Sind Lappen Europäer?

Die Wahrnehmung der Peripherie in europäischen Reiseberichten der Frühen Neuzeit

Von Volker SciorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Scior

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Vielfalt von Begriffsdefinitionen und kaum Konsens: Auch so ließe sich die Forschungsflut zu Themen wie 'Das Eigene und das Fremde' oder 'Die Wahrnehmung des Anderen' kennzeichnen, aber immerhin - mindestens zwei Grundvoraussetzungen sind unbestritten: die Relationalität der Begriffe 'eigen' und 'fremd' sowie das Fungieren des Eigenen als Folie für die Wahrnehmung des Fremden. Beide Feststellungen gehören nicht mehr zu den neuesten Erkenntnissen, und spätestens seit den Studien von Michael Harbsmeier und Peter J. Brenner werden auch in der mentalitätsgeschichtlich orientierten Forschung Reiseberichte weniger als Quellen für die beschriebenen Fremdkulturen angesehen, sondern vielmehr als eine "Form der unfreiwilligen kulturellen Selbstdarstellung der Ausgangskultur". Genau in diesen Kontext ordnet sich auch die Dissertation Ekkehard Witthoffs über "Grenzen der Kultur. Differenzwahrnehmung in Randbereichen und europäische Identität in der Frühen Neuzeit" ein. Anhand vornehmlich deutscher, französischer und englischer Berichte aus dem 16. und 17. Jahrhundert über Reisen an die europäische Peripherie - Irland, Lappland und Russland - zieht der Verfasser Rückschlüsse auf eine gemeinsame europäische Identität. Witthoff möchte mit seiner Studie "zur Klärung vieler noch verborgener kultureller Selbstverständlichkeiten" im Europa der Frühen Neuzeit beitragen.

Aufgrund der breiten Quellenbasis gelingt es Witthoff, ein dichtes Bild von Aussagen über die jeweilige(n) Fremde(n) zusammenzustellen, Aussagen, die er in unterschiedliche Wahrnehmungsbereiche über Religion, Bildung, Sitten, Recht oder die (Un-)Menschlichkeit der Anderen einordnet. Immer wieder hebt er hervor, dass sich die Beurteilungen der am Rande Europas lebenden Völkerschaften in den Texten stark ähneln, unabhängig vom Herkunftsland der Autoren. So erscheinen Iren, Lappen und Russen grundsätzlich als Wilde, Heiden und Barbaren, die ein recht- und gottloses Leben führen. Behaupten die Texte ein kulturelles Gefälle zwischen Beschriebenen und Schreibenden, so wird auch die räumlich-periphere Existenz der Völkerschaften selbst von den Verfassern als Zeichen der Distanz zur eigenen Zivilisation gewertet, wie etwa an der Thematisierung von Erziehung und Bildung in den Reiseberichten deutlich wird.

So sehr Witthoff sein Vorhaben einlöst, im Anschluss an die bisherige mentalitätsgeschichtliche Forschung aus den Texten auf Wert-, Bildungs-, und Moralvorstellungen der Verfasser zu schließen, und so unmittelbar einleuchtend seine Ergebnisse in diesem Teil der Dissertation auch sind, es stellt sich doch die Frage, inwieweit sich "Ausgangskultur" und "Identität" der Verfasser als "europäisch" bezeichnen lassen. Diese Frage wird auch im kurzen Kapitel über die Kavalierstouren des Adels in die "europäischen Kulturzentren" nicht hinreichend beantwortet. Hier, in der Begrifflichkeit, liegen auch die Schwächen der Arbeit, bleibt doch großenteils unklar, welche Bedeutung die Texte dem Konzept "Europa" überhaupt zuweisen. Teilweise werden die Randgebiete in den Reiseberichten unter Europa subsumiert, teilweise davon ausgegrenzt. Zumindest einige Anmerkungen zur Verwendung des Europa-Begriffs in den Texten wären vonnöten gewesen, um diesen, für die Fragestellung der Arbeit zentralen Aspekt, zu klären. Abgesehen davon, dass keine Auseinandersetzung mit dem breiten Forschungsfeld zu "Identitäten" und mit dem Begriff der "Grenze" erfolgt und auch keine Unterscheidung von Darstellung und Wahrnehmung - alles Termini, die im Titel des Buches vorkommen -, fällt die häufige Verwendung von "Kultur" im Singular auf. Spätestens hier kann die Dissertation an den neuesten Forschungsstand kaum anschließen: Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass auf "eine europäische Identität" der Frühen Neuzeit nur geschlossen werden kann, wenn man Differenzen in der Wahrnehmung und Unterschiede in den Ausgangskulturen außer Acht lässt.

Trotz der methodischen und begrifflichen Schwächen lohnt sich insbesondere die Lektüre der Kapitel über die "Fragmente der Differenzwahrnehmung", die zugleich Stärken und Schwächen eines mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes belegen. Vielleicht wäre auch eine kleinere Textbasis sinnvoller gewesen, etwa um die Adressaten der Reiseberichte und die Rezeptionsgeschichte stärker in die Untersuchung einzubeziehen. Denn dass die Berichte, wie Witthoff meint, dazu gedacht waren, die Bewohner der Randbereiche zur "Erkenntnis ihrer eigenen Minderwertigkeit" zu veranlassen, ist mehr als unwahrscheinlich: Geschrieben wurden sie kaum für Iren, Lappen und Russen, sondern für die Daheimgebliebenen.

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Ekkehard Witthoff: Grenzen der Kultur. Differenzwahrnehmung in Randbereichen (Irland, Lappland, Russland) und europäische Identität in der frühen Neuzeit.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
370 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3631321260

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