie diente im Grunde nur dazu, den archaischen Akt der Sprachschöpfung zu grundieren. Sprache konstituiert Welt, könnte man sagen.

Nachdem Mittelerde einmal ins Rollen gekommen war, ging Tolkien im "Herrn der Ringe" noch einen Schritt weiter: Er versah seine mythologischen Stoffe mit Motiven der Moderne und schuf - eher unfreiwillig - einen Anti-Faust. Darin ist eine Fortschrittskritik enthalten, die schon in "Roverandom" zu spüren ist, etwa in Form von lärmendem Autoverkehr und Umweltverschmutzung. Im "Herrn der Ringe" schlägt die Idealisierung des vorindustriellen England dann in Untergangsstimmung um.

Genau das macht die Anziehungskraft der Tolkien-Bücher aus: daß es bald vorbei sein könnte mit dem ungehemmten Herumfabulieren, der Bastelei an Bausätzen einer besseren (oder schlechteren) Welt, der abenteuerlichen Fahrt ins Unbekannte, welches gleichermaßen lockt und droht. Diese Bedürfnisse werden immer nur Kindern zugestanden und mit dem Vorwurf des Eskapismus belegt. Tolkien zufolge entsprechen sie aber nicht der Flucht eines Deserteurs, sondern dem Entkommen eines Gefangenen - eine Funktion von Literatur, die über das Abbilden von Wirklichkeit hinausgeht und im eigentlich Sinn "modern" ist. Der Zauberer wird noch viele Leser auf einen "Silberpfad" führen, "der für jene, die ihn beschreiten können, der Weg ist zu den Orten am Rand der Welt und noch weiter."

J. R. R. Tolkien: Roverandom.

Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Christina Scull und Wayne G. Hammond. Mit fünf Illustrationen von J. R. R. Tolkien.

Titelbild

J. R. R. Tolkien: Roverandom. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Christina Scull und Wayne G. Hammond. Aus dem Englischen von Hans J. Schütz.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
143 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3608934545

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