Zwischen Forschung und Dichtung

Das Marbacher Magazin "Ortlose Botschaft" über den Freundeskreis H.G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner

Von Roland KroemerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roland Kroemer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind die leisen Geschichten, fern aller kanonisierten historischen Daten und anonymen Statistiken, die die Ereignisse dieses Jahrhunderts lebendig machen. Das Marbacher Magazin "Ortlose Botschaft" - erschienen zur Ausstellung im Schiller-Nationalmuseum im Herbst 1998 - erzählt eine von ihnen. In den miteinander verwobenen Lebensläufen von H. G. Adler (1910-1988), Elias Canetti (1905-1994) und Franz Baermann Steiner (1909-1952) spiegelt sich der Kampf des Geistes um Selbstbehauptung im Schatten von Krieg und Holocaust wider. Der Bamberger Germanist Marcel Atze, der sich durch die 180 Kisten umfassenden Nachlässe von Adler und Steiner gearbeitet hat, rekonstruiert anhand von zahlreichen Manuskripten, Erstausgaben mit Widmungen, Briefen und Fotografien die trotz etlicher Unterbrechungen lebenslange Freundschaft zwischen den drei Schriftstellern.

Im Gegensatz zum Nobelpreisträger Canetti, der vor allem durch den Roman "Die Blendung" längst in den Dichter-Olymp aufgenommen ist, sind Adler und Steiner einem größeren Publikum weitgehend unbekannt. Aufgewachsen als deutschsprechende Juden im tschechischen Prag, teilen sie das Schicksal Franz Kafkas und suchen schon in ihrer Jugend Zuflucht in der Literatur. Obwohl ihre Bemühungen um Publikation lange Zeit erfolglos bleiben, lassen die wenigen erhaltenen Gedichte aus den frühen Jahren bereits die Sprachgewalt ihrer späteren Werke erahnen.

Als Canetti 1937 während einer Lesung in Prag Adlers Bekanntschaft macht, bald darauf auch Steiner in Wien kennenlernt, sind die Vorbeben des Zweiten Weltkriegs bereits spürbar. Der Beginn ihrer Freundschaft steht unter keinem guten Stern. Hitlers Vernichtungsfeldzug treibt Steiner 1938 nach Oxford, Canetti flieht mit seiner Frau Veza ein Jahr später von Wien über Paris nach London. Durch regelmäßige Korrespondenz und gelegentliche Treffen versuchen sich die zwei Freunde gegenseitig über die Widrigkeiten und Entbehrungen im fremden Land hinwegzuhelfen. Für beide wird neben der Literatur die wissenschaftliche Arbeit, insbesondere die Ethnologie und Soziologie, immer wichtiger. "In einer glücklicheren Epoche", so vermutet Marcel Atze, "wären sie womöglich alle 'nur' Dichter geworden." Konfrontiert mit den Greueltaten der Nazis aber, nimmt Canetti die Materialsammlung für seinen Großessay "Masse und Macht" auf, Steiner beginnt seine umfangreiche Dissertation über Wesen und Geschichte der Sklaverei.

Die Hölle, die beide aus der Distanz des englischen Exils verfolgen, erlebt Adler am eigenen Leib. (Canetti über Adler: "Er hat durchlebt, was ich nur durchdachte.") Die rechtzeitige Flucht ist ihm nicht gelungen, und nachdem er in den Monaten nach der deutschen Besetzung Prags zur Zwangsarbeit herangezogen wird, beugt er sich allmählich dem Schicksal. 1941 heiratet er seine Freundin, die Ärztin Gertrud Klepetar, "um gemeinsam auf Transport zu kommen". Sie werden ein Jahr später in das Ghetto Theresienstadt deportiert, später aber voneinander getrennt. Eine erhaltene Bleistiftskizze, gezeichnet von Otto Ungar, zeigt Gertrud noch einmal 1943 - nur wenige Monate vor ihrem letzten Weg nach Auschwitz. H. G. Adler hingegen (er gebrauchte stets nur die Initialen wegen der Namensgleichheit mit dem SS-Mann Hans Günther) überlebt alle Konzentrationslager, in die er verschleppt wird. Bereits in der Gefangenschaft legt er literarisches Zeugnis ab von den begangenen Verbrechen. Es entstehen Gedichte, aber auch Notizen und Beschreibungen, die später zur Grundlage seiner Studien werden. Adler ist Zeuge und Protokollant der Vernichtung.

Nach der Befreiung und der baldigen Emigration zu seinen Freunden nach England macht er sich mit wahrer Besessenheit an die Arbeit. Ein abgerissener Judenstern auf dem Schreibtisch wird ihm zur ständigen Mahnung, das Erlebte für die Nachwelt zu bewahren. Auch Adlers Werk ist geprägt von der Trennung zwischen Forschung und Dichtung. Neben Lyrik, Erzählungen und Romanen ("Panorama", "Die unsichtbare Wand") entstehen umfangreiche Studien über Deportation und Lagersystem ("Theresienstadt 1941-1945", "Der verwaltete Mensch"), die ihn zu einem der profiliertesten Kenner des Holocaust machen.

Titelbild

Ulrich Ott (Hg.): Marbacher Magazin. Ortlose Botschaft.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 1998.
196 Seiten, 9,20 EUR.
ISBN-10: 3929146754

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